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Internationales VerkäuferPorträt

Internationales Verkäufer-Porträt

«Sie sind heute aber adrett»

«Ich bin in der Nähe von Mount Gambier aufgewachsen, in einer Region im Südosten Südaustraliens. Dort bin ich bis zur zwölften Klasse zur Schule gegangen. Allerdings hatte ich auf die Schule überhaupt keine Lust. Danach habe ich lange Zeit in Weinbergen gearbeitet, habe Äpfel gepflückt und war sogar Moderator einer Radiosendung.

Mein Familienleben war nicht sonderlich gut. Meine Eltern haben mich kaum unterstützt, weder in der Schule noch danach. Deshalb zog ich mit achtzehn zu meinen Grosseltern. Als sie ein paar Jahre später starben, verliess ich mein Zuhause. Ich fand es an der Zeit, aufzubrechen und für mich selbst zu sorgen. Also entschied ich mich, nach Melbourne zu ziehen. Ich kannte jemanden, der schon vor Jahren dorthin umgezogen war. Ich erinnere mich noch genau, als wäre es gestern gewesen: Es war der 5. Mai 2001, ein Samstag, als ich in Melbourne ankam.

Ich arbeitete als Erstes in einer Telekommunikationsfirma – da fand ich mich nicht so gut zurecht –, dann trug ich Zeitungen aus und verteilte Werbeflyer, später ging ich im Auftrag von Organisationen von Tür zu Tür und sammelte Geld für wohltätige Zwecke; darin war ich ziemlich gut. Ich war auch bei Kentucky Fried Chicken als Frittierkoch tätig und habe sogar ein Zeugnis als Büroangestellter.

2004 verlor ich meinen Job im Büro eines kleines Unternehmens. Damals lebte ich allein in einer Wohnung in Frankston. Mit der Zeit fiel es mir schwer, das Geld für die Miete aufzubringen. Ich hatte wirklich zu kämpfen und, ganz ehrlich, ohne Orte wie die Gassenküche hätte ich nicht gewusst, wie ich zu meinem Essen komme.

Das war auch die Zeit, als ich mich bei den Leuten von The Big Issue meldete. Ich weiss noch, wie ich mir am ersten Tag sagte: ‹Ok, Daryl, wenn du keine Hefte verkaufst, ist das nicht weiter schlimm, denn du fängst ja gerade erst an.› Aber dann lief es richtig gut. Ich hatte wieder etwas Geld und konnte mir manchmal sogar ein Stück Pizza leisten. Mit der Zeit durfte ich im Supermarkt Lebensmittel einkaufen, ich kam einigermassen über die Runden, konnte meine Rechnungen bezahlen und sogar einen Teil meiner Schulden begleichen. Es gab mir ein gutes Gefühl, wieder ein regelmässiges Einkommen zu haben. Irgendwie ist das auch eine Sache der Würde, wenn du merkst, dass du für dich selbst sorgen kannst.

Und so hat sich mein Leben zum Guten verändert. Ich habe weniger finanzielle Sorgen, kann mehr unternehmen und weiss, dass ich mich jederzeit an die Leute von The Big Issue wenden kann, falls etwas schiefgeht. 2018 habe ich sogar begonnen, Psychologie zu studieren. Ich interessiere mich sehr für die unterschiedlichen Therapieformen und lerne, wie Men-

Lange Zeit war Daryl arbeitslos, musste unten durch. Heute studiert der Mann mit dem aparten Filzhut Psychologie und hat eine gute Portion Selbstvertrauen.

schen denken und fühlen, je nachdem, wie sie aufgewachsen sind, was sie erlebt haben oder welchen kulturellen Hintergrund sie haben. Das Studium hilft auch mir selbst: Ich bin daran gewachsen und habe heute mehr Selbstvertrauen; tatsächlich bin ich schlauer, als ich mir das selbst je zugetraut habe. Das Studium hilft mir, nicht nur andere Menschen besser zu verstehen, sondern auch mich selbst. Ich bin jetzt an meinem Master in Sozialpsychologie und hoffe, dass ich später auf diesem Gebiet eine Arbeit finde.

Wenn ich das Strassenmagazin verkaufe, was ich immer noch tue, sprechen mich manchmal Leute an und sagen, wie toll sie meine Kleidung finden. Ich nenne den Stil viktorianischedwardianisch. Das ist so eine Art viktorianischer Gothic. Ich war mal Teil dieser Gothic-Szene. Dazu gehörte eine ganz bestimmte Ästhetik, die mich immer schon ansprach. Besonders viele Komplimente bekomme ich für meinen Filzhut, den ich wirklich gerne trage. Dann sagen die Leute zu mir: ‹Sie sind heute aber adrett› oder ‹Das sieht sehr modisch aus.› Darüber freue ich mich sehr.»

Aufgezeichnet von AMY HETHERINGTON Übersetzt von KLAUS PETRUS Mit freundlicher Genehmigung von

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So schützen wir uns beim Magazinkauf

Liebe Kund*innen Die Pandemie ist noch nicht ausgestanden. Weiterhin gilt es, vorsichtig zu sein und Ansteckungen zu vermeiden. Deshalb bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Bestimmungen des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand. Wo nötig tragen wir Masken. Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.