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Nur für eine Nacht

Kino Um ihr uneheliches Kind vor ihren Eltern zu verstecken, muss eine Iranerin für eine Nacht eine*n Babysitter*in finden. Keine leichte Aufgabe.

Die Zeit drängt. Fereshtehs Eltern haben kurzfristig ihren Besuch angekündigt, weil sie in Teheran einen Verwandten im Spital besuchen wollen. Der jungen Frau, die neben dem Studium versucht, sich mit einem Job in einer Druckerei über Wasser zu halten, bleiben nur wenige Stunden, um jemanden zu finden, der für eine Nacht auf ihr uneheliches Baby aufpasst. Doch damit ist es noch lange nicht getan: Damit die Eltern keinen Verdacht schöpfen, müssen auch alle Spielsachen, Windeln und Kinderkleider aus ihrer Wohnung verschwinden. Unter dem Vorwand, dass ein Kammerjäger komme, fragt sie Nachbarinnen, ob sie bei ihnen Babysachen zwischenlagern dürfe. Doch diese haben nicht Platz für alle Taschen und Koffer. Fereshtehs Freundin Atefeh hilft ihr dabei, die übrigen Sachen einzusammeln. Erstaunt fragt diese beim Anblick der vielen Windelpackungen, ob denn gerade Knappheit herrsche. «Als der Dollarkurs anstieg, hatte ich Angst, keine mehr zu kriegen. Ich habe auf Vorrat gekauft», antwortet Fereshteh, die neben ihrer persönlichen Notlage auch der anhaltenden Wirtschaftskrise im Iran mit Pragmatismus beizukommen versucht. Mit vereinten Kräften schleppen die beiden Frauen die letzten Spuren, welche die Existenz eines Babys verraten könnten, durch das Treppenhaus und deponieren das riesige Bündel auf dem Dach.

Danach machen sie sich auf den Weg zu einer befreundeten Anwältin, die sich dazu bereit erklärt hat, das Baby zu hüten. Doch in deren Wohnung ist niemand und übers Handy ist sie auch nicht erreichbar. Verunsichert fahren sie mit dem Taxi zu deren Kanzlei, wo ein Polizeisiegel an der Tür klebt und ihnen eine verängstigte Nachbarin erzählt, die Anwältin sei ohne weitere Erklärung verhaftet worden.

Szenen, in denen Systemkritik steckt

Spätestens in dieser Szene im jüngsten Film des iranischen Regisseurs Ali Asgari (geboren 1982 in Teheran) lässt sich das Schicksal der Studentin Mahsa Amini, die am 16. September 2022 in Polizeigewahrsam ums Leben kam, nicht mehr länger ausblenden. Die Bilder von mehrheitlich jungen Menschen, die seit Monaten landesweit gegen das autoritäre Regime protestieren, von Frauen, die öffentlich ihre Kopftücher ablegen, gehen um die Welt. Asgari fängt in seinem Filmschaffen mit sicherem Gespür für berührende Einzelschicksale die wachsende Unruhe und Unzufriedenheit ein, die seit Jahren tief in Teilen der Bevölkerung rumort und sich nun in der aktuellen Protestbewegung entlädt –mitunter schon hoffnungsvoll Revolution genannt. Und er weiss seine Systemkritik in spannende Geschichten zu verpacken. So zum Beispiel auch in seinem Film «Disappearance» aus dem Jahr 2017, in dem ein unverheiratetes Paar verzweifelt von Spital zu Spital fährt, um die «Ehre» der jungen Frau wiederherzustellen. In beiden Filmen kann sich die Regie auf die Ausdrucksstärke seiner Hauptdarstellerin Sadaf Asgari verlassen. Durch sie erhält der Druck, der von Gesellschaft und Regierung auf der Generation der Millennials im Iran lastet, ein Gesicht, dessen Intensität man sich kaum entziehen kann. Wenn ihre Augen rastlos die Umgebung mustern, um bei Gefahr sofort fliehen zu können, werden der Klammergriff starrer Traditionen, die allgegenwärtige Angst vor Polizeiwillkür und auch die wirtschaftliche Unsicherheit auf beklemmende Weise spürbar. Gefangen in einem totalitären politischen System, das Frauen Freiheit und Entfaltung verwehrt, leidet man mit, wenn sich vor Fereshteh Türen schliessen, und verspürt Erleichterung, wenn einer jener raren Momente eintritt, in denen positive Kräfte in das Geschehen eingreifen. Fereshteh muss mit ihrer besten Freundin Atefeh und dem Baby aus einem Krankenhaus fliehen, wo ihnen eine Krankenschwester zuvor zugesichert hat, sie könne das Kind während ihrer Nachtschicht hüten. Doch der Chefarzt kommt dahinter und verlangt von Fereshteh eine körperliche Gefälligkeit, damit er sie nicht an die Polizei verrät. Als sie nun in der Tiefgarage verzweifelt den Ausgang suchen, erkennt ein älterer Sanitäter die Not des Trios und verhilft ihnen in einem Krankenwagen zur Flucht. Es ist eine Szene voller Hoffnung, denn sie drückt aus, dass auch viele ältere Menschen, und auch Männer, nicht mit dem Regime einverstanden sind. Menschen, die vielleicht noch den Sturz des Shahs 1979 miterlebt haben und die blutigen Zeiten danach.

Auch im Film hat es Fereshteh irgendwann satt, sich und ihre kleine Tochter zu verstecken. «Until Tomorrow» gipfelt in einem kraftvollen stillen Moment, in dem sie den Mut findet, den Tatsachen ins Auge zu blicken.

Lebensbilder

Buch In «Vor aller Augen» gibt Martina Clavadetscher den stummen Frauen auf berühmten Gemälden ihre Stimme zurück.

Auf der Suche nach einem Bild für einen Theatertext entscheidet sich die 2021 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Autorin und Dramatikerin Martina Clavadetscher für «Auf dem Rücken liegende Frau» von Egon Schiele – und entdeckt dadurch die darauf dargestellte Waldburga Neuzil. Eine Frau, die wie viele andere porträtierte Frauen zwar «vor aller Augen» ausgestellt ist, deren Leben aber hinter der Historie der Künstler*innen zurücksteht, unsichtbar bleibt. Die Autorin forscht daraufhin nach weiteren dieser stummen Frauen und entschliesst sich, ihnen eine Stimme zu geben, sie «vom Fluch der reinen Körperlichkeit» zu befreien. Sie wählt dafür die Perspektive der Dargestellten und lässt die Frauen «zwischen überlieferten Fakten und gestalteter Fiktion» selber zu Wort kommen. Neunzehn Geschichten sind es schliesslich, in deren Zentrum jeweils «die Erweckung eines in Vergessenheit geratenen Lebens» steht.

Die Bandbreite dieser Lebensbilder ist gross. Sie reicht von der Sklavin über das Waisenkind, die Prostituierte oder das Dienstmädchen bis zur Adeligen oder erfolgreichen Künstlerin. Die Frauen sind alt und jung, stammen aus Tahiti, Florenz oder Harlem, sind Geliebte oder Mütter, die Geschichten geprägt von traditionellen Rollenmustern und mitunter von tragischen Schicksalen. Und immer wieder erzählen sie von Versuchen, sich aus dem gesellschaftlichen Korsett von Zwängen und Konventionen zu befreien.

Manche dieser Befreiungsversuche sind belegt oder lassen sich zumindest aus den Belegen herauslesen. Andere entstehen durch die Imagination der Autorin, die stellvertretend das Aufbegehren inszeniert, indem sie die in den Bildern gefangenen Biografien wiederbelebt. Es wird förmlich spürbar, wie aus den Gemälden Leidenschaft, Liebe und Freiheitsdrang hervorbrechen.

Die Bilder werden dadurch auf eine neue, andere, nicht nur dem Kanon der Kunstgeschichte verpflichtete Weise erlebbar. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Autorin in unterschiedlichen Stilen schreibt, erzählend, lyrisch, im Dialog, und so jeder der Frauen eine eigene Stimme gibt. So werden diese Frauen unverwechselbar, nicht nur weil die Gemälde einzigartig sind, sondern weil das Leben der Porträtierten es nicht weniger war. Und weil es diese Ikonen der Kunstgeschichte ohne sie nie gegeben hätte. Vielleicht geht dies in Zukunft beim Betrachten der Bilder weniger vergessen, auch dank dieses lesenswerten Buches.

CHRISTOPHER ZIMMER

Martina Clavadetscher: Vor aller Augen. Unionsverlag 2022

«Until Tomorrow», Regie: Ali Asgari, Iran, France, Qatar 2022, 86 Min, mit Sadaf Asgari, Ghazal Shojaei, Babak Karimi u. a. Läuft ab 26. Januar im Kino.

CHF 33.90