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Buch

Durch eine Kamera, die hinter einem Spionspiegel angebracht war, konnten sich die Porträtierten ausserdem selbst fotografieren, wobei von allen Teilnehmer*innen Tableaus mit mehreren Selbstporträts entstanden. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung fliessen in diesem Fotoprojekt ineinander und erschaffen ein Gesamtbild, das feinfühlig und ausdrucksstark vom Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe, aber auch von einer Neugier auf das eigene Selbst erzählt. Wie zum Beispiel beim 15-jährigen Niklas Svend. Nach einer Odyssee von Abteilung zu Abteilung im Kinderspital stand seine Diagnose im Alter von zehn Jahren schliesslich fest. Frühkindlicher Autismus high functioning, also eine Form ohne kognitive Beeinträchtigung. In einer Tonaufnahme, die auf der Webseite zum Projekt zu hören ist, erzählt der Jugendliche gemeinsam mit seiner Mutter, welche Strategien er anwendet, wenn ihn sein Umfeld überfordert. Er macht dann einen Spaziergang oder zieht sich in eine reizfreie Umgebung zurück. Keller-Sørensen durfte ihn bei ihrem zweiten Besuch in seinem Zimmer fotografieren, zeichnend an seinem Schreibtisch. Ein Vertrauensbeweis, beim ersten Besuch fühlte er sich dazu noch nicht bereit. «Auch das gehört zum autistischen Spektrum: Für Betroffene ist jeder Tag ein Kraftakt und eine enorme Anpassungsleistung an die Konventionen unserer Gesellschaft, die Extrovertiertheit und Austausch so hoch gewichtet. Wenn die Reize zu viel werden, ziehen sie sich zurück. Man darf solche Reaktionen nicht mit Trotz verwechseln. Betroffene können in diesen Momenten einfach nicht anders», sagt Keller-Sørensen, die überzeugt ist, dass mit einer frühen Diagnostik sehr viel Leid verhindert werden könnte. «Der Schuleintritt stellt bereits viele Weichen. Wenn betroffenen Kindern Raum gegeben wird, sich bei Bedarf zurückzuziehen, können auch sie von einer guten Bildung profitieren und sich später ihrem Potenzial entsprechend eine selbstbestimmte Zukunft aufbauen.» Dafür sei aber Verständnis seitens des Schulsystems und der Gesellschaft erforderlich. Es herrsche rund um das Thema Autismus sehr viel Unwissen, so sei sie im Gespräch über ihre Tochter einmal gefragt worden, ob das ansteckend sei. Ein andermal sagte ihr eine Frau, sie habe schon immer gedacht, dass ihre Tochter irgendwie anders aussehe. «Dabei sieht man den Autismus niemandem an, es ist eine strukturelle Störung im Gehirn.»

Die 38-jährige Joëlle Lynn liess sich für das Projekt versunken in das Aneinanderreihen von bunten Legosteinen fotografieren. Diese hat sie immer bei sich, um sich in Stresssituationen wieder sammeln zu können. Eines ihrer Spiegelselbstporträts ist stark verschwommen. Es ist nicht möglich, darauf ihren Gesichtsausdruck zu erkennen. Es ist eines jener Bilder, das einen intuitiv darüber nachdenken lässt, was Wahrnehmung ganz grundsätzlich eigentlich ausmacht.

«Ich sehe was, das du nicht siehst»,

Fotoausstellung, Mi, 19. Mai bis Fr, 9. Juli, Berner Generationen Haus, Bahnhofplatz 2, 3011 Bern; weitere Ausstellungsorte geplant: Informationen online. www.ich-sehe-was-das-du-nicht-siehst.ch/neue-events

Eine Insel mitten in der Schweiz

Buch Samira El-Maawis poetischer Debütroman macht Ausgrenzung und Fremdsein spürbar.

Eigentlich könnte die Geschichte, die die Autorin Samira ElMaawi in ihrem Debütroman erzählt, eine Liebesgeschichte sein. Eine Schweizerin verliebt sich in Sansibar in einen Afrikaner. Sie heiraten, entscheiden sich, in der Schweiz zu leben, haben zwei Kinder, sind glücklich. Der Mann, ein gelernter Chemiker – dessen Ausbildung in der Schweiz nicht anerkannt wird –, arbeitet als Koch in einer Kantine.

Dort allerdings darf er nur nach Vorschrift kochen, ohne den Reichtum an Zutaten und Düften seiner Heimat. Das ist nur am Wochenende und zuhause möglich, wo seine Küche zu seinem Heimatland wird und zum einzigen Ort, an dem er seine eigene Sprache wie eine Geheimsprache spricht. Hier baut er sich «eine Insel mitten in der Schweiz», auf der alles voller Liebe ist. Die Gerichte, die Gewürze, die Gerüche, der Duft der Haut. Doch diese Haut ist braun. Und macht den Vater und die Kinder anders unter all den Anderen, die weiss sind. Selbst der Gott in der Kirche, die sie besuchen, ist weiss und für den Vater ein Ausländer.

El-Maawi erzählt von diesem Anderssein anhand des Mikrokosmos einer Familie, in der niemand einen Namen hat. Namen tragen nur die Anderen. Als hätten die, die ausgeschlossen sind, die nicht als Individuen betrachtet werden, denen mit Misstrauen und Vorurteilen begegnet wird, kein Anrecht darauf. Selbst innerhalb dieser Familie gibt es feine Trennlinien. Denn die Mutter ist eine «weisse Afrikanerin», eine Afrikaspezialistin, der Afrika zwar am Herzen liegt, die Afrika aber nicht im Herzen trägt wie der Vater.

Als der Vater seinen Job verliert, verschärfen sich diese Unterschiede. Die Familienmitglieder entfremden sich unter dem Druck der Umstände, der zunehmenden Geldknappheit, dem Verlust des Selbstwertgefühls. Neuen Halt findet der Vater erst wieder, als er zum Koran und zu seinem eigenen Gott findet. Doch was für ihn ein neuer Anfang ist, lässt die Familie endgültig zerbrechen.

El-Maawi erzählt aus der Perspektive eines der beiden Kinder. Die Sprache ist einfach, aber zugleich voller Poesie. Es gelingt der Autorin, alles einzufangen und lebendig zu machen: die Liebe, die Gerüche, die Verletzungen, die Demütigungen, den Verlust, die Trauer. Und immer wieder auch die Zerrissenheit der Erzählerin, die «aussen braun und innen weiss» ist. Eine Fremde in der Schweiz, die doch die einzige Heimat ist, die sie hat. Es ist ein eindrücklicher und einfühlsamer Debütroman, der berührt und gefangen nimmt und das Fremd- und Anderssein spürbar macht.

CHRISTOPHER ZIMMER

ZVG

FOTO:

Samira El-Maawi

In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel Zytglogge 2020, CHF 27.90