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Die unbezahlte Wertschöpfung

2020 betrug das Zeitvolumen der unbezahlten Arbeit in der Schweiz 9,8 Milliarden Stunden. 60 Prozent dieser Arbeit, die in keiner volkswirtschaftlichen Statistik zu finden ist, haben Frauen erbracht. Blickt man auf die letzten zwanzig Jahre zurück, zeigen sich zwei gegenläufige Entwicklungen. Die Männer haben ihren Aufwand bei der Haushaltsführung und der Familienarbeit kontinuierlich ausgebaut und dafür ihr berufliches Engagement etwas reduziert. Frauen hingegen leisten heute mehr Erwerbsarbeit, ohne dass sich ihr Einsatz im Haushalt verkleinert hätte. Sie haben nach wie vor mit einer Doppelbelastung zu kämpfen. Frauen wie Männer leisten am meisten unbezahlte Arbeit im Haushalt. Dann folgen mit deutlichem Abstand die Betreuungsarbeit für Kinder und für ältere Angehörige sowie die organisierte und informelle Freiwilligenarbeit.

Der monetäre Wert der unbezahlten Arbeit lässt sich schätzen. Dazu verwendet das Bundesamt für Statistik die Marktkostenmethode. Die Frage ist, was es kosten würde, wenn Personen für die verschiedenen Tätigkeiten wie die Hausarbeit, die Betreuung oder das freiwillige Engagement bezahlt werden müssten. Bei der Berechnung der Kosten werden nicht nur die Löhne berücksichtigt, sondern alle Aufwendungen, die ein Arbeitgeber leisten müsste, also auch Sozialbeiträge und sonstigen Aufwendungen, etwa für eine berufliche Weiterbildung. Eine Stunde Abwaschen, Geschirrversorgen und Tischdecken kostet nach dieser Berechnungsmethode 36 Franken, administrative Tätigkeiten 50 Franken. Die wertvollste unbezahlte Arbeit ist die Betreuung der Kinder, die für rund

56 Franken pro Stunde verbucht wird. Das ergibt dann einen Gesamtwert der unbezahlten Arbeit für das Jahr 2020 von 434 Milliarden Franken. Wäre die unbezahlte Arbeit Teil der erfassten Wertschöpfung in der Schweiz, würde sie rund 40 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen.

Wie sollte diese unbezahlte Arbeit abgegolten werden? Schliesslich würde die bezahlte Arbeit nicht zu leisten sein, würde nicht auch die unbezahlte Arbeit erbracht werden. Seit vielen Jahren wird darüber diskutiert, ob die unbezahlte Arbeit durch den Staat subventioniert oder zumindest durch steuerliche Anreize aufgewertet werden sollte. Die einen argumentieren, dass damit die finanzielle Benachteiligung der Frauen reduziert werden könnte. Andere warnen vor einer solchen «Herdprämie» und befürchten, dass damit erst recht die traditionelle Rollenverteilung in Familien zementiert würde. Bezeichnenderweise hat die SVP Genf unlängst eine kantonale Initiative lanciert; sie verlangt, dass Familien jedes Jahr 30 000 Franken erhalten, wenn mindestens ein Elternteil nicht erwerbstätig ist. Der Betrag soll den Kosten entsprechen, die beim Kanton für einen Platz in einer Kindertagesstätte anfallen. Die Alternative dazu liegt auf der Hand: die einvernehmliche und gleichmässige Verteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit in den Familien. Man darf auf das Abstimmungsresultat gespannt sein.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Monetäre Bewertung der unbezahlten Arbeit, 2020, in Millionen Franken pro Jahr

Grundeinkommen 2016 an der Urne ab gelehnt, droht die zweite Initiative nun bereits an der Unterschriftensammlung zu scheitern. Was meint das Grundeinkommen selbst dazu? Ein fiktives Gespräch.

Und was hat sich an dir seither verändert?

Nicht ich, die Welt hat sich verändert! Ich bin ein alter Hut, vergleichbare Ideen kursieren bereits seit dem 16. Jahrhundert. Spätestens aber seit der Corona­Krise und der Inflation bin ich wieder hochaktuell. Überall haben Stress und Ängste zugenommen, Entschleunigung würde helfen. Sprach nicht Oswald Sigg allen aus dem Herzen, als er sagte: «Wir brauchen eine Wirtschaft für die Menschen und nicht Menschen für die Wirtschaft»? Ich möchte es jeder Person in der Schweiz ermög­ lichen, auch ohne Erwerbsarbeit ein menschenwürdiges Dasein zu führen und nicht in Existenzangst zu leben.

Das klingt schon sehr idealistisch, um nicht zu sagen utopisch. Ja, das ist es auch. Aber mal ehrlich: So wie bisher geht es doch nicht weiter. Meine Idee ist, allen Menschen ein Leben in Würde und ohne Angst zu ermöglichen. Diese elenden Bittgänge zu den verschiedenen Ämtern der Sozialversicherungen und die damit verbundene Stigmatisierung sollen aufhören. Dazu braucht es einen grossen Umbau – Elli von Planta aus meinem Initiativkomitee nennt dies «den nächsten logischen Schritt» und bezieht sich dabei auf die Schweizer Geschichte: Wer hat denn entgegen dem europäischen Trend 1848 die Demokratie eingeführt? Von Planta glaubt fest an den Pragmatismus der Schweizer*innen, selbst wenn es wie beim Frauenstimmrecht oder der AHV­Einführung von der Idee bis zur Umsetzung manchmal recht lange dauert.

Entscheidend bleibt wohl die Frage: Wie sollst du finanziert werden? 2016 liess der Initiativtext offen, wie ich finanziert werden sollte – was nicht gut ankam. Heute sagen meine Unterstützer*innen offen: Ja, es würde teuer. Wenn ich 2500 Franken im Monat für einen Er­ wachsenen und 625 für Kinder betragen würde, rechnet das Initiativkomitee mit jährlichen Mehrkosten von 25 bis 40 Milliarden Franken. Dieses zusätzliche Geld sollte solidarisch aufgebracht werden: Nämlich von jenen, die derzeit vom heutigen Steuersystem profitieren – beispielsweise vom Finanzsektor und den multinationalen Tech­Firmen. Wir haben nachgerechnet: Im Finanzsektor könnten 40 bis 60 Milliarden Franken mögliche Steuereinnahmen abgerufen werden, bei den Tech­Firmen sind es geschätzte 10 bis 20 Milliarden Franken. Google, Apple, Facebook oder Amazon zahlen bisher keine angemessenen Steuern.

Wie wollt ihr bloss die Wirtschaft und den Finanzsektor davon überzeugen? Ich halte es hierbei wieder mit Elli von Planta: Warum dort anfangen, wo der Widerstand am grössten sein wird? Zunächst möchten wir all diejenigen mobilisieren, die interessiert, aufgeschlossen bis wohlgesonnen sind, damit sich eine Art breite Bewegung formiert. Auch solche, die nur die Debatte weiterdenken wollen, sollten unterschreiben. Eine Unterschrift bedeutet schliesslich noch keine Zustimmung, sondern bloss Interesse an einer Diskussion des Themas. Sobald sich dann ein gewisser politischer Wille rund um mich formiert, kann ich auch mit Skeptiker*innen und Gegner*innen in den Ring steigen.

Immerhin: Unternehmer wie Elon Musk oder Mark Zuckerberg äusserten sich schon positiv über dich. Die beiden gehören nicht gerade zu den klassischen Fürsprechern des Sozialstaats. Wie würdest du verhindern, dass soziale Errungenschaften eher ab- als ausgebaut würden?

Tatsächlich habe ich Freund*innen in allen politischen Lagern. Ich will auch nicht die Sozialversicherungen abschaffen. Nur wer kein Einkommen hat oder zu wenig verdient, um die Lebenshaltungskosten decken zu können, kann sich mich auszahlen lassen. Also Hausfrauen und ­männer, Ausgesteuerte, Arbeitslose, Menschen am Rande der Gesellschaft, Kinder, Jugendliche, Lernende, Studierende oder Kulturschaffende – immerhin ein Viertel der Bevölkerung. Auch Menschen mit tiefen und mittleren Einkommen würden mit mir finanziell besser dastehen als heute. Und endlich würde mit mir auch die bisher un­ bezahlte Betreuungs­ und Freiwilligenarbeit gewürdigt – mit 40 Prozent der geleisteten Arbeit (2020) euer grösster Wirtschaftszweig. Gleichzeitig prognostiziere ich euch abnehmende Gesundheitskosten und weniger Bürokratie.

Gesetzt den Fall, du würdest eingeführt: Warum sollten die Menschen weiterhin unangenehme oder gesundheitsgefährdende Jobs machen – auf dem Bau, in der Fabrik, in der Reinigung, auch in der Gastronomie?

Eine gute Frage. Möglicherweise ist dies der Moment, wo ihr darüber nachdenken müsst, wie ihr systemrelevante Arbeit angemessen würdigt. Denn dass es nicht reicht, für das Spitalpersonal zu klatschen, das haben wir gesehen. Bisher ist aber kaum etwas geschehen, es fehlt weiter an Entlastung, an fairen, wertschätzenden und sinnstiftenden Arbeitsmodellen. Das sind Diskussionen, die wir führen müssen – wir kommen nicht daran vorbei.

Die meisten Menschen würden mit dir sicher weniger arbeiten.

Die meisten Studien sprechen eine andere Sprache. Praktisch alle Experimente mit Grundeinkommensmodellen weltweit zeigen: Die Menschen arbeiten nicht weniger. Nur junge Leute zwischen 20 und 30 reduzieren ihre Arbeitszeit und investieren mich in eine Ausbildung. Selbst die Weltbank kommt zum Schluss, dass ich zu keinen signifikanten Fehlanreizen bei der Arbeit führe.

Wären mit dir in der Schweiz weniger Menschen arm?

In Alaska konnte ich die Armut um einen Fünftel reduzieren, gleichzeitig stieg interessanterweise die Geburtenrate. In Kanada beobachtete man signifikant weniger Hospitalisierungen und Arztbesuche. In Spanien lassen sich positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und Lebenszufriedenheit nachweisen. In Namibia und Indien führten Experimente mit mir ebenfalls zu besserer Gesundheit und mehr Schulbesuchen, auch die armutsbedingte Kriminalität ging zurück. Und Studien aus einem Projekt in Kenia zeigen: Ich konnte die Armut bekämpfen, und die Wirtschaft insgesamt profitierte von mir. Denn wer mehr Geld hatte, gab mehr Geld aus. Somit beweist die Wissenschaft meinen Nutzen bei der Verringerung der Armut.