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Der IV-Chef im Interview

«Bin kein Sparapostel»

Stefan Ritler ist der zuständige Aufseher des Bundes für die IV. Von der Politik wird er an Zahlen gemessen. Von den kantonalen IV-Stellen fordert er mehr Qualität. Geht das zusammen?

TEXT ANDRES EBERHARD FOTO KLAUS PETRUS

Erhalten Sie ab und zu Post von empörten Bürger*innen?

Ja, recht häufig sogar. Wir fragen dann bei der betreffenden IV-Stelle nach. Meistens fordern wir auch das Dossier ein. Dann geben wir der Person und der IV-Stelle eine Rückmeldung.

Dann kennen Sie bestimmt auch den Vorwurf, dass die IV auf Kosten kranker Menschen spare.

Das ist eine Unterstellung. Wir tun hier nichts Unrechtmässiges, sondern setzen den parlamentarischen Auftrag an der Front um. Ich bin kein Sparapostel. Das Gesetz regelt den Anspruch, eine Sparanordnung an die IV-Stellen gibt es nicht.

Das Gesetz will Eingliederung. Die gelingt aber oft nicht, wie Studien zeigen.

Unser Job ist es, die Menschen zu befähigen, dass sie nach Möglichkeit einen Erwerb erzielen können. Arbeit versprechen können wir aber niemandem.

Was passiert mit den Menschen, die von der IV abgelehnt werden oder ihre Rente verloren haben? Fachleute an der Front sprechen von sozialem Elend.

Viele haben die Erwartung an uns, zu wissen, was mit den Menschen passiert, die keine Leistungen bekommen. Das erstaunt mich, denn im ganzen System der sozialen Sicherheit ist das sehr schwierig zu wissen. Bei der Arbeitslosenversicherung oder bei der Sozialhilfe beispielsweise stellt niemand diese Frage. Wir sind aber bereits daran, ein Reporting aufzubauen. Demnächst erscheint eine Studie dazu, ob es Verlagerungen zwischen der IV und der Sozialhilfe gibt.

Und?

Es gibt Menschen, die rechtlich keinen Anspruch auf IV-Leistungen haben und davor oder danach Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe beziehen. Es gibt auch solche, die zuerst Sozialhilfe bezogen haben und danach stattdessen IV-Leistungen erhalten.

Also doch: Wer keine IV bekommt, landet in der Sozialhilfe.

Bestimmt nicht alle. Aber das gibt es natürlich, es ist in unserem Sozialsystem so angelegt. Die Hürden für IV-Rentenleistungen sind relativ hoch. Es braucht dafür einen IV-Grad von 40 Prozent oder mehr. Es gibt also Menschen, die zwar auf eine Weise eingeschränkt sind, dass sie Unterstützung brauchen, die aber trotzdem keinen rechtmässigen Anspruch auf eine IVRente haben.

Krank werden und dann trotzdem keine Unterstützung bekommen. Finden Sie das nicht schlimm?

Ich bedaure das persönlich, aber das demokratisch verankerte System sieht es so vor. Wir können eine Versicherungsleistung nicht als Fürsorgeleistung anbieten. Dafür ist die Sozialhilfe da.

Ihr oberster Chef, Bundesrat Alain Berset, ordnete auf politischen Druck hin eine Untersuchung gegen das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) an. Sie hatten für jeden Kanton festgelegt, ob dieser die sogenannte Rentenquote, also die Anzahl der Renten pro Einwohner*in, halten oder senken sollte.

Das wurde immer einvernehmlich festgelegt und diente als Diskussionsgrundlage. Es wurde ausserdem immer nur die Entwicklung im jeweiligen Kanton betrachtet. Die IV-Stelle kann die Entwicklung der Rentenquote in der Regel begründen. Die Verhältnisse in Genf und Appenzell sind nicht dieselben. Nun werden wir keine rein quantitativen Messwerte mehr vereinbaren und rücken qualitative Kriterien in den Vordergrund. Als Steuergrösse im Gesamtsystem wird die Rentenquote aber bleiben.

Also werden die Quotenziele gar nicht abgeschafft.

Ganz ohne Kennzahlen und Steuergrössen geht es nicht. Ich muss eine Finanzplanung machen und der Politik erklären können, wofür die 9,5 Milliarden Budget ausgegeben werden. Und auch, warum die Renten zunehmen oder abnehmen.

Das Grundproblem bleibt: Die IVStellen sind nicht neutral, wenn sie gleichzeitig sparen sollen. Im Zweifelsfall entscheiden sie für die Versicherung.

Nein, das dürfen sie nicht. Es gibt auch keine Sparvorgabe. Die IV-Stellen haben die verdammte Pflicht, in alle Richtungen zu prüfen und ihre Entscheide sachgerecht zu begründen. Das IV-Verfahren ist sehr komplex, in jedem Dossier sind zahlreiche Einschätzungen enthalten, von der Person selbst, von den behandelnden Ärzten, vom Arbeitgeber, von Eingliederungsfachleuten. Und wenn dann medizinische Aspekte noch unklar sind, gibt es einen Auftrag mit konkreten Fragen an externe Gutachter.

Die werden von Ihnen bezahlt. Sind es Gefälligkeitsgutachten?

Nein. Wenn es Widersprüche gibt im Dossier, ist es die Pflicht der IV-Stelle, diese Differenz zu erklären. Schafft sie das nicht, wird sie von den Gerichten verpflichtet, den Fall neu zu beurteilen. Es interessiert mich, welche IV-Stelle wie viele solche Rückweisungen erhält. Das ist ein Qualitätskriterium.

Sie machen einen Spagat. Selber werden Sie von der Politik nach Zahlen bewertet. Die IV-Stellen weisen Sie nun an, qualitativ besser zu werden. Wenn deswegen Kosten und Rentenzahlen wieder steigen: Geben Sie dafür Ihr Okay?

Klar. Ich werde nun immer an diesen Zahlen aufgehängt. Dabei sind mir qualitative Aspekte wichtiger. Ich will bei jeder Reklamation wissen, was das Problem ist.

Wie finden Sie die Idee, dass statt gewinnorientierter Ärzt*innen oder Firmen künftig der Staat für die Erstellung der Gutachten zuständig sein soll?

Das muss die Politik entscheiden. Persönlich bin ich nicht begeistert. Besser finde ich, sich vor einem Gutachten auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Also bei der Wahl des Gutachters. Das ist jetzt schon so und wird noch verstärkt. Das heisst: Wenn es ein externes Gutachten braucht, macht die IV-Stelle einen Vorschlag. Passt dieser dem Versicherten nicht, kann dieser einen anderen verlangen. Und man versucht sich auf einen Gutachter zu einigen. Es gibt schon heute IV-Stellen, die den Versicherten eine Liste mit Namen in die Hand geben und fragen: Wen wollen Sie? In diese Richtung muss es gehen.

Aber das Problem mit den Gutachter*innen hat doch System. Oft wird am Schreibtisch entschieden, wie die Fälle zeigten, die publik wurden.

Wegen solcher Fälle sind wir mit Inclusion Handicap in Kontakt. Die Organisation hat eine Meldestelle eingerichtet. Stellt sich heraus, dass ein Gutachter wiederholt Berichte verfasst hat, die vor Gericht nicht standhielten, nimmt die IV-Stelle ihn von der Liste.

Stefan Ritler (62) ist Vizedirektor und Leiter des Geschäftsfelds Invalidenversicherung des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV).