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«SINGLE HANDICAP MUSS WARTEN»

Die Jüngste der Sportlerfamilie Gisin ist ihren beiden Geschwistern auf die Skipisten und auf den Golfplatz gefolgt. Das Ziel Single Handicap verschiebt die 25-jährige Michelle Gisin wohl auf die Zeit nach der Ski-Karriere.

Was fasziniert Sie am Golfen?

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Michelle Gisin: In erster Linie die mentale Seite, da habe ich wohl gleichzeitig den grössten Nutzen fürs Skifahren. Nach jedem Schlag muss man den Frust oder die Freude verarbeiten, bei uns ist quasi ein ganzes Rennen wie ein Schlag. Dort muss ich auch schlechte Phasen akzeptieren. Golf gibt mir hier ein gutes Gefühl für die Situation, und es hilft mir auch, mit Druck umzugehen.

Im Golf gibt es ja eigentlich keine perfekte Runde – gibt es den perfekten Lauf in einem Slalom oder in einer Abfahrt?

Ich würde sagen, das ist mir bisher zwei Mal gelungen. Am 21. Januar 2014 im EuropacupSlalom in Kirchberg konnte ich mit einem perfekten zweiten Lauf das Rennen acht Zehntelsekunden vor der damaligen Vizeweltmeisterin Michaela Kirchgasser und der Slalomlegende Marlies Schild gewinnen. In der Weltmeisterschaftsabfahrt von St. Moritz am 12. Februar 2017 gelang mir ebenfalls ein für meine damaligen Fähigkeiten perfekter Lauf, und ich wurde bei meiner erst fünften Abfahrt auf höchster Stufe an der Heim-WM 8. Angesichts meiner Millionen von Versuchen sind aber zwei perfekte Läufe immer noch eine verschwindend kleine Anzahl (lacht).

Welcher Spielertyp sind Sie auf dem Golfplatz?

Alles andere als konservativ. Ich würde sagen, zwischen aggressiv bis fast schon dumm (lacht). Ich haue einfach gern drauf. Meine Mom sagt immer: Drive is for the show und putting is for the money. Ich bin froh, verdiene ich mein Geld nicht mit dem Golfen.

Eigentlich wäre mein Bruder Marc ein super Vorbild. Der spielt unheimlich schön und auch noch mit viel Verstand. Ich spiele selten, versuche das Unmögliche und merke dann auch, dass es eigentlich nicht gehen kann. Mir ist der Spass auf dem Platz aber wichtiger als das Resultat. Und mein Bruder schüttelt dann immer wieder den Kopf über meine Entscheidungen (lacht).

Beim Skifahren gilt das offenbar nicht. Ihre acht Jahre ältere Schwester Dominique sagt, sie fällten praktisch nie dumme Entscheidungen.

Ich war in den Top 15 im Slalom, als ich als Bonus noch zu den Speedrennen kam. Für Dominique, mit all ihren Verletzungen, waren viele Rennen so etwas wie die letzte Chance, dann riskiert man alles. Ich hatte das Privileg, bereits im Slalom-Weltcup gefestigt zu sein. Deshalb war die oberste Priorität stets, keine unnötigen Risiken einzugehen.

Dominique wurde neunmal am Knie operiert. Sie haben das von klein auf mitbekommen. Schreckte Sie das nicht ab?

Es war sogar gut, weil es mir unheimlich viel Respekt gab vor dem Skisport. Andere setzen sich nicht damit auseinander. Ich aber war dazu gezwungen, weil ich viel zu oft sah, wie meine Schwester und mein Bruder in die Netze knallten. Das lässt einen demütig und dankbar werden. Dankbar für die Gesundheit, dankbar für jeden Tag, an dem man das machen darf, was man liebt.

Sie mussten die vergangene Saison noch vor den Weltmeisterschaften beenden. Hatten Sie dafür etwas mehr Zeit, um im Sommer zu golfen?

Leider nein. Zuerst musste ich meinen Knorpelschaden am Knie operieren, im Juli und August dominierte das Konditionstraining. Da war ich grösstenteils bei meinem Freund Luca De Aliprandini in Italien. Er hat erst mit Golfen begonnen und offiziell noch keine Platzreife. Im Frühling und Herbst komme ich am ehesten zum Golfen, öfters bei CharityTurnieren. Da wird ja meist ein Scramble gespielt, da kann man etwas ausprobieren.

Was wäre Ihr Wunschflight?

Mein Bruder Marc muss sicher mitspielen. Er ist von uns dreien sicher das grösste Golftalent, schwingt mit unglaublich viel Power und sehr schön. Dustin Johnson würde mit ihm für die ganz langen Abschläge sorgen und Bode Miller würde ebenfalls sehr gut zu uns passen. Der

Michelle Gisin

Die in Samedan geborene Engelbergerin wird im Dezember 26-jährig. Michelle Gisin galt lange als Talent, vor allem aber als die «kleine Schwester» von Olympiasiegerin Dominique Gisin, welche im Frühling 2015 ihre Rennkarriere beendet hat.

Zwei Jahre später gewann Michelle an der Weltmeisterschaft in St. Moritz die Silbermedaille in der Kombination, ihr bisher grösster Erfolg war am 22. Februar 2018 Olympiagold bei den Winterspielen in Pyeongchang. Die vergangene Saison musste sie wegen einer Knorpelverletzung frühzeitig beenden. «Nun bin ich 100 Prozent fit und freue mich auf den Winter», sagt Michelle Gisin auf eine entsprechende Frage. Viel Zeit für Hobbys bleibt ihr nicht. In der Freizeit ist sie oft mit Brett und Segel beim Windsurfen oder mit einem guten Buch in der Hand anzutreffen.

Amerikaner ist äusserst unterhaltsam. Er hat die Ski- und Golf-Weltmeisterschaft, glaube ich, zwei Mal gewonnen, sicher ist er ein sehr guter und vor allem lustiger Golfpartner.

Haben Sie ein golferisches Ziel?

Ja, ein Single Handicap ist mein klares Ziel. Ich war schon relativ nahe dran, aktuell fehlt auf dem Papier auch nur ein Schlag. Ich habe aber mittlerweile eingesehen, dass ich, um wirklich weiterzukommen, speziell mein kurzes Spiel trainieren müsste. Dazu hatte ich bisher keine Zeit und wenig Lust. Aber so habe ich etwas vor, das ich nach meinem Karriereende in Angriff nehmen kann. Ich würde sagen, das Single Handicap muss warten.

Wie sind Sie überhaupt zum Golf gekommen?

Als wir vom Engadin nach Engelberg gezogen sind, hat Dominique angefangen, danach hat sie die ganze Familie samt den Eltern angesteckt mit dem Golfvirus. Als Sechsjährige bin ich mit den älteren Geschwistern mitgelaufen. Da war für mich schnell klar, dass ich selber spielen wollte. Weil mir der Sport gefiel, machte ich auch relativ schnell Fortschritte.

War Golf für Sie eine Berufsoption? Eigentlich nie. Als Kind wollte ich noch Miss Schweiz werden (lacht). Später wollte ich die Matura machen und studieren, aber ich hatte nie einen klaren Plan. Aber am Ende wollte ich dann doch immer ums Verrecken dabei sein, wenn die beiden Älteren Skirennen fuhren. Auch wenn es oft bedeutete, um sechs Uhr früh aufzustehen und dann einfach im Ziel herumzustehen.

Auch ich habe mich in den Sport verliebt. Aber wir hatten immer die Wahl, das war sehr wichtig. Wir entschieden uns bewusst und aktiv für etwas. Marc hat als 14-Jähriger davon geträumt, allenfalls Golf-Profi zu werden. Am Ende hat dann bei allen die Liebe zum Schnee entschieden…

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