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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Arme und Reiche Eigentlich ist es ganz einfach: Was Arme von Reichen unterscheidet, ist der Mangel an Geld. Man bräuchte den Armen also nur Geld zu geben und schon wäre das Problem gelöst. Tatsächlich gibt es Entwicklungshilfe-Projekte wie Give Directly, die genau dies versuchen: Sie wählen Menschen nach speziellen Kriterien aus und geben ihnen Geld. Damit können sie machen, was sie wollen. Noch ist es zu früh, um zu sagen, ob das System funktioniert. Es sieht aber so aus, als würden die Armen durchaus nicht stante pede den unerwartet hereingeschneiten Geldsegen auf den Kopf hauen, sondern es in nützliche Dinge investieren, die mitunter sogar ein Einkommen generieren. Das widerspricht der Überzeugung, dass die Armen an ihrer Armut grundsätzlich selber schuld sind. Auch wenn es, zumindest bei uns, SURPRISE 335/14

nicht offen gesagt wird, ist es doch das, was viele denken. In Indien liegt es daran, dass sie in einem früheren Leben etwas falsch gemacht haben, bei uns eher, dass sie in diesem Leben etwas falsch machen, wahrscheinlich faul oder dumm sind. Geld kann dieses Problem nicht lösen, darum wurden vielfältige Formen des Almosenwesens eingeführt. Almosen sind dazu da, die Armut zu lindern, nicht aber sie zu beseitigen. Besser, das Geld fliesst direkt an den Vermieter oder die Krankenkasse, also an Leute und Institutionen, die alles andere als arm sind. Wenn die Armen an ihrer Armut selber schuld sind, so ist es das Verdienst der Reichen, dass sie reich sind. Sie sind klug und fleissig. Leistung wird belohnt, und wer zu wenig Lohn hat, leistet zu wenig. Dass der Grossteil der vermögenden Menschen in der Schweiz und weltweit durch Erben reich geworden ist und – abgesehen von Ausnahmen, die über die Stränge schlagen – im Verlauf ihres Lebens noch reicher werden, egal ob sie viel leisten oder nicht, widerspricht dieser Ansicht, die dadurch aber nicht geschwächt wird. Der Aufstieg aus armen Verhältnissen in die Sphäre der Reichen ist in den letzten Jahrzehnten wieder schwieriger geworden, blutjungen Internet-Milliardären zum Trotz. Schon wird die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der das einfacher möglich war, als historische Ausnahmesituation betrachtet. Dem damals

geschaffenen Mittelstand droht der Abstieg in die Armut. Und trotzdem scheint gerade dort der Widerwille, Armen Geld zu geben, am grössten. Die Vorstellung, dass schon bei der Geburt klar ist, wer arm und wer reich ist und das nichts mit der Person zu tun hat, ist schwer zu ertragen. Verarmen bedeutet nicht nur den Verlust von Geld, sondern den der positiven Eigenschaften, die Reiche von Armen trennen. Bei der letzten Finanzkrise wäre es beinahe einer Menge Menschen so ergangen. Sie wären über Nacht dumm und faul geworden und selber schuld gewesen. Wer zu viel Profit sucht, ist dumm, wer sein Geld ohne Arbeit vermehren will, faul und wer investiert, weiss um das Risiko und ist darum selber schuld, hätte man argumentieren können. Doch die Politik sah es anders, der Staat schritt ein und verhinderte grosses Unheil. Es ist offenbar wichtiger, Reiche vor der Armut zu bewahren, als Arme. Doch offiziell ist es natürlich, frei nach Otto Waalkes, egal, ob ein Mensch arm oder reich ist – Hauptsache er hat Geld.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT (SAVVE@VTXMAIL.CH)

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