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Mit Umbrüchen leben

Im Herbst 2021 war ich in Belgrad. Die Stadt erinnerte mich an die aserbaidschanische Hauptstadt Baku, wo ich studiert habe, vor allem wegen der architektonischen Mischung aus (wenigen) Überbleibseln islamischer Architektur, sozialistischen Grossgebäuden und bürgerlicheuropäischen Jahrhundertwendebauten. Ich habe mich an beiden Orten sehr wohl gefühlt, ich mag es, die historischen Schichten und politischen Umbrüche direkt vor Augen zu haben. Und es gefällt mir, dass in Belgrad (anders als in Aserbaidschan) nicht alles auf Hochglanz getrimmt wird, dass die Spuren der Vergangenheit noch sichtbar sind. Auch wenn einiges davon an brutale Einschnitte erinnert – die Auseinandersetzung damit ist wichtig.

Der in Knin im ehemaligen Jugoslawien geborene Fotograf Igor Čoko betrachtet Serbiens Hauptstadt nicht mit dem Blick auf Bauepochen, aber auch er macht die Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar:

Indem der studierte Anthropologe seine Linse auf die Menschen richtet, die er in und auf Belgrads Strassen trifft. Mit seinen Bildern, denen wir in dieser Ausgabe ab Seite 14 mit einem Fotoessay Raum geben, dokumentiert er die menschlichen Folgen der grossen Umbrüche der letzten Jahrzehnte.

Übrigens beschreibt der Titel des serbischen Strassenmagazins Liceulice dieselbe Idee: «Gesichter der Strasse» heisst die wunderbar gestaltete Zeitschrift übersetzt. Auch Strassenmagazine machen die Folgen von Umbrüchen sichtbar: individuellen und gesellschaftlichen. Damit wir Ihnen aufwendigere Recherchen und mehr journalistische Tiefe bieten können, hat Surprise letzten Herbst einen Recherchefonds lanciert. Die zweite Ausschreibung läuft bereits. Mehr dazu auf Seite 5.

SARA WINTER SAYILIR Redaktorin

Auf g elesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Wohnungslos mit Schizophrenie

In Denver, USA, leben immer mehr Menschen dauerhaft in Wohnmobilen und -wagen. Devine Carter und Cornelius Jenkin leben seit über 18 Monaten in einem knapp sieben Meter langen Wohnwagen. Als ihr Sohn mit Schizophrenie diagnostiziert wurde, waren sie bei ihm eingezogen, um ihm zu helfen. Alle drei wurden obdachlos, als ihr Sohn aufgrund einer psychischen Krise seine Wohnung verlor.

Kaputtgespart

Der britische Staatshaushalt leidet unter der Austeritätspolitik der Tories: Fast ein Fünftel der Bibliotheken in England, Schottland und Wales wurden von 2010 bis 2020 geschlossen, die öffentlichen Ausgaben in diesem Bereich sanken von einer Milliarde Pfund auf unter 750 Millionen. Die staatlichen Investitionen in Jugendarbeit fielen um 74 Prozent. 4500 Sozialarbeitsstellen im Bereich Jugend wurden gestrichen und 750 Jugendzentren geschlossen. Ausserdem wurden zwischen 2010 und 2019 die Ausgaben für Bildung um 8 Prozent reduziert. Auch die Ärmsten müssen zurückstecken: Heute gibt es 39 Prozent weniger Notunterkünfte für Obdachlose und 26 Prozent weniger Betten als noch 2010.

Nicht gespart

165 Millionen Euro Ausgleichssteuer zahlten österreichische Unternehmen 2021: Diese wurde fällig, weil Unternehmen mit 25 oder mehr Beschäftigten verpflichtet sind, je 25 Mitarbeitende einen Menschen mit Behinderung einzustellen. Wer den Vorgaben des Behinderteneinstellungsgesetzes nicht nachkommt, zahlt pro versäumtem Anstellungsverhältnis eine Ausgleichstaxe, die sich zu obengenannter Summe addierte.

Ausgezeichnet

Als eine der Top 3 «Journalistinnen und Journalisten des Jahres» prämierte die Branchen-Zeitschrift Medium Magazin die Kölner Journalistin Christina Bacher in der Kategorie «Chefredaktion regional». «Strassenmagazine wie der Draussenseiter aus Köln wurden von der Pandemie besonders hart getroffen. Chefredakteurin Christina Bacher ist es jedoch auf bemerkenswerte Weise gelungen, das monatlich erscheinende Heft mit grossem Engagement durch das schwierige Jahr zu führen und zu stabilisieren», heisst es in der Begründung der Jury. Eine schöne Anerkennung für Deutschlands ältestes Strassenmagazin, das in diesem Jahr seinen 30. Geburtstag feiert.

Recherchefonds

Neue Ausschreibung

Unabhängig, kritisch und mit unverkennbarer Stimme –so berichtet Surprise seit Jahrzehnten über Armut, Ausgrenzung, Obdachlosigkeit und Migration. Die Themen sind von hoher gesellschaftlicher Relevanz in Zeiten sozialer Umbrüche, Krisen und Kriege, sie werden zunehmend komplexer, vieles liegt im Dunkeln, manches wird vertuscht oder totgeschwiegen.

Mit dem von uns im letzten Herbst lancierten Recherchefonds möchten wir die grossen Geschichten zu diesen relevanten Themen fördern –vorzugsweise mit Bezug zur Schweiz, in jedem Fall aber nahe an und mit den Betroffenen.

Bisher konnten wir zwei Projekte finanziell unterstützen: eine Recherche zur Geburtshilfe bei Asylsuchenden von Naomi Gregoris sowie eine Serie über Digitalisierung und Armut von Florian Wüstholz (Text) und Timo Lenzen (Illustration). Erste Texte erscheinen ab diesem Frühjahr.

Neue Anträge können bis zum 15. Februar 2023 eingereicht werden. Weitere Informationen zum Surprise Recherchefonds finden sich unter surprise.ngo/ recherchefonds.