Surprise Strassenmagazin 257/11

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Spielerporträt «Im Trainingslager vergesse ich sogar das Methadon» Marco Zanni (21), Rechtsaussen-Verteidiger wie sein berühmter Cousin Reto, war in die Drogen abgestürzt. Heute hofft er, mit der Surprise-Nationalmannschaft an der Strassenfussball-WM in Paris einen Titel zu holen. Seine Geschichte und seine Erwartungen heute für einmal an Stelle des Verkäuferporträts.

«Zwei Sekunden vor Abpfiff haute mich Günthi um. So endete mein erstes Strassensport-Turnier, die Schweizer Meisterschaft im HB Zürich im Juni 2010. Wir hatten es mit dem AC Gassechuchi Luzern bis in den Final geschafft. Damals schied ich verletzt aus, jetzt spiele ich gemeinsam mit Günthi in der Nationalmannschaft – nur eine lustige Anekdote aus dem Trainingslager hier in Giswil. Bei den Schweizer Meisterschaften nahm ich noch Drogen, alles was Pulver ist. Gefixt habe ich zum Glück nie, sonst gab es keine Grenze. In der Gassechuchi Luzern konnte ich den Stoff in Sicherheit konsumieren. Dort wurde ich dann angefragt, ob ich verwandt sei mit dem Profifussballer Reto Zanni und ob ich selber auch spiele. Er ist mein Cousin und meine Lieblingsposition ist ebenso rechts hinten in der Verteidigung. Ich hatte sogar Chancen auf eine ähnliche Fussballerkarriere, spielte als Junior in der U-15 des FC Luzern. Im Probetraining zur U-17Auswahl verletzte ich mich leider und kam dann in die Regionalauswahl Team Nidwalden. 2008 stellten wir die beste Abwehr und erhielten in der ganzen Saison nur sechs Gegentore! Nach der Regionalmeisterschaft ging es dann los mit Kiffen, Koksen und Heroin. Denn zur gleichen Zeit bin ich nach heftigen Streitereien bei meiner Familie ausgezogen. Ich wollte zeigen, dass ich mit 18 auf eigenen Beinen stehen kann. Im neuen Umfeld haben jedoch alle Drogen konsumiert und so ging es mit mir bergab. Ich dröhnte mich zu. Wohl auch, um zu vergessen, welche Scheisse ich gebaut hatte. Zwei Wochen nach der Strassensport-Schweizer-Meisterschaft war aber Schluss. Ich hatte keinen Job mehr, Schulden, Stress und war abgemagert bis auf die Knochen. Ich erinnere mich noch genau: Ein Donnerstag, ich sass vollgeladen im Bus und hatte Paranoia, alle starrten mich an. Daheim betrachtete ich mein Spiegelbild und mir wurde klar: Wenn ich jetzt nicht aufhöre, schaffe ich das nie und ende doch an der Nadel. Am Freitag rief ich die Suchtberatung an, am Sonntag warf ich meine Heroin-Pfeife in den Vierwaldstättersee, und am Montag startete ich das Methadon-Programm. Seither nehme ich nichts anderes mehr. Beim AC Gassechuchi spiele ich trotzdem weiter. Anfangs schämte ich mich etwas dafür, in so einer Mannschaft zu spielen. Jetzt stehe ich voll dahinter. Das ist mein Team, die Coaches haben mich wieder zum Fussball zurückgeholt! Beim ersten Surprise-Turnier merkte ich, dass mir das wichtiger ist und mehr gibt als die Drogen. Strassenfussball kannte ich davor gar nicht. Jetzt gefällt es mir eigentlich besser als Grossfeldfussball. Das Spiel geht ab. Du kannst in 14 Minuten mehr zeigen als in 90 und musst mit dem Kopf jede Sekunde dabei sein. Ausserdem ist es technisch anspruchsvoller und man wechselt ständig zwischen Defensive und Offensive. Am besten gefällt mir aber, dass das Team wichtiger ist als das Gewinnen. Klar gebe ich alles und nehme es ernst, aber man kann auch mal lachen.

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BILD: OLIVIER JOLIAT

AUFGEZEICHNET VON OLIVIER JOLIAT

Wie hier in Giswil. Das Training ist zwar hart, aber ich gewöhne mich daran und wir haben viel Spass zusammen, obwohl wir vom Alter wie von der Herkunft her komplett unterschiedlich sind. Hier im Lager vergesse ich teils gar meine Methadon-Ration. Die habe ich seit Therapieanfang schon recht reduziert, ganz ohne geht es aber noch nicht. Damit lasse ich mir Zeit, bis ich wirklich bereit bin. Für den Homeless World Cup sind wir als Team aber definitiv bereit! Vielleicht werden wir nicht Weltmeister, aber es gibt beim Homeless World Cup noch andere Titel zu holen – das ist mein Ziel mit der Nationalmannschaft. Was mir Fussball bedeutet, weiss auch mein Chef bei den Verkehrsbetrieben Zürich, wo ich seit Januar im Fahrzeugservice arbeite. Er hat mir für den Homeless World Cup frei gegeben. Ich muss nur gute Bilder und Resultate heimbringen. Die will auch mein Cousin Reto sehen. Meine Familie verfolgt die Spiele vielleicht sogar im Internet. Ich bin froh, hat mich meine Mutter wieder aufgenommen, obwohl ich sie belogen, betrogen und beklaut habe. Ich war ein miserabler Sohn. Aber wir haben wieder eine Vertrauensbasis. Ich wohne nun in Stans im selben Haus, in dem meine Mutter arbeitet, aber es ist meine Wohnung. Endlich stehe ich wirklich auf eigenen Beinen.» ■ Videos zu allen Spielen des Homeless World Cup 2011 vom 21. bis zum 28. August in Paris sind zu finden auf www.strassensport.ch SURPRISE 257/11


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