4 minute read

Lösungsvorschläge

Wir hätten da ein paar Lösungen

Eine menschlichere IV ist möglich: 6 Vorschläge für eine Reform, wie sie Politik, Fachpersonen, Lobby- und Betroffenenorganisationen fordern.

TEXT ANDRES EBERHARD

1. Vom Markt- zum Staatsmodell Fast alle IV-Gutachten werden von selb- ständigen Ärzt*innen oder gewinnorien- tierten Firmen erstellt. Die Gefahr, dass diese ihren Auftraggebern einen Ge- fallen tun und kranke Menschen gesund- schreiben, ist gross. Denn die IV muss sparen. Öffentliche, unabhängige Spitäler sind schwer für die Aufgabe zu gewinnen. Man müsste sie dazu ver- pflichten. Nach viel Kritik will der Bund das «Staatsmodell» prüfen – in fünf Jahren. Kantone könnten IV-Gutachten schon jetzt in den Versorgungsauf- trag ihrer Spitäler integrieren.

2. Fakten gegen Mythen Mythen sind mächtig – aber oft nicht wahr. Nur 0,3 Pro zent der IV-Versicherten betrügen. Dennoch setzte die SVP mit der Scheininvaliden-Kampagne drastische Sparmassnahmen durch, die als Erfolgsgeschichte geprie sen wurden: «Eingliederung vor Rente». Bis eine Unter suchung zeigte, dass die Rückkehr ins Arbeitsleben fast nie gelingt. Was passiert mit den Menschen, die von der IV abgewiesen werden? Viele dürften in der Sozial hilfe landen – demnächst erscheint eine Studie dazu. Noch ein falscher Mythos: «Unklare Krankheitsbilder» galten lange als Grund, warum die Anzahl der IV- Renten stieg. IV-Bloggerin Marie Baumann wies darauf hin, dass der Bund das gar nicht wissen kann. Er führt die entsprechende Statistik nach einem uralten Standard. Der Nationalrat verlangt nun zeitgemässe Daten.

3. Gutachterunwesen stoppen

Die Gutachten bei der IV sind ein Problem. Das hat die Politik erkannt und Massnahmen zu Transparenz und Aufsicht beschlossen. Geprüft wird zudem ein flächendeckendes Zufallsprinzip bei der Vergabe. Falls ein Systemwechsel nicht gelingt (siehe 1), wäre zudem eine Beschränkung der Anzahl Gutachten pro Mediziner*in möglich sowie die Bedingung, dass diese*r zwingend auch Patient*innen therapiert. Viel bewirken könnte eine verhältnis-

mässig kleine Änderung im Gesetz.

In Artikel 16 ATSG steht, dass der Invaliditätsgrad (Höhe der IV-Rente) bei «ausgeglichener Arbeitsmarktlage» zu bestimmen sei. Auf dieser Grundlage argumentieren IVÄrzt*innen häufig, dass Versicherte

«in angepasster Tätigkeit» arbei-

ten könnten – auch wenn es die erwähnten belastungsarmen Stellen gar nicht gibt. Möglich gemacht haben das die Gerichte, die den

Gesetzestext als Verpflichtung zu

einer fiktiven Einschätzung der Erwerbsfähigkeit deuten. Die Gesetzgebung wollte mit dem Ausdruck ursprünglich aber lediglich die Zuständigkeiten zwischen IV und Arbeitslosenkasse klären. Ein Bericht der Nationalratskommission von 1999 legt nahe, dass vielmehr «normale Arbeitsmarktverhältnisse» gemeint waren.

4. Lobby bilden

Alleine gegen den Staat: So kämpft, wer sich gegen Entscheide der IV wehrt. Solange gravierende Missstände als Einzelfälle abgestempelt werden, wird sich am System nichts ändern. Die Betroffenen werden weiter stigmatisiert. Der Zürcher Psychotherapeut Armin Baumann hat darum eine Selbsthilfegruppe gegründet. Die Organisation Inclusion Handicap betreibt eine Meldestelle. Sie kann Druck auf den Bund ausüben und fordern, dass zu Unrecht Abgewiesene neu beurteilt und entschädigt werden. 5. Medizin statt Paragrafen Wer sich bei der IV anmeldet, muss seine Krankheit beweisen. Gelingt das nicht, gibt es keine Rente. Grund dafür ist, dass sich Gerichte verstärkt in Belange der Medizin einmischen. Invalidität sei eine Frage des Rechts, argumentieren sie. Als Folge davon zählen Berichte von behandelnden Ärzt*innen und Psychia-ter*innen vor Gericht wenig. Diese seien befangen und würden eher zugunsten ihrer Patient*innen aussagen, meint das Bundesgericht. Dagegen attestiert es den medizinischen Gutachten der IV «volle Beweis-kraft». Dies, obwohl manche der beauftragten Versicherungsmediziner*innen eher zugunsten der IV abklä ren. Das zeigen Statistiken zur Arbeit einzelner Gutachter*innen. Der Einfluss der Justiz bei der IV ist heute derart gross, dass die Mitarbeitenden der IV-Stel len medizinisch unklare Fälle immer auch der inter nen Rechtsabteilung vorlegen. Geschehe dies, gebe es kaum je eine Rente, erzählt eine ehemalige Kader-frau. Behandelnde medizinische und therapeutische Fachpersonen fordern nun mehr Einfluss bei der Abklä rung. Gerade psychiatrische Diagnosen liessen sich schwer in ein bis zwei Stunden fällen. Diskutiert wird für strittige Fälle ein runder Tisch, an dem IV-Ärztinnen, weitere in die Behandlung Einbezogene sowie Ein gliederungsfachleute sitzen. Eine weitere Möglich keit wäre, Patient*innen für eine gründliche Abklärung während zwei Wochen zu hospitalisieren. 6. Faire Abklärung statt Quote Die IV ist seit Jahren verschuldet. Weil Wiedereingliederung selten gelingt, müssen die IV-Stellen bei den Renten sparen. Der Druck kommt vom Bund. Nach viel Kritik vereinbart dieser nun keine Ziele für Rentenquoten mehr. Qualität sei wichtiger. Heisst: Die IV-Stellen haben das Okay, um jeden Fall fair abzuklären – auch wenn dies zu mehr Kosten und Renten führen sol- lte. Dass kantonale IV-Stellen sel- ber etwas bewirken können, zeigt derzeit die SVA Zürich. Sie setzt auf Transparenz und Einigung bei der Wahl der Gutachter*innen. Zudem setzt sie sich mit Patientenanwält*- innen an einen Tisch. Sie prüft etwa, ob Gutachten nicht nur an die IV, sondern gleichzeitig auch an die Versicherten geschickt werden kön- nten. Damit könnte verhindert werden, dass IV-Stelle und Gutachter*in korrespondieren, bevor Ver- sicherte davon wissen – eine potenzielle Quelle für Behördenwillkür.