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Erhebungen

Zählen – aber wie?

Erhebungen Wer Obdachlosigkeit bis 2030 abschaffen will, wie es das Europaparlament vorsieht, muss wissen, um wie viele Betroffene es geht. Wie man diese zählt, ist jedoch umstritten. Ein Blick auf verschiedene Ansätze in Deutschland.

TEXT SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATION MARTINA PAUKOVA

Fast 180 000 Menschen waren in der Bundesrepublik Deutschland am 31. Januar dieses Jahres wegen Wohnungslosigkeit vorübergehend untergebracht, vermeldete das dortige Statistische Bundesamt Mitte Juli. Endlich bundesweite Zahlen, was so weit erfreulich ist. Seit zwanzig Jahren fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe eine solche Statistik. Zusätzlich hatte das Europaparlament im November 2020 erklärt: Bis 2030 solle Obdachlosigkeit in der EU abgeschafft sein. Zwar sind sich alle darüber im Klaren, dass dies wohl eher als Absichtserklärung zu lesen ist denn als Kampfansage. Dennoch, der Druck auf die Mitgliedsländer steigt. Und nicht mehr nur aus der Zivilgesellschaft.

Nun sind die bundesweiten Zahlen trotzdem mit Vorsicht zu lesen, denn sie geben nur Auskunft über die Lage an jenem einen Stichtag; dabei wurden viele Betroffene gar nicht erfasst. Sinnvoll wären daher ergänzende Erhebungen, wie sie mancherorts auch schon existieren. Weil die Bearbeitung von Obdach- und Wohnungslosigkeit auch in Deutschland Kommunen- und Ländersache ist, haben verschiedene Orte und Bundesländer unterschiedliche Ansätze. Als vorbildlich gilt Nordrhein-Westfalen (NRW), dessen «Wohnungsnotfallberichterstattung» für die jetzige bundesweite Erhebung Pate stand. Seit 2011 werden dort an jedem 30. Juni «alle notdürftig und vorübergehend mit einem Dach über dem Kopf versorgten wohnungslosen Menschen in Nordrhein-Westfalen zuverlässig identifiziert». Das bedeutet: Alle Notschlafstellen melden dem Landesamt die Anzahl der Menschen, die in dieser Nacht bei ihnen unterkommen.

Dass dies nicht für ein vollständiges Bild ausreicht, liegt auf der Hand. Nicht institutionell untergebrachte Wohnungslose ohne Kontakt zu Beratungsstellen werden nicht erfasst. Zudem lässt sich aus den Zahlen nichts über die vielfältigen Probleme und Bedürfnisse der Betroffenen ablesen. Deshalb hat NRW nun nachgelegt und bei der Bremer Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e.V. (GISS) eine umfangreiche Studie inklusive Zählung in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse im März bekannt wurden. Methodisch entschieden sich die Forscher*innen für einen ähnlichen Ansatz wie bei der ersten schweizweiten Erhebung durch die Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW (siehe Surprise 525): Fragebogenbefragungen in Anlaufstellen von Wohnungslosen (Übernachtungsplätze, Essensausgaben, Tagesstätten etc.) über den Zeitraum von einer Woche – jener Woche nach dem Stichtag der Wohnungsnotfallberichterstattung NRW. Dabei nutzt man das Vertrauen der Befragten in die Anlaufstellen, um die Auskunftsbereitschaft zu erhöhen. Zudem vermeidet man den hohen Personalaufwand, den eine klassische Strassenzählung mit sich bringt, wie die Städte New York (seit 2005) und Paris (seit 2018) sie jährlich durchführen.

Die Sozialforscher*innen in NRW kamen mit ihrer Methode denn auch auf eine deutlich höhere Zahl von Betroffenen: «Nach vorsichtigen Schätzungen betrug die Gesamtzahl der Personen ‹auf der Strasse› oder in Behelfsunterkünften in Nordrhein-Westfalen im Juni/Juli 2021 ca. 5300 Personen, also 3800 mehr als in der Landesstatistik dokumentiert.» Noch immer existiere ein Dunkelfeld, wenn auch ein viel kleineres, wie Jutta Henke von GISS gegenüber dem Strassenmagazin Bodo sagte. Im Text der Studie heisst es dazu: «Zum einen beteiligen sich zwar viele, aber nicht alle Beratungsstellen in NRW an der Erhebung, zum anderen sind ambulante Strukturen der Wohnungslosenhilfe in einigen Regionen nur schwach ausgebaut. Schliesslich dürfte mehr als unwahrscheinlich sein, dass sich alle Menschen, die in NRW keine Wohnung haben, an eine der 68 Fachberatungsstellen wenden.»

Zu wenig Freiwillige, die mitmachen wollen

In Berlin setzt man derweil darauf, eine 2020 durchgeführte erste Strassenzählung zu wiederholen (siehe auch Surprise 470). Daneben soll es gemäss dem im vergangenen Jahr veröffentlichten «Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030» auch eine Wohnungsnotfallstatistik für das ganze Stadtgebiet geben. «Diese soll sowohl die öffentlich untergebrachten Wohnungslosen als auch die auf der Strasse lebenden Menschen erfassen sowie eine erweiterte Räumungsstatistik enthalten, um ein möglichst umfassendes Gesamtbild der Dimensionen von Wohnungslosigkeit in Berlin zu erhalten», so der Plan. Bisher ist dies jedoch noch Zukunftsmusik. Dass der Faktor Personalaufwand tatsächlich ein Knackpunkt ist, zeigt sich denn auch am realen Beispiel: Rund zwei Wochen vor der Zähl- und Befragungsnacht im Juni hatte sich nur etwa die Hälfte der notwendigen Freiwilligen angemeldet. Die Geflüchteten aus der Ukraine, der laufende Zensus, die Absorbierung der Student*innen mit ihrer Rückkehr an die Uni nach der Pandemie – all das arbeitete gegen den Plan, eine Berliner Sommerzählung durchzuführen.

Das Ergebnis der Zählung 2020 – damals unter der Ägide der linken Sozialsenatorin Elke Breitenbach – hatte alle überrascht: Die erhobene Zahl obdachloser Menschen

Bundesstatistik zu Obdachlosigkeit

Rund 178 000 Personen waren am 31. Januar dieses Jahres in Deutschland wegen Wohnungslosigkeit untergebracht. Das ist das Ergebnis der ersten landesweiten Statistik zu Obdachlosigkeit des Bundes. Dabei wurden alle Personen in Deutschland erfasst, denen aufgrund von Massnahmen der Gemeinden und Gemeindeverbände oder mit Kostenerstattung durch andere Träger von Sozialleistungen zum Stichtag wegen Wohnungslosigkeit Räume zu Wohnzwecken überlassen oder Übernachtungsgelegenheiten zur Verfügung gestellt wurden. Nicht einbezogen sind Personen, die bei Freunden, Familien oder Bekannten unterkommen, und Obdachlose, die ohne jede Unterkunft auf der Strasse leben. Auch Menschen, die in Einrichtungen untergebracht sind, deren Ziel nicht in erster Linie die Abwendung von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit ist, wie bspw. Pflegeeinrichtungen oder Suchtkliniken, bleiben unberücksichtigt. Darüber hinaus wird auch nicht erfasst, wer Beratungsangebote zum Thema Wohnungslosigkeit in Anspruch nimmt, aber am Stichtag nicht untergebracht ist, sowie Personen, die bspw. aufgrund einer angedrohten Zwangsräumung von Wohnungslosigkeit bedroht, aber (noch) nicht betroffen sind. in Berlin lag im Gegensatz zu NRW weit unterhalb der Schätzungen von Wohlfahrtsverbänden und Expert*innen. Nun sollte man eigentlich meinen, das sei eine gute Nachricht. Doch Kritiker*innen vermuteten Fehler bei der Art der Erhebung: Der kurze Erhebungszeitraum von wenigen Stunden in einer Nacht begünstige eine hohe Dunkelziffer, zudem hätten sich viele absichtlich einer Erfassung entzogen. Auch sei eine Zählung allein aufgrund äusserer Merkmale fragwürdig: Woran erkenne man denn Obdachlose auf der Strasse – am Schlafsack oder am Geruch?, so wurde polemisiert. Menschen, denen man ihre Betroffenheit nicht ansähe, würden nicht erfasst. Und jetzt drohe womöglich aufgrund der geringeren Betroffenenzahl eine Kürzung der Mittel für die Wohnungslosenhilfe, befürchteten Aktivist*innen.

Kürzungen schloss Breitenbach zwar aus, die Frage nach dem Dunkelfeld sowie das grundsätzliche Misstrauen gegenüber der Politik und der Strassenzählung aber blieb. Dann war Pandemie. Derweil zog sich Elke Breitenbach aus der Senatsverwaltung zurück und übergab ihr Amt der Nachfolgerin und Parteikollegin Katja Kipping. Die Trägerorganisation sowie das Team der Zählung und Befragung sind heute andere als 2020. Doch die Projektverantwortlichen Bálint Vojtonovszki und Stella Kunkat haben mit der ersten Zählung kein leichtes Erbe angetreten. Beide kommen aus der Gassenarbeit und kennen die generellen Vorbehalte der Zielgruppe gegenüber Erhebungen. Was passiert später mit den Zahlen? Können diese polizeilich genutzt werden, um effizienter gegen Schlafende im öffentlichen Raum vorzugehen? Werden

Woran die Berliner Politik sich orientiert

2013

2013 fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG W) Wohnungslosenhilfe Wohnungsnotfall-Rahmenpläne zur Überwindung von Wohnungsnot und Armut in Deutschland auf allen politischen Ebenen – in Bund, Ländern und Gemeinden.

2015

Die 2015 beschlossenen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen verpflichten die Regierungen, Armut und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 zu beenden.

2017

Die 2017 verkündete Europäische Säule sozialer Rechte legt das Recht auf Wohnung beziehungsweise auf eine Unterkunft fest.

BREITENBACH, ELKE / FISCHER, ALEXANDER: BERLINER MASTERPLAN ZUR

QUELLE:

ÜBERWINDUNG VON WOHNUNGS- UND OBDACHLOSIGKEIT BIS ZUM JAHR 2030. BERLIN, 2021.

Hilfsgelder zurückgefahren? Und landen wirklich die Richtigen in der Statistik – da wird einer nach einer durchfeierten Nacht auf der Parkbank vielleicht mitgezählt, was aber ist mit denen, die verdeckt wohnungslos sind oder die zufällig gerade in dieser Nacht einen Platz bei einem Freund gefunden, aber eigentlich keine Bleibe haben?

«Kommunikation ist das A und O», sagt Vojtonovszki. Unter den verschiedenen Trägern der Wohnungslosenhilfe gebe es zahlreiche Befindlichkeiten und Vorbehalte. Nicht ganz zufällig wurde das Projekt beim nicht aktiv in der Wohnungslosenhilfe tätigen Berliner Verband für sozio-kulturelle Arbeit (VskA) angesiedelt, um kein weiteres Misstrauen zu wecken. Das Ziel der Erhebung geht übrigens über die Generierung reiner Zahlen hinaus: Der Fachverband der Nachbarschaftsarbeit will das zivilgesellschaftliche Engagement im Bereich Obdachlosigkeit steigern – «ohne das und passende Daten werden wir uns dem Ziel 2030 nicht annähern können», so Vojtonovszki.

Nicht alle sehen den Sinn der Zählung

Trotzdem ist es bisher nicht gelungen, alle Beteiligten und Betroffenen rechtzeitig und ausreichend zu informieren sowie vom Sinn des Projektes zu überzeugen. «Wir haben alle Anlaufstellen, Notübernachtungen und sonstige Institutionen kontaktiert. Aber wenn Emails unbeantwortet bleiben oder niemand ans Telefon geht, dann können wir auch nicht mehr tun», sagt Vojtonovszki. Das Berliner Strassenmagazin Strassenfeger, zu dessen Verein auch eine Notschlafstelle gehört, bestätigt dies. Auf Nachfrage sagt Vorstandsmitglied Samyr Bouallagui, nur am Rande von der Zählung erfahren zu haben. Bei ihm stosse das Vorhaben auf Unverständnis: Statt nun nochmal zu zählen, wäre es doch viel sinnvoller, nun mal direkt in Wohnraum zu investieren – um zu sehen, dass es daran mangele, brauche es nun wirklich keine neuen Zahlen. Tatsächlich richtet sich der Unmut weniger direkt auf die Zählung an sich als auf die Politik. Bisher sei Housing First in Berlin immer noch an Bedingungen geknüpft, ärgert sich Bouallagui, zum Beispiel an einen Therapiewunsch. Dabei sei das Recht auf Wohnraum ein Menschenrecht und der Staat habe dafür Sorge zu tragen.

Für die Sommerzählung im Juni reichte die Zahl der Freiwilligen schliesslich nicht aus: 2400 Freiwillige hätte es gebraucht für die stadtweite Zählung und Befragung, die sich «Zeit der Solidarität» nennt, in Anlehnung an die «nuit de la solidarité» in Paris. Stattdessen gab es zwei, drei Tage lang «Zeit für Gespräche»: aufsuchende, stichprobenartige Befragungen von Betroffenen, um einen ersten Eindruck der vielfältigen Problemlagen und Bedürfnisse zu bekommen.

Wer keinen Kontakt zu Institutionen hat und sich der Strassenzählung entzieht, wird weiter zum sogenannten Dunkelfeld gehören. Ganz ausleuchten kann man es wohl nicht. «Ideal wäre natürlich eine Kombination aus allen drei Methoden: die Landesstatistik, eine regelmässige Strassenzählung und Fragebogenbefragungen in den Anlaufstellen – dann hätten wir ein gutes Bild», sagt Vojtonovszki. «Nun hoffe ich erst einmal, dass wir es schaffen, dass die Zählung im Winter klappt und dann auch regelmässig stattfindet.»

2020

Im November 2020 verabschiedet das Europaparlament eine Resolution, welche die Beendigung der Obdachlosigkeit bis 2030 als Ziel ausruft. Die Mitgliedsstaaten werden zum entschiedenen Vorgehen gegen die Obdachlosigkeit aufgefordert und abgestimmte nationale Strategien zum Erreichen dieses Ziels eingefordert.

Und nicht zuletzt

... besteht im Land Berlin der Verfassungsauftrag, eine soziale Sicherung zu verwirklichen, die eine menschenwürdige und eigenverantwortliche Lebensgestaltung ermöglicht. Dazu gehört auch, dass jeder Mensch das Recht auf angemessenen Wohnraum hat.