Surprise Strassenmagazin 261/11

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miebehörde war die diplomatische Offensive ein Befreiungsschlag – eine Tour de Force, die den Nahostkonflikt wieder auf die Agenda gebracht hat. Nur diesem Druck ist es zu verdanken, dass das NahostQuartett – die USA, die EU, die UNO und Russland – umgehend einen neuen Fahrplan für einen Frieden hervorzauberte. Nun ist Phase zwei des palästinensischen Planes eingetreten: das Ringen um Verhandlungen mit Israel. Die Rede, die Premierminister Benjamin Netanyahu am selben Abend vor der Generalversammlung hielt, war nicht die Antwort aus Jerusalem auf den palästinensischen UNO-Antrag. Die wahre Antwort kam einige Tage später, als die Regierung grünes Licht gab für den Bau von 1100 Wohnungen in Ostjerusalem. Ein Schlag für all jene, die gerade nicht an eine notwendigerweise gewalttätige Auseinandersetzung mit Israel glauben. Die Diplomatie verfolgt bestimmte Interessen gezielt. Wer zu einem derart entscheidenden Zeitpunkt die Gegenseite blossstellt, entlarvt sich selbst. Dass Israel wirklich Frieden will, scheint unglaubwürdig angesichts der Weigerung, den Siedlungsbau zumindest einzufrieren. Mit seiner Politik spielt der jüdische Staat all jenen in die Hände, die ihn von der Landkarte tilgen wollen. Doch auch die Palästinenser entziehen den Kooperationswilligen auf der anderen Seite der Grenzmauer den Boden unter den Füssen. Denn diese gibt es durchaus, auch ausserhalb der pazifistischen Kreise. «Wenn ich Netanyahu wäre, würde ich einen Palästinenserstaat anerkennen. Danach könnten wir über Grenzen und Sicherheitsfragen verhandeln», sagt der Ex-General und Ex-Minister Benjamin Ben-Eliezer. Dass Netanyahu dies nicht tat, liegt auch an den Palästinensern. Sie schaffen es noch immer nicht, die Existenz Israels zumindest als Realität anzuerkennen. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Wortlaut der Erklärung vor der UNO, in der die Palästinenser Ostjerusalem als ihre Hauptstadt beanspruchen. Westjerusalem als israelische Hauptstadt sucht man darin vergeblich. Diese Art von Zeichen hätte das Ansehen und die Verhandlungsposition Ramallahs gestärkt. Doch für solche Zugeständnisse scheint Abbas’ politische Position zu schwach.

sieht antiisraelische Rhetorik als Schlüssel zur Popularität», sagt sie. «Erdogan hat nicht verstanden, dass kein nicht-arabisches Land die Region anführen kann.» Und doch zeigt das selbstbewusste Auftreten des einstigen «kranken Mannes am Bosporus»: Der Friede mit Ankara wird Jerusalem in Zukunft mehr kosten – vor allem Zugeständnisse, die sich im Buhlen um die Gunst der arabischen Strasse in bare Münze umwandeln lassen. Erst die alte Garde, dann die Grenzzäune Diplomatie ist wie Schach: berechenbar, solange man die Züge des Gegners richtig vorwegnimmt. Liegt man daneben, verliert man die Kontrolle. Die Hektik, die Abbas’ Gang vor die UNO in Jerusalem und Washington ausgelöst hat, zeigt: Die dominanten Kräfte im Nahostkonflikt sind auf dem besten Weg, ihren Einfluss auf dem Brett zu verspielen. Die westlichen Mächte sehen sich einer erstarkten Türkei gegenüber, die für ihre Politik gegenüber Iran, aber auch Syrien immer wichtiger wird. Dass niemand den aggressiv auftretenden und offensichtlich Grenzen auslotenden Erdogan zurückpfiff, spricht Bände. In Washington sitzt ein Präsident, der sich einst als Brückenbauer feiern liess und den Friedensnobelpreis auf Vorschuss verliehen bekam. Nun, mehr als zwei Jahre und eine Revolution später, steht er vor der fast unlösbaren Aufgabe, die US-Interessen im neuen Nahen Osten zu sichern, ohne dabei gegenüber Israel eine härtere Gangart anzuschlagen.

Palästinenser, die noch weniger zu verlieren haben als zuvor, sind unberechenbar. Und ein bedrängtes Israel ist ein gefährliches Israel.

Der neue Nahe Osten Die Israelis sind nervös wie nie. Ihre Welt hat sich in den letzten Monaten fundamental verändert. Mubarak, der Fixstern israelischer Regionalpolitik, ist verglüht – und mit ihm die Gewissheit um einen Frieden mit Ägypten, der nie ein Friede des Volkes war. Aussenpolitik wird in Kairo zur Innenpolitik. Der regierende Militärrat ist vom Retter der Revolution zum neuen Feindbild des Tahrir-Platzes mutiert. Er wird keine Möglichkeit auslassen, um sein angeschlagenes Image aufzubessern – oder zumindest nicht unnötig weiter zu verschlechtern. Dass die Sicherheitskräfte den hässlichen Mob nicht am Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo hinderten, war kein Zufall. Und auch für den Fall, dass die Ägypterinnen und Ägypter demnächst die ersten freien Wahlen begehen: Das macht es für Israel nicht gemütlicher. Wer gegenüber dem verhassten Nachbarn einen schärferen Ton anschlägt, hat bessere Chancen, gewählt zu werden. Die Zeiten des mit amerikanischen Dollars bezahlten Schweigens gegenüber Israel sind in Ägypten zu Ende. In dieser Atmosphäre täte der jüdische Staat gut daran, sich von einer versöhnlicheren Seite zu zeigen und damit die vernünftigen Kräfte im bevölkerungsreichsten und wichtigsten arabischen Land zu stärken. Mit der Türkei hat Israel den zweiten wichtigen muslimischen Verbündeten innert weniger als einem Jahr verloren. Die Istanbuler Publizistin Nuray Mert glaubt zwar nicht, dass die türkisch-israelische Suppe dereinst so heiss gegessen wird, wie sie Erdogan und Netanyahu gekocht haben: «Die Türkei sucht eine Führungsrolle in der Region und SURPRISE 261/11

Robert Fisk, der Grand Old Gentleman des Nahostjournalismus, sieht diese Chance gar bereits vertan: «Die USA können ihren Besitzstand in Nahost nicht wahren. Der ‹Friedensprozess›, die ‹Road Map›, die ‹OsloVerträge›: Der ganze Tanz ist vorbei.» Wer die Lücke füllen wird, ist nicht absehbar. Umso wichtiger sind die unmittelbaren Reaktionen. Und die bieten allen Grund zu Pessimismus. Palästinenser, die noch weniger zu verlieren haben als zuvor, sind unberechenbar. Ein schwacher Abbas ist ein guter Abbas für die Hamas. Und ein bedrängtes Israel ist ein gefährliches Israel. Exponenten der israelischen Rechten haben in einem Brief an Premier Netanyahu dargelegt, wie das Land aus ihrer Sicht auf den Antrag vor der UNO reagieren soll: Israel müsse nach dem «einseitigen Schritt der Palästinenser» die – bis anhin als illegal geltenden – Siedlungen annektieren. Ansonsten werde Israel «seine Abschreckungskraft verlieren und die Palästinenser zu weiteren Aktionen gegen Israel auf der internationalen Bühne ermutigen». Dass die Palästinenser einen solchen Schritt ohne weiteres über sich ergehen lassen würden, ist unwahrscheinlich. Eine erneute Eskalation mit den Palästinensern wäre jedoch verheerend. Die nächste Intifada ist immer wieder ein Thema. Und viele im Westjordanland sind überzeugt, dass sich der Aufstand diesmal zuerst gegen die eigene alte Garde in Ramallah wenden würde, bevor er sich an die Grenzzäune Israels aufmachen würde. Ein neuer Krieg in Nahost hätte weitreichende Folgen. Er würde dem vom eigenen Aufstieg berauschten Erdogan den Weg zurück zu einer versöhnlicheren Politik versperren. Er würde unmittelbar die Entwicklung in Ägypten beeinflussen, und dies nicht zugunsten der liberalen Kräfte. Die Kettenreaktion, die falsch vorhergesehene Züge des Gegners dann auslösen würden, hätte Konsequenzen weit über den Rand des Schachbretts hinaus. Weiterhin gilt: Der Nahostkonflikt ist die Mutter aller Probleme in der Region. Wer den Islamismus eindämmen, wer Ruhe in der islamischen Welt schaffen will, muss Frieden zwischen Israel und den Palästinensern schaffen. ■

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