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Interview mit Jörg Weisshaupt

«Suizid ist in unserer Gesellschaft ein No-Go»

Hinterbliebene sollten mit ihren Fragen nicht alleingelassen werden, sagt Jörg Weisshaupt vom Verein Trauernetz.

INTERVIEW KLAUS PETRUS

Herr Weisshaupt, in der Schweiz nehmen sich mehr Männer das Leben als Frauen. Warum?

Die Gründe dafür sind wissenschaftlich nicht erhärtet, aber man weiss, dass mehr Männer mit Waffen vertraut sind; in keinem anderen europäischen Land werden so viele Suizide durch Schusswaffen begangen wie in der Schweiz. Das bedeutet allerdings nicht, dass Frauen hierzulande weniger suizidgefährdet wären. Von 30 000 Menschen, die jährlich einen Suizidversuch begehen, sind 20 000 Frauen.

Laut Statistik erfolgen Suizide nur selten aus einem Affekt heraus, sondern sind geplant. Wie lässt sich das erklären?

Tatsächlich haben die meisten Suizide eine lange Geschichte. Man geht davon aus, dass in 90 Prozent der Fälle psychische Krankheiten im Spiel sind, 70 Prozent der Betroffenen litten an Depressionen, und das oft jahrelang. Auf der einen Seite kann das eine Chance sein, denn so merkt man oft, dass es einer Person nicht gut geht, und man kann versuchen, auf sie einzugehen. Auf der anderen Seite leben wir in einer Gesellschaft, die psychische Krankheiten noch immer weniger ernst nimmt als körperliche Leiden. Kommt hinzu, dass viele, die einen Suizid begehen wollen, dies zu verbergen versuchen. Sie möchten ihr Umfeld nicht zusätzlich belasten oder sich von ihrem Vorhaben abhalten lassen.

Grundsätzlich gefragt: Warum sollte man eine Person davon abhalten, sich das Leben zu nehmen? Ist das nicht ihr freier Entscheid?

In unserer Gesellschaft ist der Suizid ein No-Go. Das mag vielleicht noch mit der Kirche zu tun haben, welche die Selbsttötung lange Zeit als «Mord» verurteilt hat. Und das, obschon in der Bibel selbst weder der Suizid noch die Person, die sich dafür entscheidet, moralisch bewertet werden. Tatsache ist, beim Thema Suizid sind wir schnell beim Werten. Die einen sind der Meinung, suizidierte Menschen seien feige, weil sie ihr Leben nicht im Griff gehabt oder weil sie ihre Familie im Stich gelassen haben. Andere finden, sie selbst würden niemals den Mut haben, irgendwo runterzuspringen oder sich vor einen Zug zu werfen. Doch weder eine Verurteilung noch die Heroisierung ist hilfreich im Umgang mit Suiziden. son sich entscheidet, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat vor nicht allzu langer Zeit eine Zahl veröffentlicht, die auch mich erstaunt hat: Pro Suizid gibt es im Schnitt 135 Menschen, die davon betroffen sind. Dazu gehören fünf bis zehn Familienangehörige, aber auch Menschen aus dem näheren Umfeld, Mitschüler*innen, Arbeitskolleg*innen, Bekannte aus den Sozialen Medien – oder die Lokführerin sowie das Reinigungspersonal, falls sich eine Person vor den Zug geworfen hat.

In Berichten von Hinterbliebenen ist immer wieder von einem Schock die Rede, die ein Suizid bei ihnen ausgelöst hat. Es ist das Unfassbare, das kaum zu ertragen ist. Ist dies typisch für den Trauerprozess nach einem Suizid?

Ja, der Schock sowie die «Warum»-Frage und Schuldgefühle gehören zu den ersten Reaktionen. Tatsächlich verunmöglicht ein Suizid den Hinterbliebenen – in der amerikanischen Forschung werden sie «survivors», Überlebende, genannt –, Abschied zu nehmen, Antworten auf Fragen zu bekommen oder um Verzeihung zu bitten.

Was hilft den Überlebenden am meisten?

Wenn sie mit Menschen reden können, die ähnliches erlebt haben. Sie machen oft die Erfahrung, dass ihr Umfeld dem Thema ausweicht oder nicht wenige schon nach kurzer Zeit vergessen, was ihnen widerfahren ist. Dadurch bekommen sie das Gefühl, sie müssten nach wenigen Wochen oder Monaten bereits wieder genauso funktionieren wie davor. Doch das können die wenigsten. Einer Studie zufolge weisen «survivors», die alleingelassen werden, eine dreissigfach erhöhte Suizidalität auf als die restliche Bevölkerung. Deswegen ist nicht bloss die Suizidprävention so wichtig, sondern auch die Nachsorge für Hinterbliebene. Wir wissen heute, dass Hinterbliebene, auf die man unmittelbar nach einem Suizid proaktiv zugeht, bereits nach einem Monat Hilfe in Anspruch neben, sei es von Seelsorger*innen, Therapeut*innen oder in Selbsthilfegruppen. Andernfalls dauert das bis viereinhalb Jahre. In dieser Zeit kann vieles passieren, was diese Menschen in ihrem Leben beeinträchtigt oder gar gefährdet.

Welche Rolle spielt die Verantwortung einer suizidalen Person gegenüber den Mitmenschen?

Eine grosse, finde ich. Wir alle leben in einem Netz von Beziehungen, was uns gerade jetzt, in Zeiten von Corona, wieder so richtig bewusst wird. Und das bedeutet eben auch, dass wir in vielen Fällen nicht einfach frei sind, rein egoistisch zu entscheiden. Wir tragen eine Verantwortung gegenüber den Menschen, mit denen wir Beziehungen pflegen. Auch dann, wenn eine Per-

ZVG

FOTO: Jörg Weisshaupt, 65, arbeitete 30 Jahre als Jugendbeauftragter der reformierten Kirche Zürich, er ist Geschäftsführer des Vereins «trauernetz» und begleitet Selbsthilfegruppen in Bern, Zürich und St.Gallen. trauernetz.ch