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Kino

Ein russischer Fiebertraum

Kino Im Film «Petrov’s Flu» des russischen Systemkritikers Kirill Serebrennikov erkrankt eine Familie im postsowjetischen Russland an einer Grippe. Symptome sind Halluzinationen und Gewaltfantasien.

TEXT MONIKA BETTSCHEN

Ein Linienbus schlingert in einer russischen Stadt durch die eisige Neujahrsnacht. Eine als Schneemädchen Snegurotschka verkleidete Frau mit blonder Zopfperücke kontrolliert die Tickets der mehrheitlich alkoholisierten Fahrgäste. Im Mittelgang wird Petrov, ein hagerer Mann Mitte 30, von Hustenanfällen geschüttelt, worauf ihm eine Frau ihren Sitzplatz anbietet, da er ihrer Meinung nach Krebs habe. «Nein, Grippe», antwortet Petrov und hangelt sich mühsam weiter.

Ein anderer Fahrgast lamentiert mit schwerer Zunge über den maroden Zustand des Landes. «Früher durften wir alle kostenlos in Urlaub reisen. Alles diente dem Wohl des Menschen. Und jetzt? Gorbatschow hat das Land verkauft, Jelzin hat es versoffen.» Rund um Petrov, der sich als Mechaniker und Comiczeichner über Wasser hält, erklingt ein antisemitisch-rassistisches Klagelied gegen alle, die gerade angeblich das Sagen haben. Das Ende der Schimpftirade dringt nur noch wie durch Watte zu Petrov durch: «Alle, die jetzt an der Macht sind, müsste man an die Wand stellen!» Kaum sind die Worte gesprochen, wird der Bus angehalten und Petrov von einem maskierten Mann aufgefordert, sich einem Erschiessungskommando anzuschliessen. Wenig später exekutiert er Männer und Frauen in Anzügen und Pelzjacken. Danach geht die Busfahrt weiter, als wäre nichts gewesen. War alles bloss eine Halluzination? Neue Fahrgäste steigen ein. Ein Mädchen bietet einem betagten Mann ihren Platz an. Der Alte bedankt sich und beginnt, sie verbal zu belästigen. Ein Jüngling hört das und schlägt den Senioren, sodass diesem das Gebiss aus dem Mund fällt. Petrov steckt die Prothese ein. Dann lässt er die Neujahrsnacht hustend und saufend mit seinem Kumpel Igor in einem Leichenwagen ausklingen.

Die mysteriöse Grippe, die Petrov und seine Familie plagt, eröffnet kleine Fluchten, in denen das Unbewusste mit aller Macht hervorbricht. Bei Petrovs Frau, energisch gespielt von Chulpan Khamatova, manifestiert sich die Krankheit im Töten gewalttätiger Männer. Ihre Taten kündigen sich jeweils dadurch an, dass sie vorher ihre Brille absetzt.

Zwischen Traum und Wirklichkeit

«Petrov’s Flu» des russischen Film-, Opern- und Theaterregisseurs Kirill Serebrennikov ist eine Verfilmung des Buches «Petrov hat Fieber. Gripperoman» von Alexei Salnikov und stand 2021 in Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme. Der Film überwältigt und überfordert stellenweise mit einer überbordenden Fülle an Rückblenden, historischen Bezügen und Gewaltausbrüchen. Dreh- und Angelpunkt ist ein Neujahrsfest, das Petrov als Kind besuchte. Figuren von damals tauchen wieder auf und Erinnerungen drängen in die Gegenwart, als sein Sohn die Feier