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Wohnen

Wohnen in den Niederlanden wird immer schwieriger: Im ganzen Land fehlt es an 300 000 Wohnungen, fast eine Million junge Menschen zwischen 20 und 35 Jahren können sich keine leisten.

Obdachlos in Amsterdam

Wohnen Die Zahl Obdachloser in den Niederlanden hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Das Land befindet sich inmitten der schwersten Wohnungs- krise seit Jahrzehnten. Davon betroffen sind auch internationale Studierende.

TEXT JULIUS E. O. FINTELMANN FOTOS DANIËL SIEGERSMA

NIEDERLANDE

Amsterdam

Er habe die Obdachlosigkeit freiwillig gewählt, sagt Jacques, der aus der Bretagne kommt. Seit knapp zwanzig Jahren lebe er in Amsterdam und schlafe momentan in einem Zelt in einem Wald im Süden der Stadt, erzählt der 42-Jährige mit dem langen grauen Bart und den zotteligen Haaren. Wenn man nichts habe, entwickle sich eine spezielle Verbindung mit der eigenen Umgebung, sagt Jacques.

Schon als Kind sei er die ganze Zeit in der Natur gewesen und auch danach habe er immer eins mit der Natur sein wollen: «Ich möchte nicht mich und meine Wünsche über alles stellen, sondern versuche ganzheitlich zu denken.» Selbst die Schwierigkeiten, denen er im Alltag begegnet, versucht er nicht als solche zu sehen, son- dern optimistisch und positiv zu bleiben. «Wenn ich mich die ganze Zeit über meine Situation beschwere, werde ich niemals froh. Dabei macht mich ja gerade meine Lebensart glücklich.»

Seit 22 Jahren kommt Jacques jeden Tag ins Makomhaus, eines der neun Walk-in-Zentren der Hilfsorganisation de Regenboog in Amsterdam. Er sei sowas wie der älteste Besucher der Einrichtung, sagt Jacques. Für ihn ist das Leben mit den anderen Besucher*innen wie in einer Familie. «Die Verbindung, die wir hier untereinander haben, ist sehr stark. Wir teilen unsere Träume, unsere Probleme, unser Leben.»

De Regenboog ist eine der grössten Hilfsorganisationen in Amsterdam, die sich der Obdachlosigkeit und Drogenabhängigkeit annimmt. In den 1970er-Jahren von einem Pastor gegründet, der gegen Spritzentausch und Heroinabhängigkeit in einem Stadtpark vorgehen wollte, engagieren sich bei de Regenboog mittlerweile über 1200 Freiwillige. Das Spezielle an ihrer Arbeit: Sie verlangen, anders als beispielsweise die Heilsarmee, keinen Identitätsnachweis. So sind auch diejenigen willkommen, die sonst häufig unter dem Radar fliegen. Denn es geht de Regenboog um mehr: Ein Teil der Organisation beschäftigt sich mit Menschen, die sich einsam fühlen, und bietet ihnen einen «Maatje», einen Kumpel zum Reden. Ein anderer Teil beschäftigt sich mit den Opfern von Menschenhandel, der unter anderem in Amsterdam in Form von Prostitution weit verbreitet ist, und bietet ihnen unkomplizierten und schnellen psychologischen und lebenspraktischen Beistand.

Mittlerweile wird de Regenboog von der Stadt finanziell zwar mit mehreren Millionen Euro jährlich unterstützt, dennoch wären Organisationen wie sie als Erste von Haushaltskürzungen betroffen, wie Kathleen Denkers, Fundraiserin von de Regenboog, erklärt. Auch deshalb wolle de Regenboog nun ein Prozent aller Hotelzimmer in Amsterdam für die Nutzung durch Wohnungslose gewinnen, sagt sie. «Die meisten Hotels in Amsterdam haben Zimmer, die wegen der Aussicht oder der Architektur für Tourist*innen nicht schick genug sind und deshalb ständig leer stehen. Diese sollten für Obdachlose zur Verfügung gestellt werden.»

Ein sicherer Hafen

Denkers leitet ausserdem das Makomhaus. Makom – das Wort wird abgeleitet vom jiddischen Mokum («sicherer Hafen») und ist ein Übername für Amsterdam – stellt für bis zu 120 Leute täglich warme Mahlzeiten, Laptops, einen Raum zum Malen, Musizieren und Reden zur Verfügung. Im Winter bietet das Makomhaus ausserdem Notschlafstätten an. Viele Menschen, die hier sind, kommen jeden Tag. «Das Wichtigste an unserer Arbeit ist, dass wir unsere Besucher*innen mit ihrem Namen ansprechen. Dadurch fühlen sie sich ernstgenommen», erklärt Denkers, die vor ihrer Arbeit in der Obdachlosenhilfe als Fundraiserin für verschiedene Firmen um die Welt reiste. Sie habe während ihrer Karriere in der Firmenwelt die Wichtigkeit der Arbeit mit Obdachlosen erkannt.

«Wir teilen hier unsere Träume, unsere Probleme, unser Leben.»

JACQUES

Auch der 55-jährige Ronald kommt mehrfach wöchentlich in das Makomhaus. Seit vierzig Jahren lebt er in Amsterdam, seit dreissig Jahren ist er immer mal wieder obdachlos. Als Kind wurde Ronald von seinen Eltern misshandelt: Er musste manchmal in einer Ecke im Innenhof schlafen, sollte im Alter von vier Jahren Einkäufe für die Familie erledigen, durfte bis er sechs Jahre alt war nicht mit anderen Kindern spielen – und wenn er es doch tat, wurde er für mehrere Wochen auf dem Dachboden eingesperrt. Später kam Ronald in ein Heim nach dem anderen, brach aber aus allen wieder aus. Nach einigen Jugendgefängnis- aufenthalten fing er an, Häuser zu besetzen und sich poli- tisch zu engagieren. Bis ein heroinabhängiger Freund mit ihm am helllichten Tag ein Haus im Norden Amsterdams besetzte. Als die Polizei das Haus umstellte, stürzte er sich vor Ronalds Augen aus dem Fenster und in den Tod.

Dieses einschneidende Ereignis brachte Ronald nach einiger Trauerzeit dazu, es doch nochmal zu probieren. Er fing an zu arbeiten: zunächst auf dem Bau, dann als Koch und Bäcker, als Matrose und schliesslich als Kapitän auf dem Rhein zwischen Basel und Rotterdam und Antwerpen und Berlin. Aufgrund seiner Kindheit hatte er jedoch Schwierigkeiten mit Autoritäten, dass er jeden dieser Jobs nach einigen Monaten oder Jahren wieder aufgab. Nun ist er seit zehn Jahren wieder auf der Strasse. Er erhalte zwar Geld von der Sozialhilfe, jedoch reiche es nur für ein Leben ohne Wohnung, sagt Ronald. Mittlerweile habe er seinen Schlafplatz unter einer der wenigen Brücken Amsterdams gefunden, wo es trocken genug ist. «Es gibt nichts Gutes im Leben als Obdachloser», sagt Ronald. Ständig sei er konfrontiert mit den Problemen anderer Leute, sodass es ihm mittlerweile schwerfalle, Freund*innen zu finden, ohne sie gleich wieder zu verlieren: «Ich habe schon so viele in den Drogentod gehen sehen.»

Der kräftig gebaute Mann mit dem gepflegten Stoppelbart spricht zwar reflektiert, aber immer noch mit grosser Verbitterung über seine Vergangenheit und die Kindheit, die ihm gestohlen wurde. Bis vor ein paar Jahren sei er oft aggressiv gewesen und konnte nicht mit Komplimenten umgehen. Dann fing er an, Musik zu machen. Jetzt besitzt er drei elektrische Gitarren und hat sich letzten Sommer einen neuen Verstärker gekauft. Vor ein paar Monaten sei mal jemand aus dem Konservatorium im Makomhaus gewesen, er habe ihm Komplimente gemacht

«Es gibt nichts Gutes im Leben als Obdachloser.»

RONALD Das Makomhaus: Ein Treff für Menschen ohne feste Bleibe. Hier bekommen 120 Leute täglich warme Mahlzeiten, es wird gemalt, musiziert und geredet.

für sein Gitarrenspiel und ihn eingeladen, mit ihm zusammenzuspielen. «Das war das erste Kompliment, das ich annehmen konnte», sagt Ronald.

Studium ohne Bleibe

Unabhängig von Ronald und Jacques, die beide seit langer Zeit ohne Wohnung sind, und anderen «klassischen» Obdachlosen, deren Zahl sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat, tritt nun eine neue, gefährdete Gruppe auf den Plan. Studierende aus anderen Ländern sind von der aktuellen Wohnungskrise betroffen und hatten gerade im letzten Sommer grosse Schwierigkeiten, eine Unterkunft zu finden.

Im Hinblick auf den Brexit haben niederländische Universitäten seit Jahren ihre Programme mehr und mehr internationalisiert, sodass nun die Niederlande die meisten englischsprachigen Bachelorabschlüsse in der Europäischen Union anbieten. Aufgrund des knappen Wohnungsmarkts in den Niederlanden finden viele internationale Studierende keine Wohnung mehr. Ein trauriger Höhepunkt wurde diesen Sommer erreicht: Fast 300 Studierende in Amsterdam und 600 in Groningen

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«Ich sollte eigentlich gerade die beste Zeit meines Lebens haben.»

RUTA Fast 300 Studierende waren allein in Amsterdam bei Studienbeginn im vergangenen Herbst ohne Wohnung – dann suchen sie Hostels auf oder ziehen wieder fort.

waren bei Studienbeginn im September letzten Jahres ohne Wohnung. So wie zum Beispiel Ruta aus Riga, die in Amsterdam Recht studiert. Als sie vorigen August umzog, wurde das ihr versprochene Zimmer vom Vermieter nicht mehr zur Verfügung gestellt, sie stand plötzlich ohne Wohnung da. Was folgte, war eine Odyssee durch verschiedene Hostels und Hotels: mal in einem Zimmer zusammen mit zehn älteren Männern, dann in einem Hostel, wo ihr Frühstück gestohlen wurde. Als im Oktober das Amsterdam Dance Event, eines der grössten Festivals für elektronische Musik in Europa, stattfand, war ihr Zimmer bereits von anderen Monate im Voraus gebucht. Fast wurde sie endgültig obdachlos, doch dann legten ein paar Freundinnen und sie zusammen und bezahlten eine Übernachtung in einem Viersternehotel.

Die ganze Zeit über suchte Ruta mehrere Stunden täglich nach einer Wohnung, sie war Mitglied in fünf verschiedenen Facebook- und WhatsApp-Gruppen mit anderen Wohnungsuchenden. Anfang November kam endlich ein Angebot, in ein Zimmer in Almere zu ziehen, einer kleinen Stadt nördlich von Amsterdam. Schon wenig später zeigte sich aber, dass der wesentlich ältere Vermieter der Wohnung noch andere Motive hatte: Er wollte ständig wissen, was Ruta und ihre Mitbewohnerin so machten, und wenn sie waschen oder kochen wollten, mussten sie an seinem Bett vorbei, auf dem er die meiste Zeit des Tages ohne Oberteil rumlag. Als er einmal mitten in der Nacht an das Zimmer ihrer Mitbewohnerin klopfte und fragte, ob sie nicht mit ihm «reden wolle», war Ruta klar, dass sie dort nicht mehr bleiben konnte. Die beiden organisierten sich eine Übernachtung in einem Hotel.

Anfang Dezember letzten Jahres hat Ruta ihre Suche nach einer Unterkunft fürs Erste aufgegeben; sie zieht bis Januar zu einem Verwandten nach Katwijk, eine knappe Stunde von Amsterdam entfernt. Nach der Weihnachtspause will sie so lange wie möglich in Lettland bleiben. Sie wird nur zurückkommen, wenn Präsenzunterricht wieder verpflichtend wird. «Natürlich beeinträchtigt das alles mein Studium», sagt Ruta. «Ich habe es kaum geschafft, die Seminare und Vorlesungen vorzubereiten.» Vor allem aber sei es frustrierend: «Ich sollte doch eigentlich gerade die beste Zeit meines Lebens haben. Stattdessen muss ich immer darüber nachdenken, wo ich nächste Woche schlafen kann.»