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Festival

«Ein Ort, wo ich plötzlich nichts mehr kaufen muss»

Festival Matthias von Hartz und Sarah Wendle vom Zürcher Theater Spektakel sagen, wieso Politik ins Theater gehört. Und warum es trotzdem unterhaltsam sein soll.

INTERVIEW DIANA FREI

Sarah Wendle, Matthias von Hartz, Sie haben in Ihren Medienmitteilungen zum Theater Spektakel stark auf die sozialen Probleme im internationalen Kontext hingewiesen, die die Pandemie mit sich gebracht hat. Ich lese da ein grosses Mitteilungsbedürfnis heraus. Woher kommt es?

MvH: Ich glaube, unser Grundimpuls kommt daher, dass der Kontakt mit internationalen Künstler*innen uns eine andere Perspektive aufdrängt, als wir sie sonst im Alltag in Zürich haben. Wir alle haben in der Vorbereitung auf unterschiedlichen Ebenen mit Menschen auf anderen Kontinenten zusammengearbeitet. Da kriegt man schon mit, dass es vielleicht nicht die relevanteste Frage ist, ob die Restaurantterrassen nun offen sein sollen oder nicht. In den letzten eineinhalb Jahren hat sich der Diskursraum aber derart auf das Überleben in der eigenen Stadt oder im eigenen Land verengt, dass man froh ist, wenn man eine andere Perspektive einnehmen kann. Wir haben als Festivalleitung das Gefühl, darauf hinweisen zu müssen, dass eine extreme Ungleichheit herrscht, die nicht neu ist, aber in diesem Thema auf besonders abstruse Art und Weise deutlich wird. Wir wollen deshalb auch in unseren Diskursformaten Themen wie Verteilungsgerechtigkeit oder Impfgerechtigkeit eine Plattform geben.

Und wie schlagen sich die Themen in den Theaterproduktionen nieder?

MvH: Wir haben kein Stück eingeladen, das unmittelbar die Pandemie thematisiert. So funktioniert Theater ja sowieso nicht, es ist zu langsam für die unmittelbare Aktualität. Das Projekt von Mapa Teatro aus Bogotá wird aber thematisieren, wie es den Menschen in Kolumbien zur Zeit geht. Und es gibt durchaus Projekte, die einen expliziteren Bezug zur Pandemie-Situation ha-

Wie feiern wir das Leben – und wie die Toten? Die Installation «Arrivals + Departures» kann das Publikum mit Namen von jüngst geborenen oder gestorbenen Menschen bestücken (Bild rechts). Voll im Galopp: Western-Oper «Burt Torrido» (oben).

ben. Für «Not Standing in Place» haben Künstler*innen andere eingeladen, Monumente für die Landiwiese zu erstellen. Für heute, für Zürich. Manche davon praktizieren ein Gedenken an das letzte Jahr. Die Installation «Arrivals + Departures» besteht aus Ankunfts- und Abfahrtstafel, wie man sie vom Flughafen oder Bahnhof kennt. Man kann sie selbst interaktiv mit Geburts- und Sterbedaten bestücken, wenn man jemandes gedenken möchte. Das sind Beispiele eines sehr konkreten Umgangs mit Tod oder Verlust des letzten Jahres.

Das Thema Fragilität ist sehr zentral.

SW: Das war keine bewusste Entscheidung, hat sich aber über die Monate hinweg in unseren Programmentscheidungen als Thema herauskristallisiert, ja. Auf der Bühne des «Nord» zeigen wir über die Dauer des Festivals insgesamt vier Stücke von Frauen, also von Choreografinnen oder Regisseurinnen, die sich alle mit Fragen der Verwundbarkeit, Verletzlichkeit, aber auch Widerstandskraft auseinandersetzen. Ich würde nicht behaupten wollen, dass das «weibliche» Themen sind, aber ich glaube doch, dass Frauen sich dieser Themen mit einer anderen Offenheit, auch mit einem anderen Mut annehmen. Sie thematisieren den Umgang mit dem eigenen Körper ebenso wie den Leistungsdruck und gesellschaftliche Erwartungen. Etwa die argentinische Choreografin Marina Otero, die mit Mitte 30 ihren Körper bereits über jede Schmerzgrenze hinweg beansprucht hat und sich nun auf der Bühne von sechs splitternackten Männern darstellen lässt, während sie am Rand steht und ihre Lebensgeschichte erzählt.

Frau Wendle, Sie haben beim Theater Spektakel die kaufmännische Leitung inne und waren vorher Programmleiterin Sachbuch beim Zürcher Rotpunktverlag, der politisch links ausgerichtet ist. Was haben Sie davon an Themen und Interessen ans Theaterspektakel mitgebracht?

SW: Kurz gesagt ist es wohl einfach eine Neugier auf die Welt. Fragen von globaler

Vielfalt ohne Ausschluss

Mehr Uraufführungen gab es selten am Theater Spektakel: Zehn Weltpremieren

kommen zur Aufführung und insge-

samt über dreissig Projekte. Auf der SaffaInsel wird Akrobatik auf der Höhe der Zeit gezeigt, am Ufer legt ein kolumbianisches Schiff an und in der Werft wird eine WesternOper gesungen. Portugiesische Frauen tanzen Bolero, während Avatare aus Hongkong ihren Weg auf die Bühne der Roten Fabrik finden. An einigen Spielorten wird

ein Covid-Zertifikat verlangt. Es gibt eine kostenlose Testmöglichkeit vor Ort.

Die Open-Air-Veranstaltungen, die etwa einen Drittel des Programms ausmachen, lassen sich grösstenteils ohne Zertifikat besuchen. Um die kulturelle Teilhabe nicht am Geld scheitern zu lassen, werden SoliTickets vergeben. Wer sich den Vorstellungsbesuch nicht leisten kann, schreibt an contact@theaterspektakel.ch oder ruft an auf 0444151550 und gibt an, was sie oder er gerne sehen möchte. DIF

Zürcher Theater Spektakel, Do, 19. August bis So, 5. September, rund um die Landiwiese Zürich; dezentrale Spielorte im Tanzhaus Zürich, in der Gessnerallee und einzelnen anderen Orten in der Stadt theaterspektakel.ch Gerechtigkeit, aber auch ganz einfach von anderen Lebensrealitäten waren für mich schon immer sehr präsent. Der Blick hierauf war in meiner früheren beruflichen Station zentral, und beim Theater Spektakel erlebe ich viele Berührungspunkte. Wir sind eine Plattform für internationales, auch aussereuropäisches Tanz- und Theaterschaffen. Die gesellschaftlichen Realitäten in anderen Ländern werden in den Arbeiten unmittelbar greifbar.

Die Programmation ist immer die Entscheidung, wem man eine Stimme gibt. Beim Theaterspektakel ist der globale Süden sehr präsent, es sind Länder mit politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Wieso?

MvH: Zum einen liegt es in der Tradition des Festivals. Es wurde in den 1980er-Jahren gegründet, als der Welthandel bestimmend war und Fairtrade-Bewegungen aufkamen. Da wollte man eine internationale Gegenöffentlichkeit schaffen. Zum anderen hat mein Vorgänger, Sandro Lunin, sehr lange in Afrika recherchiert und kuratiert, daraus ergab sich ein grosser Schwerpunkt. Und mir ist es jetzt wichtig, diese Linie aus einer postkolonialen Perspektive heraus fortzusetzen. Ich habe schon vorher in Deutschland daran gearbeitet, und die Schweiz und Deutschland sind sich darin ähnlich, dass man sich erst mal auf der Oberfläche einredet, man sei ja gar keine Kolonialmacht gewesen. Um beim genaueren Hinschauen festzustellen, dass am Hafen Hamburg am meisten europäischer Kolonialhandel abgewickelt wurde, und über Schweizer Handelshäuser fand das genauso statt. Die Verstrickungen sind mittlerweile relativ offensichtlich. Das waren sie vor vier Jahren für viele aber noch nicht. Hier hat sich etwas verändert.

In den letzten Jahren sind auch Queer-Themen, Rassismus, Postkolonialismus, Inklusion und Barrierefreiheit sehr präsent geworden. Stimmt der Eindruck?

SW: Es hat sicher damit zu tun, dass es um Gruppen geht, die lange marginalisiert wurden, und damit, dass zunehmend – und zu Recht – ein gewisser Druck aufgebaut wird. Man stellt fest, dass es einfach nicht mehr geht, dass eine vermeintliche Mehrheitsgesellschaft den Diskurs derart dominiert. Es geht um Teilhabe am Spre-