6 minute read

Pandemie

Pandemie Das Corona-Virus macht krank. Was ebenso auf der Hand liegt, aber wieder vergessen zu gehen scheint: Eigentlich wäre es ein Anstoss, gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten zu überdenken.

Vielleicht werden wir nicht mehr die Gleichen sein

Das Corona-Virus hat eine schmerzliche Lücke in unseren Alltag geschlagen und uns an den Rand der Katastrophen gebracht, die unter der Oberfläche schlummern. Es hat uns aber auch näher ans Menschsein herangeführt.

TEXT SERAINA KOBLER ILLUSTRATIONEN KLUB GALOPP

Gestern Abend brannte das Feuer wieder. In der Mitte der Gartenstadt-Siedlung gibt es eine weitläufige Fläche. Piratenspielplatz wird sie von den Kindern rundherum genannt. Wenn sie ganz klein sind, dann krabbeln sie durch den tiefen Kies und wühlen in den Steinen. Irgendwann klettern sie dann auf die sieben Meter hohe Plattform, sozusagen der Ausguck des Schiffes. Von dort oben sehen sie über die gelben Häuser mit den vielen Giebeln, Erkern und Ziegeldächern. Die Siedlung ist ein wenig wie ein eigenes Dorf im Quartier. Und in diesem seltsamen Pandemie-Jahr wurde sie noch viel mehr. Als wir uns oft wochenlang nur noch im Dreieck zwischen Sportplatz, Lebensmittelladen und dem Zuhause bewegten. Da wurde die Siedlung Dreh- und Angelpunkt unserer Welt. Im Sommer, als wir das Meer vermissten, in dieser kurzen Atempause, die uns der erste Lockdown verschafft hatte, reihten wir Holzbänke und Stühle auf dem Trottoir aneinander. Kochten Pasta und Melanzane oder was einen gerade an den Süden erinnerte und lauschten abends den Musiker*innen, die – coronakonform – zwischen den verschiedenen Gruppen hin und her gingen. Irgendwann im Winter sind wir müde geworden. Sehr müde. Und dann, als die Dämmerung schon wieder jeden Abend etwas länger am Himmel glühte, sah ich das Feuer brennen.

Jemand hatte Holz mitgebracht, jemand anderes briet Würste auf dem Feuer. Rundherum spielten die Kinder in der Dunkelheit. Niemand hatte so richtig miteinander abgemacht, aber alle waren dankbar für diesen kurzen Moment des Beisammenseins. Mit Abstand, natürlich. Und frischer Luft. Schliesslich wohnten wir ja alle hier. Mittlerweile brennt das Feuer immer öfters. Selbst wenn das Abendessen gerade fertig ist, dann packen wir es ein und nehmen es mit raus. Es gibt Dinge, die sind in diesem Jahr so kompliziert geworden, wie eine Ausfallsentschädigung anzumelden. Andere waren schmerzhaft. Als der Vater eines Freundes starb, mussten er und sein Bruder entscheiden, wer sich in echt von ihm verabschieden darf, weil nur noch einer Zutritt ins Krankenhaus erhielt. Ich denke an all die stillen Beerdigungen im engsten Kreis. Das Virus hat den Verstorbenen die Möglichkeit einer würdigen Abdankung geraubt. Den Trauernden das trostspendende Totenmahl. Eine von vielen Facetten der Lähmung, die uns auch als Gesellschaft immer wieder ergriff.

Das weiche Kissen der Zivilisation

Das Jahr hatte schon so angefangen. Nachts rüttelten und zerrten die Winde an den Fensterläden. Bianca. Petra. Sabine. Sturmtiefs wie Vorahnungen, die mitten im Winter schwülwarme Luft brachten. Am Dreikönigstag gab ich das Manuskript meines ersten Romans ab. Eine nahe Dystopie, die in einem vom Klimawandel gezeichneten Zürich spielt. Ich hatte viel recherchiert. Nachrichten von schmelzenden Eisschilden. Der heisseste Sommer. Der wärmste Winter. Und ein Himmel voller Flugzeuge, die sich wie ein breites Band pausenlos um den Globus schlangen. Wenn ich im Bett den gleichmässigen Atemzügen meiner Kinder lauschte, dachte ich über Kaskadeneffekte nach. Steigende Meeresspiegel. Versteppte Regenwälder. Das Ende der Evolution. Erst wenn ich mir eine Dokumentation über Pottwale oder indigene Völker im Amazonas ansah, konnte ich einschlafen. Und wenn ich wieder aufwachte, musste ich mich als Erstes von den verhedderten Kabeln der Ohrstöpsel befreien.

Doch im Grossen und Ganzen hatte ich mich daran gewöhnt, dass die Möglichkeit einer Katastrophe permanent präsent war. Viel eher wunderte ich mich darüber, dass es den anderen ganz offensichtlich nicht so zu ergehen schien. Wenn ich mit dem Fahrrad der Limmat entlang durch die Altstadt fuhr, vorbei an Reisegruppen und Pärchen, die Liebesschlösser an Brücken anbrachten, spielte ich im Kopf mögliche Szenarien durch. Dürren. Brände. Oder vielleicht auch nur eine einzige feindliche Zelle, die im Geheimen zu wuchern begann und mich aus dem Leben stossen würde. Dann war sie auf einmal da, die Katastrophe. Unsichtbar eingeflogen. Ohne Vorwarnung, dafür mit exponentiellem Wachstum. Und während ein paar hundert Kilometer weiter südlich die ersten Menschen im Fieber auf den Krankenhausfluren erstickten, schwante uns langsam, dass das weiche Kissen der Zivilisation, in das wir uns jederzeit fallen lassen konnten, mit einem Schlag bedroht war.

Im unendlichen Wirtschaftswachstum

Auf den ersten Blick sah es damals, in diesem ersten Frühling der Pandemie, aus, wie es an einem ganz normalen Morgen im Frühling aussieht. Ein paar Jungs spielten Rollhockey. Die Magnolien standen vor ihrer flüchtigen Blüte, die Natur war bereit für eine neue Runde. Erst nach und nach fiel auf, dass nur Geschwister und Familien beisammen standen. Die Schweiz war über Nacht zu einem Hochrisikoland geworden. Die Grenzen abgeriegelt. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich nicht mehr zu meiner Grossmutter, meinen Onkeln und Tanten, Nichten und Neffen, die in Deutschland nicht weit der Grenze leben. Ich dachte an den Lockdown, der am Nachmittag kommen würde. Lockdown. R-Wert. Social Distancing. Herdenim-

Wir fuhren mit dem Fahrrad nach Dübendorf, wo die aufgereihten Flugzeuge zum Symbolbild des Zusammenbruchs geworden waren.

munität. Worte, die in meinem Sprachgebrauch zuvor nicht existierten. In diesem Jahr hatte sich auch ihre Verwendung exponentiell vermehrt.

Die Pandemie verpasste unseren Tagen einen neuen Takt. Deren Höhepunkte darin bestanden, einen Kopfsalat, ein Stück Käse, Äpfel und dunkle Schokolade zu kaufen. Oder in der Dunkelheit ein paar verstohlene Runden zu drehen. Stillstand in der Multioptionsgesellschaft. Plötzlich war aber vieles klar, auch die Kanäle von Venedig, wo man jetzt kleine Fische sah, die am Boden herumflitzten, vor der Stadt gar Delfine statt der Kreuzfahrt-Giganten. Am Zürcher Hauptbahnhof watschelten Schwäne die verlassenen Perrons hinab. Wir fuhren mit dem Fahrrad nach Dübendorf, wo die aufgereihten Flugzeuge zum Symbolbild des Zusammenbruchs geworden waren. Die Schwachstellen unserer Zivilisation zeigten sich gnadenlos. Eine Wirtschaft, die auf unendlichem Wachstum basiert. Ständige Flugreisen. Die Auslagerung der Produktion. All das funktionierte plötzlich nicht mehr. Was wir der Natur antun, fällt irgendwann auf uns zurück. Und doch beuten wir Rohstoffe aus, kolonialisieren, reissen dabei die Grenzen zu anderen Lebewesen ein. Solange wir das tun, ist die nächste Zoonose nicht weit. Denn die Pandemie ist Symptom derselben Ursache wie die Klimakrise: unserem Lebensstil.

Fragend in Richtung Zukunft

Was wird bleiben? Das fragen wir uns, als wir am Feuer stehen. Jemand sagt, dass in ein paar Wochen, wenn alles wieder hochgefahren ist, selbst so ein spontanes Treffen nicht mehr einfach möglich sein wird. Wenn wir wieder durch unsere Leben hasten. Zuerst vielleicht noch gemächlich, vorsichtig. Doch dann werden wir zusehen, wie sich ein Ereignis ans nächste reiht. Ein wenig fürchte ich mich davor. Denn «normal» war es ja auch vorher nicht. Trotz allem öffnete sich während der Pandemie auch ein Blick in die Zukunft. Die Hoffnung wuchs, dass der «friendly reminder», den uns die Natur da schickte, als solcher erkannt wird. Die Krise hat gezeigt, wie schnell Regierungen weitreichende Entscheidungen zum Schutz von Menschen treffen können. Die Menschen haben gezeigt, wie viel Kraft und Kreativität sie an den Tag legen können, um füreinander da zu sein. Solidarität war plötzlich nicht mehr nur ein politisches Schlagwort, sondern Tausende von brennenden Kerzen auf dem Bundesplatz. Einkaufsdienste für Nachbar*innen in Quarantäne oder an Zäune gebundene Plastiktüten mit haltbaren Lebensmitteln für jene, die diese gerade brauchten. Letztendlich war es nicht das relativ junge, erst mit der Sesshaftwerdung entstandene Besitzdenken, sondern es waren die Kooperationen, welche die menschliche Evolution über Hunderttausende von Jahren hinweg ermöglichten. «Alles ist Wechselwirkung», schrieb schon der Naturforscher Alexander von Humboldt. So gesehen ist die gegenwärtige Krise ein deutliches Zeichen dafür, dass die Verbindungen nicht mehr im Gleichgewicht sind. Nicht mehr zusammenpassen. Unsere Aufgabe wird sein, fragend in Richtung Zukunft zu gehen. Wird das Pflegepersonal weiterhin so schlecht verdienen? Werden wieder Kreuzfahrtschiffe mit 3000 Passagier*innen über die Weltmeere schippern? Werden wir weiterhin T-Shirts für CHF 4.99 kaufen? Schon heute liefert sich der Detailhandel eine Rabattschlacht. Es gibt viel nachzuholen. Die Lager sind voll. Doch vielleicht werden wir nicht mehr die Gleichen sein. Weil wir gemerkt haben, dass uns die ersehnten Schneeglöckchen vor der Türe, ein spontanes Beisammensein am Feuer und gegenseitiger Trost länger zufrieden machen als ein schneller Kauf.