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Verkäufer*innenkolumne

Verkäufer*innenkolumne

Zu viel des Guten

Es gibt viel mehr gläubige Menschen, als man gemeinhin so denkt. Hätte ich alle christlichen Schriften und Tonträger, die ich im Laufe der Jahre bekommen habe, aufbewahrt, sie würden ein ganzes Tablar in meinem Regal füllen. Hat jemand ein biblisches Traktat in der Tasche, bin ich der Auserwählte, der es in feierlicher Manier überreicht bekommt, meist verbunden mit der Frage: «Glauben Sie an Gott?» Es kommt auch vor, dass die Schenkenden für meinen Geschmack in ihrem missionarischen Eifer überborden und gleich an Ort und Stelle mit mir beten wollen, vermutlich, um mich wohlwollend vor dem Fegefeuer zu bewah- ren. Ich denke: Das muss ein Scherz sein. Irrtum! Ist es nicht. Es ist ihr heiliger Ernst. Nun kann man die Bahnhofsunterführung zu Rapperswil wahrlich nicht gerade als Kathedrale oder stilles Kämmer- lein bezeichnen. Nicht nur wegen der Räumlichkeit. Es herrscht hier reger Betrieb. Und zwar nicht kirchlicher, son- dern eher weltlicher Natur. Frauen, Männer und Kinder, die ihren Geschäften, Verpflichtungen und Freizeitaktivitäten nachgehen. Ein emsiges Kommen und Gehen. Alle bleiben von den Missionierenden verschont. Ausser ich! Herrgott nochmal, bin ich denn sündiger als alle anderen, bloss weil ich Surprise verkaufe? Sehen diese Menschen darin eine wohlverdiente Strafe Gottes, welche ich, in aller Öffentlichkeit an den Pranger gestellt, zu verbüssen habe? Wenn dem so wäre, dann ist er ein gnädiger Gott, denn er kennt mich ja und weiss also, dass ich dieses Heft sehr gerne verkaufe und dies für mich nie und nimmer eine Strafe ist. Ich spinne den Faden weiter: Nehmen wir an, ich verbüsse eine Stra- fe Gottes. Immerhin erhalte ich während meines Strafvollzugs, ich vermute wegen guter Führung, häufig Komplimente: «Sie machen einen guten Job.» – «Es ist schön, dass Sie da sind.» – «Wir würden Sie vermissen.» – Mal hat mir jemand im Vorbeieilen zugerufen: «Das ist Ihre Berufung!»

Um die Frage «Glauben Sie an Gott?» noch zu beantworten: Ich glaube nicht. Ich weiss.

URS HABEGGER, 65, lebt seit zwölf Jahren vom Surprise-Verkauf am Bahnhof Rapperswil. Er ist kein Kirchgänger, aber der christlichen Lehre durchaus nicht abgeneigt. Nur mit dem Wort «glauben» steht er auf Kriegsfuss. Es ist für ihn ein Unwort, ein Wischi-Waschi-Wort, nichts- sagend, weder schwarz noch weiss, weder heiss noch kalt.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illu- stration zur Kolumne entsteht in Zusammen- arbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.