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Und zum ersten Mal in dieser Nacht erzähle ich der Runde über die «Wir sollen unsere bürgerlichen Freiheiten gegen Kaufkraft eintauSchweiz, von den Rayonverboten für Alkoholiker, Drogenabhängige und schen. Wer sich vom wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei nicht kaufen Asylbewerber, von den nächtlichen Ausgehverboten für Jugendliche, von lässt, ist für die Regierung zum Hindernis geworden, das beseitigt werden fehlenden unabhängigen Untersuchungsgremien in Fällen übertrieden muss», sagt Eroglu. «Wir müssen feststellen, dass sich Demokratie bener Polizeigewalt, vom Kampf um die letzten Freiräume im durchkomund rücksichtloser Kapitalismus ausschliessen, nicht aber Kapitalismus merzialisierten Stadtraum und den zahlreichen Clubschliessungen wegen und religiöser Fundamentalismus», sagt Nisa, die erzählt, dass immer stärker auch normale Bürgerinnen und Bürger ins Visier geraten: «Vor einigen Monaten hat Von zwei, drei Ausnahmen abgesehen sind in den zentralen Vierteln die Polizei begonnen, jede und jeden anzuhalten und zu ermahnen, der im öffentlichen im europäischen Teil Istanbuls in den letzten zehn Jahren alle Clubs Raum Alkohol trinkt. Und jetzt diskutiert das verschwunden. Parlament ein Gesetz, das den Verkauf von Alkohol nach zehn Uhr abends verbieten will. Lärmklagen, die im Jahr zuvor in der Hauptstadt Bern 10 000 DemonGeplant ist auch eine Unterhaltungssteuer, um damit die letzten übrig stranten auf die Strasse trieben. Als ich fertig bin, ist das Knattern eines gebliebenen Clubs in den Ruin zu treiben. Die Politik Erdogans und Motorrads zu hören, das sich die steil zum Bosporus abfallende Strasse seiner Regierungspartei AKP ist ein direkter Angriff auf unseren Levor dem Keller Richtung Taksim hochkämpft, ansonsten ist es still. bensstil.» Bis Bahar wieder das Wort ergreift: «Wir Randständigen, wir Huren Gerade als Eroglu eine weitere Runde Yeni Rakı einschenkt, mir zuund Transvestiten, aber auch andere Minderheiten wie Schwule, Ausprostet – Altüst! – und einen demonstrativ grossen Schluck des Natioländer, Künstler, überhaupt die Freaks in einer Gesellschaft, sind wie nalgetränks mit dem unverkennbaren Anisgeschmack in sich hineinSeismografen, die als Erste spüren, wenn der Staat die Freiheit seiner kippt, poltert es an die Kellerluke. Es ist Bahar, die in den frühen MorBürgerinnen und Bürger angreift. Erst wenn auch der Mainstream begenstunden als Letzte zum Kreis von Nazims Freunden stösst und sich troffen ist von staatlichen Repressalien, entsteht eine Bewegung. auf einen freien Sessel wirft. Sie kommt von der Arbeit, sie schafft als Manchmal ist es dann für Gegenwehr schon zu spät. Ich glaube, für die Prostituierte an, unterhalb des Galata-Turms, am Giraffenweg, der Türkei ist es noch nicht zu spät. Wir werden für unsere Freiheit kämpschon seit osmanischen Zeiten Istanbuls Sperrbezirk ist. Das Rotlichtfen und wir werden gewinnen.» viertel, mit einem Metalltor vom übrigen Quartier abgetrennt, wird von «Ein Funke genügt», sagt Nazim, «und das Pulverfass explodiert.» einem uniformierten Polizisten bewacht, der die Ausweise der täglich 5000 bis 7000 Freier prüft, ihnen Mobiltelefone, Schlüsselanhänger und Das nächste Mal bewaffnet Feuerzeuge abnimmt und sie durch einen Metalldetektor schickt, bevor April 2014: Ich bin wieder zurück an der Sadri Alisik Sokak, in der sie ein Bordell in der Gasse aufsuchen dürfen. Absteige meiner türkischen Freunde. Nur etwas mehr als ein Jahr ist seit meinem letzten Besuch in Istanbul vergangen. Trotzdem ist es ein Be«Und in der Schweiz?» such in einer anderen Stadt. In den 1990er-Jahren, erzählt Bahar, waren es weit über 50, heute Ein paar Wochen nach meinem ersten Besuch im Februar 2013 exsind es noch elf: «Seit einem Jahr wird ein Bordell nach dem anderen geplodierte das Pulverfass. Die Polizei ging mit brutaler Härte gegen Umschlossen, aus fadenscheinigen Gründen, meist wegen angeblicher Verweltschützer vor, die gegen den Bau eines Shoppingcenters im Gezistösse gegen gesetzliche Auflagen. Damit werden wir in die illegale Park protestierten, einer Grünfläche, die an den Taksim angrenzt. Der Strassenprostitution gezwungen.» Einige Wochen zuvor sind Bahar und Funke sprang über. Homosexuelle solidarisierten sich mit den Umweltihre Arbeitskolleginnen deshalb demonstrierend durchs Quartier gezoschützern, weil sie den Park als Cruising-Area nutzen, also als Treffgen. Transvestiten und Transsexuelle, die seit jeher unter der Doppelpunkt für Sexkontakte, dann schlossen sich Studenten den Protesten an, moral der türkischen Gesellschaft leiden, unter systematischer sexueller Gewerkschafter, Frauen, Aleviten. «Im Gezi-Park und auf dem TaksimGewalt und gar bis hin zu gezielten Mordanschlägen, schlossen sich Platz waren alle, die von der Regierung unterdrückt werden oder schon dem Demonstrationszug spontan an, wie Bahar erzählt, bevor sie einmal von ihr beleidigt worden sind», sagt Serkan und haut mit der schliesslich wissen will: «Wie wird in der Schweiz mit Prostituierten Faust so heftig auf’s Beistelltischchen, das die Rakı-Gläser hochsprinumgegangen?» gen: «Taksim ist überall!», ruft er. «Wir standen den Sicherheitskräften «Auch in Zürich schliessen die Behörden Bordelle», sage ich. «Ich mit ihren Tränengas-Gewehren mit Blumen in den Händen gegenüber. wohne im Rotlichtviertel der Stadt, und das soll aufgewertet werden. Da Es gab Tote und viele Verletzte in unseren Reihen. Das nächste Mal werstören Prostituierte.» den wir auch bewaffnet sein.» «Sie werden vertrieben, wie hier bei uns?», fragt Nazim. Das Alkoholverkaufsverbot ist in Kraft gesetzt, die UnterhaltungsIch versuche das Konzept der Verrichtungsboxen am Stadtrand Züsteuer eingeführt. Ein paar Wochen vor meiner Rückkehr sorgte der richs zu erklären, das die Strassenprostitution zumindest in geordnete Blog-Eintrag eines Istanbuler Philosophiestudenten für Aufsehen, der eiBahnen lenken und auch für vertriebene Prostituierte aus dem Kreis 4 nen Abschiedsbrief ins Netz stellte: «Auf Wiedersehen, liebes Internet. eine Zufluchtsstätte sein soll. Wir Türken hatten eine grossartige Zeit mit dir.» Twitter und Youtube «Aber die Leute in deiner Stadt setzen sich für die vertriebenen Husind derzeit von der Regierung gesperrt, ein neues Internetgesetz erren ein? Ihr könnt ja die Politik direkt mitbestimmen, oder?», fragt Erolaubt den Behörden, Internetseiten ohne richterlichen Beschluss vom glu. «Ehrlich gesagt interessiert sich kaum jemand für das Schicksal der Netz zu nehmen, weil sich der politische Widerstand in den sozialen Prostituierten», antworte ich. «Das Leitmotiv der Politik ist: Erlaubt ist, Medien organisierte, weshalb diese wiederum den Mächtigen ein Dorn was nicht stört.» im Auge waren. «Das könnte auch ein Wahlspruch von Erdogan sein», sagt Nazim la«Erdogan hat uns den Boden unter den Füssen weggezogen», sagt chend. «Aber ihn stört nicht nur Prostitution, sondern leider inzwischen Eroglu. Wir sitzen im Dunkeln, der Stromanschluss ist gekappt. Das verauch, wenn ich auf der Strasse ein Efes Pilsen trinke.» Ich lächle etwas lassene Gebäude steht vor dem Abriss, die Bagger stehen schon bereit. gequält und erkläre, dass in der Schweiz auch über ein AlkoholverEntsprechend geknickt ist die Stimmung in Nazims Freundeskreis, von kaufsverbot zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens diskutiert Hoffnung ist nichts mehr zu spüren. wird, was in gewissen Regionen bereits schon Gesetz sei.

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