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Kino

chen und darum, Sichtbarkeit herzustellen. Wir möchten ein Festival für alle sein. Das ist leichter gesagt als getan, aber wir bekennen uns klar zu diesem Anspruch und stellen uns kritische Fragen, wie wir diesem Ziel näherkommen.

MvH: Ich glaube, es ist auch wichtig klarzumachen, dass der Theaterbetrieb – und damit meine ich vor allem die Stadt- und Staatstheater in Deutschland, Österreich und der Schweiz – ein Betrieb ist, der auf den eigenen Sprachraum fixiert ist. Ein wahnsinnig wenig internationaler Laden im Vergleich schon nur zu jedem Kunstverein in einer Provinzstadt. Das liegt zum einen an der Sprachbasiertheit von Theater, zum anderen aber an seinen Strukturen und seinem Selbstverständnis. Dass jetzt mal Druck seitens marginalisierter Gruppen entsteht, ist höchste Zeit. Ich denke, wir überrepräsentieren bestimmte Themen im Verhältnis zu Bevölkerungsanteilen. Aber es braucht die Brenngläser, unter denen Sichtbarkeit für Themen hergestellt wird, die lange vernachlässigt wurden.

Wieso gehört die Politik ins Theater?

MvH: Mein Anspruch ans Theater wäre grundsätzlich, dass wir, als öffentlich geförderte Institutionen, Gesellschaft reflektieren sollten – könnten – müssten. Wenn man sich im urbanen öffentlichen Raum aufhält, spürt man permanent den Druck des Kapitalismus. Gehe ich dann in eine Kulturinstitution, fühle ich mich davon regelrecht befreit. Da ist ein Ort, wo ich plötzlich nichts mehr kaufen muss. In dem Moment fällt mir immer auf, was das für eine Chance ist. Das Theater sollte ein Ort gesellschaftlicher Reflexion sein, egal, wie politisch das dann auch ist.

«Es geht um Teilhabe und Sichtbarkeit.»

SARAH WENDLE, 38, studierte an den Universitäten Köln und Buenos Aires u.a. Geschichte und Politikwissenschaften. Ab 2013 war sie beim Rotpunktverlag Lektorin, Programmleiterin Sachbuch und kaufmännische Leiterin. Seit 2020 hat sie die Co-Leitung und Kaufmännische Leitung des Zürcher Theater Spektakels inne.

Gleichzeitig ist Theater etwas Sinnliches. Gibt es auch Produktionen, die vor allem emotional funktionieren?

SW: Es steht sicher nicht überall gross «Achtung, political content!» vorne drauf. Es sind auch leichte, sehr unterhaltsame Stücke dabei. Trotzdem findet man in vielen Produktionen ein politisches Substrat, auch Themen wie Umweltzerstörung oder Klimaveränderung fliessen ein. Und selbst in «Danse Macabre» von Martin Zimmermann – auf einer grossen Bühne für ein breites Publikum gedacht – geht es im Kern um marginalisierte Gruppen und Menschen am Rande der Gesellschaft.

MvH: Bei allem Politische-Themen-vorsich-her-Tragen, das ich praktiziere, darf man nicht vergessen: Am Ende arbeiten wir in der Unterhaltungsindustrie. Ich lade keine Stücke ein, die nur inhaltlich gut sind und ansonsten langweilig. Nature Theater of Oklahoma etwa machen ein WesternMusical. Da geht es sehr wohl trotzdem um Geflüchtete und um Umweltzerstörung. Aber erst mal ist das Kunst, und das gilt für

«Wir müssen ein Ort der gesellschaftlichen Reflexion sein.»

MATTHIAS VON HARTZ, 51, hat Ökonomie und Regie studiert. Er war u.a. Co-Leiter des Freie-Szene-Festivals Impulse und inszenierte an verschiedenen Stadt- und Staatstheatern. Seit 2018 Co-Leitung und Künstlerische Leitung des Zürcher Theater Spektakels. die meisten Produktionen, die wir eingeladen haben. Mapa Teatro zeigt ein Stück über Gewalt und Bürgerkrieg, von der Form her ist es aber am ehesten eine Revue. Wir haben wenig Brecht’sches Lehrstück. Wir haben aber sehr viel Unterhaltung mit politischem Content.

Sie integrieren auch Diskursformate und Debatten, Stammtische, moderierte Gespräche. Reicht das Geschichtenerzählen im Theater nicht mehr?

MvH: Diese Formate wollen etwas anderes. Es gibt sie, weil wir denken, dass das postkoloniale Programm eine Reflexion verdient. Als ich vor vier Jahren nach Zürich kam, gab es nicht viele Orte, an denen solche Gespräche öffentlich stattfanden. Man kann aber in einem mainstreamigeren kulturellen Ambiente Leute erreichen, die mit dem Seminar oder der Ringvorlesung an der Uni nicht erreicht werden. Insofern ist das auf der einen Seite eine Popularisierung von Diskursen, die die Kulturveranstaltung auch ein Stück weit als Vehikel nimmt, um einen Rahmen dafür zu bieten. Und auf der anderen Seite versuchen wir mit unseren Stammtischen die Brücke zu schlagen zwischen der Geschichte über die lokale Aktivistengruppe, die gegen Mining-Konzerne kämpft, und der bestehenden Realität. Es ist der Versuch, zu signalisieren, dass die Erzählung im Zuge von globalen Macht- und Konzernstrukturen durchaus mit einem realen Akteur vor Ort verbunden ist. Kunst muss das nicht können. Die lokale Relevanz und Anbindung machen wir deshalb durch Debatten und Gespräche deutlich.

CINEWORX FOTO:

Als die Blauhelme tatenlos zuschauten

Kino Im Drama «Quo Vadis, Aida?» sieht eine UN-Übersetzerin 1995 in Srebrenica das Massaker herannahen.

TEXT MONIKA BETTSCHEN

Juli 1995. Der Bosnienkrieg wütet bereits seit drei Jahren und spaltet die Ethnien. Die bosnisch-serbische Armee zieht die Schlinge um die Kleinstadt Srebrenica, die in einem Talkessel liegt, immer enger zu. Die meisten Serb*innen sind bereits geflüchtet. Die Stadt wird zu einer Enklave – und damit für die dort verbleibende bosnisch-muslimische Bevölkerung zu einer Falle.

Aida (Jasna Duričić), die vor dem Krieg Lehrerin war, arbeitet jetzt als Übersetzerin für die hier zum Schutz der Zivilbevölkerung stationierten niederländischen Blauhelme. In dieser Funktion begleitet sie Kommandant Thom Karremans und Major Robert Franken an Verhandlungen und erfährt aus erster Hand, dass sich die Lage in ihrer Heimatstadt weiter gefährlich zuspitzt. Sie befürchtet das Schlimmste für ihren Mann und ihre beiden fast erwachsenen Söhne. Von den Soldaten will sie wissen, ob die Leute nicht besser aus der Stadt fliehen sollten. Sie antworten ihr, die Menschen seien hier sicher. Eine folgenschwere Fehleinschätzung: Die bosnisch-serbischen Truppen dringen in die von den Vereinten Nationen errichtete Schutzzone und starten das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, das am Ende über 8000 Muslimen das Leben kostet.

Karremans fordert erfolglos Luftunterstützung der NATO an. Wenige Tage später drängen sich in der brütenden Sommerhitze Tausende Geflüchtete auf einem Gelände der UN-Schutztruppen in der Nähe von Srebrenica. Es gibt kaum Wasser oder Nahrung. Unter ihnen befindet sich auch Aidas Familie. In der fragilen Sicherheit der Schutzzone versuchen sie gemeinsam, sich für eine Flucht zu wappnen. Doch es kommt anders: Bewaffnete serbische Soldaten spazieren an den in ihren kurzen Hosen lächerlich wirkenden Blauhelm-Wachposten vorbei in das Gelände – unter dem Vorwand, nach bosniakischen Soldaten zu suchen, die Kriegsverbrechen begangen hätten und sich hier verstecken könnten. Männer und Jungen werden von ihren Familien getrennt und in Bussen abgeführt, während die Blauhelme tatenlos zuschauen. Aida versucht verzweifelt, ihren Mann und die Söhne in der Kommandozentrale der UN-Funktionäre zu verstecken.

Das unerbittlich erzählte Drama der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić verwebt das Schicksal ihrer eindrücklich von Jasna Duričić gespielten Hauptfigur Aida mit den Akteuren des Massakers: neben dem zögerlichen Colonel Karremans auch mit General Radko Mladic, dem «Schlächter von Bosnien», der 2017 für seine Gräueltaten vom UN-Kriegstribunal zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.

Žbanićs persönliche Betroffenheit äussert sich in «Quo Vadis, Aida?» in der dramatischen Zuspitzung der Ereignisse und in den symbolträchtigen Bildern – schon zu Beginn etwa, als ein Panzer die Stimmung eines friedlichen Sommermorgens zunichte macht. Oder als ältere Frauen vor Skeletten trauern, die in einem Massengrab gefunden wurden. «Nur weil wir bestimmte Dinge für unvorstellbar halten, heisst das nicht, dass sie nicht geschehen können», lässt sich Žbanić im Pressedossier zitieren. Mit «Quo Vadis, Aida?» knüpft die 1974 in Sarajevo geborene Filmemacherin auch an ihren ersten Langspielfilm «Grbavica» an, in dem ein bosnisches Mädchen herausfindet, dass sie das Ergebnis einer systematischen Vergewaltigung ist. «Grbavica» gewann an der Berlinale 2006 den Goldenen Bären. «Quo Vadis, Aida?» war 2020 für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert und lief erfolgreich an zahlreichen Filmfestivals auf der ganzen Welt.

Ende Juli dieses Jahres hat der scheidende UN-Gesandte für Bosnien und Herzegowina ein Gesetz erlassen, welches die Leugnung des Völkermordes in Srebrenica unter Strafe stellt, was derzeit für viel politischen Zündstoff sorgt. Die Aufarbeitung ist noch lange nicht abgeschlossen.

«Quo Vadis, Aida?», Regie: Jasmila Žbanić, mit Jasna Ðuričić, Izudin Bajrović, Boris Ler u.a., Bosnien und Herzegowina 2020, 104 Min. Läuft zurzeit im Kino.