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Äthiopien

Äthiopien Seit letztem November herrscht in Tigray Krieg. Ungewissheit und Angst treibt die Leute im Land um – wie auch die Diaspora in der Schweiz.

Der Krieg um Tigray

Ein Hintergrundbericht, Stimmen von Diaspora-Angehörigen, ein Interview und Bilder aus einem Flüchtlingslager – der Versuch, sich einem Konflikt zu nähern, aus dessen Innern kaum Informationen nach aussen dringen.

FOTOS ANDY SPYRA

Am 4. November 2020 marschierte die Armee des äthiopischen Premierministers Abiy Ahmed in die Tigray-Region im Westen des Landes ein. Kurz darauf war von Massakern die Rede, von zehntausenden Toten und noch mehr Geflüchteten. Der Konflikt zwischen der Regierung, an deren Seite auch eritreisches Militär kämpft, und der Tigrinischen Volksbefreiungsfront dauert bis heute an. Doch was sind eigentlich die Wurzeln dieser neuerlichen Auseinandersetzungen, wie konnte es so weit kommen und wie geht es weiter? Korrespondent Marc Engelhardt, der viele Jahre aus Afrika berichtete, beleuchtet für uns die Hintergründe des Konfliktes.

Wie die Situation vor Ort ist, wer welche Verbrechen begeht und was mit den Zivilisten geschieht, ist allerdings immer noch unklar; die Berichte sind spärlich und Medienschaffende haben kaum Zugang zur Kriegsregion. Der Fotojournalist Andy Spyra ist in den Süden des Sudans gereist, wohin derzeit die meisten Menschen aus der umkämpften Tigray-Region flüchten, von über 60 000 ist die Rede. Seine Bilder aus dem Flüchtlingslager Um Racouba sind Zeugnisse einer gewaltsamen Vertreibung, deren Konsequenzen noch niemand kennt.

Welche Auswirkungen dieser Konflikt für die Diaspora in der Schweiz hat, darüber haben wir mit Äthiopier*innen und Eritreer*innen geredet. Die meisten von ihnen möchten anonym bleiben, zu gross ist die Furcht vor Repression für sie selbst oder ihre Familien zuhause. Dabei scheint sich mehr und mehr ein Misstrauen untereinander auszubreiten: Wo bis vor Kurzem noch die äthiopische Identität im Zentrum stand, spielt nun plötzlich eine Rolle, aus welcher Region man stammt, welche Sprache man spricht, welcher Ethnie man angehört – Oromo (35 Prozent der äthiopischen Bevölkerung), Amhara (30 Prozent) oder Tigray (7 Prozent). Eine Beobachtung, die auch Laurence Gygi von der Kirchgemeinde Wohlen in Bern macht, wie sie im Interview mit Surprise ausführt. KP

Flüchtlingsbewegung

TIGRAY

SUDAN

AMHARA

Addis Abeba

Regionen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen

QUELLE: DEUTSCHE WELLE

ERITREA

SOMALIA

SÜD-SUDAN OROMIA ÄTHIOPIEN

KENIA

Geflüchtete auf einem Hügel über dem Flüchtlingslager Um Racouba im Süden des Sudans, wo derzeit 20 000 Menschen leben.

Andy Spyra

Der deutsche Fotograf Andy Spyra, 37, hat in Hannover Bildjournalismus und Dokumentarfotografie studiert und berichtet für internationale Medien vor allem aus dem Mittleren Osten, Bal- kan und der Subsahara. Im März dieses Jahres war er für eine Reportage im Süden des Sudans an der äthiopischen Grenze unterwegs. Seine Bilder stammen aus dem Flüchtlingscamp Um Racouba, einem von zwei permanenten Lagern, in denen Geflüchtete aus der Tigray-Region unterkommen. Fast

die Hälfte der 20 000 Menschen in Um Racouba sind

jünger als achtzehn Jahre. Die Geflüchteten werden von grossen Organisationen wie UNHCR oder Ärzte ohne Grenzen unterstützt. Nebst medizinischer Grundversorgung werden provisorische Schulen eingerichtet, es gibt inzwischen auch kleine Läden, die Geflüchteten versuchen eine gewisse Normalität in ihr Leben zu bringen. Vor Ort konnte Spyra allerdings auch beobachten, wie sich

ein Teil der vorwiegend jungen Tigray-Männer politisch

radikalisiert, je länger der Konflikt anhält. Sie wollen offenbar lieber zurück in ihr Gebiet und gegen die Armee der Regierung kämpfen als weiter im Flüchtlingscamp auszuharren und auf eine Rückkehr zu hoffen. KP

Im Lager Um Racouba gibt es kleine Läden, in denen Geflüchtete wie diese Frau (oben) Waren verkaufen oder Getränke anbieten. Für die Wasserversorgung (unten) sind internationale Organisationen zuständig.

Abstieg im Eiltempo

Als Abiy Ahmed vor drei Jahren zu Äthiopiens Regierungschef bestimmt wurde, galt er als Hoffnungsträger. Jetzt ist davon kaum noch etwas zu spüren.

TEXT MARC ENGELHARDT

Im März 2018 bestimmte die äthiopische Regierungspar- und mehr ans Licht kamen, war der Widerstand von Antei EPRDF Abiy Ahmed als neuen Premier. Die Wahl war fang an gross. Viele frühere Generäle stammen aus Tigray. unerwartet: Der damals gerade einmal 41-Jährige gehörte Zeitgleich wuchs nicht nur dort, sondern auch in anderen den Oromo an, der grössten Volksgruppe im Vielvölker- Regionen der ethnische Nationalismus. 1989 hatte TPLFstaat am Horn von Afrika. Vor allem diese hatte drei Jahre Chef Meles Zenawi die Revolutionäre demokratische Front lang protestiert und damit den Rücktritt von Abiys glück- der äthiopischen Völker (EPRDF) unter Führung der TPLF losem Vorgänger Hailemariam Desalegn erzwungen. geschmiedet. Ihr wichtigstes Ziel: Äthiopien als Staat zuZehntausende Jugendliche waren auf sammenzuhalten – koste es, was es die Strasse gegangen, hatten sich dem schwer bewaffneten Militär ent- Innerhalb von wenigen wolle. Unter Abiy, der die EPRDF in eine neue Partei umformte, zerbrach gegengestellt und gerufen: «Kommt her, erschiesst uns doch. Was haben Wochen krempelte die Allianz. In den Regionen wächst die Gewalt: Milizen von Oromo und wir schon zu verlieren?» Abiy, so die Hoffnung, würde die junge Bevölkerungsmehrheit befrieden können. Gut zwei Drittel der 105 Millionen Äthiopier*innen sind unter 25 Jahren, 50 Prozent von ihnen sind arbeitslos. Innerhalb von Wochen krempelte Ministerpräsident Abiy Ahmed Äthiopien komplett um. Amharen überfallen Minderheiten. Separatist*innen haben Zulauf, nicht zuletzt in Abiys Heimatregion Oromia. Dass Abiy die für 2020 geplanten Wahlen – offiziell wegen Covid-19 – mehrfach verschoben hat, lässt manche an seiner Legitimität zweifeln. Abiy das Land mit seinen 105 Millio- Die Ankündigung der TPLF, Tigray nen Einwohner*innen komplett um. von Äthiopien loszusagen, führte im Er liess Tausende politische Gefan- November 2020 zum Einmarsch der gene frei und verbotene Parteien wie- äthiopischen Armee – wohl auch, um der zu, schloss Frieden mit Eritrea andere Regionen von ähnlichen Vorund vergab die Hälfte der Kabinetts- haben abzuhalten. Auf Abiys Seite posten, das oberste Richter- und das Präsidentenamt an kämpfen eritreische Truppen, die Human Rights Watch Frauen. Zur Chefin der Wahlkommission kürte er eine für Massenhinrichtungen von Zivilisten in der Stadt Axum prominente Oppositionelle. Ein Jahr später wurde ihm verantwortlich macht. Sie sollen ausserdem ein Massaker der Friedensnobelpreis verliehen. im Kloster Maryam Dengelat verübt haben, bei dem mehr

Der rapide Wandel löste bei den jungen Äthiopier*in- als hundert Pilger und Einheimische während einer Messe nen eine ungekannte Euphorie aus. Die Folgen von Abiys überfallen und ermordet wurden. Öffnungspolitik schienen unumkehrbar: Auf einmal Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Miwurde offen über Politik geredet, die Angst vor den om- chelle Bachelet, hat Äthiopiens Regierung aufgefordert, nipräsenten Spitzeln war verschwunden. Dabei hatte Abiy eine unabhängige Untersuchungskommission ins Land den repressiven Überwachungsstaat der Vorgängerregie- zu lassen. Doch Abiy lehnt das bislang ebenso ab wie Verrungen massgeblich mitgetragen, einige sagen: mitge- mittlungsversuche aus der Region – womöglich, weil Akprägt. Unter anderem baute er den berüchtigten Internet- tivist*innen schwere Menschenrechtsverletzungen aufsGeheimdienst auf, der Blogger*innen und Social- eiten der äthiopischen Armee (wie auch der TPLF) Media-Nutzer*innen kontrollierte. So musste ihm klar dokumentiert haben. Wie die Lage in Tigray konkret aussein, wem er auf die Füsse trat, als er vor allem Mitglieder sieht, lässt sich schwer sagen. Auch Journalist*innen hader bis dahin in Politik, Verwaltung und Militär einfluss- ben keinen Zugang zum Bürgerkriegsgebiet. Viele der reichen Elite aus der Tigray-Region im Norden entmach- sieben Millionen Einwohner*innen sind auf der Flucht. tete – jener Elite, die 1989 in der Tigrinischen Volksbefrei- Gut 60 000 haben es bisher in den Sudan geschafft. ungsfront (TPLF) das brutale Mengistu-Regime gestürzt und dann die Macht im Staat übernommen hatte.

Die früheren Profiteure des Regimes sind gefährliche Gegner. Abiy hat bereits einen Anschlag und einen Putsch- Hintergründe im Podcast: versuch überstanden. Vor allem im Militär, dessen kor- Der Autor Marc Engelhardt im Gespräch rupte Geschäfte durch Ermittlungen der Regierung mehr mit Simon Berginz: surprise.ngo/talk

«Nach so viel Hoffnung kommt so viel Leid»

Der Krieg in der Tigray-Region bereitet auch den Äthiopier*innen in der Schweiz grosse Sorgen. Manche beziehen klar Stellung, andere wünschen sich ein vereintes Äthiopien. Stimmen aus der Diaspora.

«Ich dachte, jetzt kommt die Demokratie»

«Als Abiy an die Macht kam, träumte ich davon, nach Äthiopien zurückzukehren, ich dachte, jetzt kommt die Demokratie, der Frieden und alles wird gut. Wie naiv. Ich habe Angst, dass alles noch schlimmer wird, dass sich der Krieg wieder ausweitet nach Eritrea, aber auch in den Sudan.»

SEMERE M.*, 38, Tigray, aufgewachsen in Adigrat, lebt seit fünf Jahren in der Schweiz.

* Name geändert

«Die Tigray-Herrschaft hat alles kaputtgemacht»

«Vor dreissig Jahren spielte es keine Rolle, wer du bist, welche Sprache du redest, es gab nur eine einzige Flagge, die äthiopische. Dann kam die Tigray-Herrschaft, sie hat alles kaputtgemacht, hat uns zu Separatist*innen und Rassist*innen gemacht. Früher war der Mensch wichtig, jetzt zählt bloss: Bist du Tigray, bist du Omoro, bist du Amhara, bist du ein Somali? Es ist fürchterlich.»

MAKEDA N.*, 36, Amhara, aufgewachsen in Dese, lebt seit vier Jahren in der Schweiz.

Insgesamt 60 000 Menschen mussten bisher infolge des Tigray-Konfliktes aus Äthiopien in den benachbarten Sudan flüchten. Wie deren Zukunft aussieht, ist ungewiss.

«Wir müssen den Opfern dieses Krieges eine Stimme geben»

«Die Kinder, die alten Menschen, die Frauen, die jetzt leiden müssen wegen des Krieges, das alles geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich kann gar nicht anders, ich muss mich politisch engagieren, auch wenn es gefährlich ist. Wir dürfen nicht schweigen, müssen den Opfern dieses Krieges eine Stimme geben. Wir organisieren Demos, es ist wichtig, dass wir jetzt zusammenhalten, speziell wir Oromo und Tigray. Eigentlich gibt es nur eines: Präsident Abiy müsste sich mit den Oppositionellen und der Tigrinischen Volksbefreiungsfront an einen Tisch setzen, sie müssten miteinander reden und verhandeln. Ob das realistisch ist? Ich weiss es nicht, ich weiss nur, eine andere Lösung gibt es nicht. Sonst wird es immer so weiter gehen, das Ganze wird nie ein Ende haben.»

ASMERON M.*, 32, Oromo, aufgewachsen in Goba, lebt seit sechs Jahren in der Schweiz.

«Alles ist beim Alten»

«27 Jahre wurden wir von den Tigray beherrscht und unterdrückt. War man nicht einer von ihnen und redete man nicht ihre Sprache, bekam man keine Arbeit, musste untendurch. Und jetzt? Alles ist beim Alten. Abiy Ahmed, der neue Präsident, hat den Vermittler gespielt, hat dafür sogar den Friedensnobelpreis bekommen. Was für ein Witz! Er ist um keinen Deut besser, er belügt die Menschen und veranstaltet Massaker. Manche sagen, das sei deswegen, weil er Oromo ist. Das glaube ich nicht. Würde morgen ein Amhara an die Macht kommen, es würde keinen Unterschied machen. Ich habe Angst um mein Land, ich fürchte, es wird zerfallen.»

GEBRE T.*, 31, Oromo, aufgewachsen in Addis Abeba, lebt seit acht Jahren in der Schweiz.

«Sie werden verfolgt, haben nichts zu essen, müssen draussen schlafen»

«Ich bin halb Oromo, halb Amhara, deswegen bin ich hier in der Schweiz auch nicht in Gruppen, die entweder nur aus Oromo bestehen oder nur aus Amharen. Ich finde es auch nicht gut, wenn sie ihre eigenen Fahnen haben, sich voneinander abgrenzen, wir sind doch alle Äthiopier*innen. Ich habe keine Arbeit und deshalb viel Zeit zum Nachzudenken, was jetzt mit all den Menschen in der Tigray-Region passiert, sie werden verfolgt, haben nichts zu essen, müssen draussen schlafen. Das alles bereitet mir grosse Sorgen.»

NESANET A.*, 34, Oromo-Amhara, aufgewachsen in Addis Abeba, lebt seit 6 Jahren in der Schweiz.

«Es war von Föderalismus die Rede»

«Als Abiy Ahmed vor drei Jahren an die Macht kam, hat er von Föderalismus geredet. Das ist eine schöne Idee, mir gefällt sie: Wir akzeptieren einander wie wir sind, lassen einander in Frieden, wir helfen einander, wenn wir Not ist. Doch nun frage ich mich: Um welchen Preis? Als ich von den Massakern in der Tigray- Region hörte, als ich diese Videos sah mit all den Toten – Frauen, auch kleine Kinder waren darunter –, da konnte ich es nicht fassen. Nach so viel Hoffnung kommt so viel Leid! Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, denn ich bin Oromo wie unser Präsident. Doch mein Mann sagte, was können wir dafür? Die Familie einer Freundin von mir, die ebenfalls hier in der Schweiz lebt, kommt aus dem Osten Tigrays. Wochenlang hatte sie nichts von ihren Eltern und ihrem Bruder gehört, sie hatte grosse Angst, war unter Schock. Dann erfuhr sie auf Umwegen, dass sie in den Sudan geflüchtet sind. Dort sind sie noch immer, in einem Lager, es geht ihnen gut, sie leben.»

ALEMEE M.*, 31, Oromo, aufgewachsen in Nekemte, lebt seit fünf Jahren in der Schweiz.

«Es wird noch viele Probleme geben»

«Ich bin Eritreer, bin vor drei Jahren in die Schweiz geflohen. Wenig später gab es Frieden zwischen uns und Äthiopien, wir waren alle sehr erstaunt. Und glücklich. Aber jetzt? Die eritreische Armee ist in Tigray einmarschiert, sie töten dort unsere Nachbarn, aber auch die eigenen Brüder und Schwestern, denn viele Eritreer*innen mussten vor Jahren nach Tigray flüchten. Das ist nicht gut, es wird noch viele Probleme geben.»

KIDANE N.*, 28, Eritrea, aufgewachsen in Keren, lebt seit drei Jahren in der Schweiz.

«Über Politik aber reden wir nicht»

«Ein Bekannter von mir ist Separatist, ein Oromo, er wettert bei jeder Gelegenheit gegen die anderen, vor allem gegen uns Amharen. Das kann er machen, ich kann es ihm ja nicht verbieten. Über Politik aber reden wir nicht, wir würden uns doch nur streiten. Aber ansonsten haben wir es gut, wir machen Sachen zusammen, helfen einander aus.»

EREMIAS O.*, 39, Amhara, aufgewachsen in Addis Abeba, lebt seit zehn Jahren in der Schweiz.

Aufgezeichnet von KLAUS PETRUS

Nach Angaben des UNHCR wurden für die 20 000 Geflüchteten im Lager Um Racouba rund 3800 Zelte, 180 Duschen und 350 Toiletten aufgestellt. Die Lage sei, so das UN-Flüchtlingshilfswerk, nach wie vor prekär.

«Es herrscht Misstrauen»

Der Tigray-Krieg könnte die Diaspora spalten, befürchtet Migrationsbeauftragte Laurence Gygi. Doch es gebe auch Gegenstimmen.

INTERVIEW KLAUS PETRUS

Laurence Gygi, Anfang November letzten Jahres brach in der Tigray-Region im Nordwesten Äthiopiens der Krieg aus. Wie hat die äthiopische Diaspora in der Schweiz darauf regiert?

Der Grundtenor unter den Äthiopier*innen ist in meiner Wahrnehmung Enttäuschung und Entsetzen. Enttäuschung darüber, dass nach all den Hoffnungen, welche die neue Regierung unter dem neuen Premierminister Abiy Ahmed geweckt hat, nun ein neuer Konflikt das Land erschüttert. Und Entsetzen über die schiere Brutalität, mit der hier vorgegangen wird.

Was bereitet den Leuten am meisten Sorge?

Das kommt darauf an, wie stark sie selber betroffen sind. Es gibt Äthiopier*innen, deren Familienmitglieder werden nach wie vor vermisst oder wurden ermordet. Dass sie von hier aus nichts tun können, macht sie hilflos, lässt sie verzweifeln. Andere haben Angst davor, dass der derzeitige Konflikt bloss den Anfang einer lang andauernden Krise darstellt – manche befürchten gar einen landesweiten Bürgerkrieg. Das alles weckt schlimme Erinnerungen an jene Zeit, da sie selber noch in Äthiopien lebten oder fliehen mussten.

Die Berichte aus der Tigray-Region sind nach wie vor spärlich. Wie kommen die Leute aus der Diaspora zu ihren Informationen?

Manche sind in Kontakt mit Angehörigen, die in der Region leben, viele schauen al-Jazeera oder halten sich an äthiopische und eritreische Sendestationen, denen man allerdings je nach Standpunkt nicht sonderlich traut. Und dann sind da natürlich die Sozialen Medien, über die Informationen ausgetauscht werden. Was allerdings ein Problem sein kann.

Inwiefern?

Die Gefahr der Propaganda ist sehr gross, was unter den einzelnen Gruppierungen Misstrauen erzeugt. Zudem

sind viele dieser Informationen – YouTube-Videos zum Beispiel – sehr ungefiltert. Sie zeigen in aller Offenheit und Brutalität Plünderungen, Massaker und Vergewaltigungen. Ganz oft fehlt der Kontext, der helfen würde, das Geschehene einzuordnen. Das alles entwickelt dann eine Art Sog: Ich kenne Leute aus der Diaspora, die sich regelrecht verpflichtet fühlen, ihre Gemeinschaft fast rund um die Uhr zu informieren und die dann diese schlimmen Bilder nicht mehr loswerden.

Schwierig zu sagen. Die äthiopische Diaspora gilt gemeinhin ja als eine grosse Gemeinschaft: Man feiert, ungeachtet der Herkunft, Religion, Sprache oder Ethnie, gemeinsam Feste, geht an Hochzeiten und Begräbnisse. Und tatsächlich haben sich mir die Leute bisher immer als Äthiopier*innen vorgestellt. Neuerdings erwähnen sie aber, zu welcher ethnischen Gruppe sie gehören, ob Amhara, Oromo oder Tigray. Ich habe gehört, dass sich Äthiopier*innen, die sich früher in der Stadt oder am Bahnhof begegnet sind und miteinander geredet haben, nun eher Hat der Konflikt die Diaspora zusätzlich politisiert? aus dem Weg gehen. Smalltalk wird offenbar vermieden, In Teilen wohl schon. Wie gesagt, vieles wird auf den So- man möchte keine kritischen Themen ansprechen, da man zialen Medien ausgetragen und richtet sich vor allem an befürchtet, einen Streit zu provozieren oder zu spalten. die Landsleute – an jene zuhause, aber auch an die Dias- Einige verzichten sogar auf den Kirchenbesuch, der für pora weltweit. Auf diesen Kanälen sie nicht nur spirituell, sondern auch wird oft sehr klar Stellung bezogen für die eine oder andere Seite. Dane- «Smalltalk wird sozial ein wichtiges Ereignis darstellt. ben gibt es in verschiedenen Schweizer Städten wieder vermehrt Demons- vermieden, man Bahnt sich ein Streit an? Es herrscht zumindest Misstrauen. trationen, die sich an die Regierungen oder die Uno richten. Möglich, dass fürchtet einen Streit.» Und es gibt derzeit viele Fragen, von denen man nicht weiss, wie das Gemein Eindruck trügt, aber ich glaube, genüber zu ihnen steht: Was ist vom auch diese Anlässe sind schon entlang LAURENCE GYGI Krieg in Tigray zu halten? Ist er wirkder ethnischen Gruppen organisiert. lich ungerecht? Wer genau hat ihn angezettelt? Wer hat die Massaker beViele Diaspora-Äthiopier*innen fohlen? Was ist mit den Zivilisten gescheinen mit ihrem Land stark schehen, wo sind sie jetzt? Und welverbunden zu sein, auch wenn sie che Rolle spielt Ministerpräsident schon seit Jahren in der Schweiz leben. Abiy beim Ganzen? Gerade auf SoziDas stimmt. Diese Menschen sind ja alen Medien kann man beobachten, nicht zum Vergnügen in die Schweiz wie aus «Freunden» plötzlich poligezogen, sie wurden von der alten, Tigray-dominierten tisch wie ethnisch motivierte Anhänger*innen der jeweils Regierung verfolgt oder sahen in ihrem Land schlicht anderen Kriegspartei werden. Eine Frau sagte zu mir, sie keine Perspektive mehr. Trotzdem lieben sie ihre Heimat, habe jetzt Angst, abends allein von der Arbeit nach Hause die jahrtausendealte Geschichte, sie vermissen die Spra- zu gehen, denn in Amerika hätten sich seit Kriegsbeginn che, Kultur, ihre Familien. Die meisten, die ich kenne, wür- Äthiopier*innen gegenseitig umgebracht. den sofort zurückkehren, gäbe es in ihrem Land nur Sicherheit und Demokratie. Gibt es auch Leute aus der Diaspora, die sich aktiv gegen

eine mögliche Spaltung der Community wehren?

Tatsächlich erlebt man auch als Journalist immer Ja, diese Erfahrung mache ich durchaus auch. Es sind vor wieder, dass Geflüchtete aus Äthiopien und Eritrea sehr allem Amharen, die sich gegen eine Spaltung aussprechen. zurückhaltend sind, wenn es um politische Äusserungen Allerdings muss man hinzufügen, dass sich gerade sie aufgeht; zumindest möchten sie ihren richtigen Namen grund ihrer Stellung mit der Idee eines Vielvölkerstaats nicht in der Zeitung lesen. Teilen Sie diese Einschätzung? wohl leichter tun. Immerhin ist ihre Sprache die offizielle Ja, die Vorsicht ist immer da und gross. Die Gründe dafür Hochsprache Äthiopiens. Auch haben sie das jahrtausensind allerdings sehr unterschiedlich: Manche möchten dealte äthiopische Kaiserreich ethnisch wie kulturell stark öffentlich nicht Stellung nehmen, weil sie Angst vor nega- geprägt. Das unterscheidet sie von anderen Volksgruppen tiven Reaktionen aus der Diaspora haben. Das kann man wie Oromo oder Tigray, die immer wieder für ihre politische auch gegenwärtig beobachten, wenn es um den Tigray-Kon- Gleichstellung kämpfen mussten und die der Idee eines flikt geht, wo die Meinungen sehr kontrovers sind. Andere eigenen Staates entsprechend mehr abgewinnen können. möchten sich gegenüber der Regierung in ihrem Heimatland bedeckt halten, weil sie keinen gefestigten Aufenthaltsstatus haben und befürchten, irgendwann nach Äthi- ZVG Laurence Gygi, 55, ist seit 2006 opien zurückkehren zu müssen. Wieder andere wollen sich nicht exponieren, weil sie ihre Familien zuhause keinen FOTO: Migrationsbeauftragte der Reformierten Kirchgemeinde Wohlen/BE und seit zusätzlichen Gefahren aussetzen möchten. 2015 zudem Koordinatorin der Wohlener Flüchtlingsarbeit.

Droht nun auch der äthiopischen Community in der Schweiz eine Spaltung?

Inzwischen gibt es in Um Racouba auch Schulen für Kinder und Jugendliche. Fast die Hälfte der 20 000 Geflüchteten im Lager ist unter 18 Jahren.