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Lehre

Willst du nicht lieber eine Lehre machen?

Essay Der Autor ist dankbar, studiert zu haben, obwohl das nicht alle wollten. Es macht ihm aber Sorgen, wie wenige Arbeiter*innenkinder die Uni schaffen.

TEXT BENJAMIN VON WYL ILLUSTRATION MELANIE GRAUER

Willst du nicht lieber eine Lehre machen? Gut, du kannst auch nach der Kanti noch eine Lehre machen. Wäre nicht Wirtschaft das bessere Fach? Was willst du damit schon werden? Lehrer? Wie lange willst du eigentlich noch studieren?

Ihr Bezirksschülerinnen und Bezirksschüler seid die Elite von morgen. Ja, aber es wäre komplett vergeben, wenn Sie nicht an eine Uni gingen, Benjamin, Sie sind ein Kopfmensch, ein Intellektueller. Sie sind also nur an einem Kunststudium interessiert, wenn Sie daneben halbtags arbeiten können?

Mein Vater ist gelernter Karosseriespengler. Hätte ich einen handwerklichen Beruf ergriffen, hätte ihn das gefreut. Ich bin aber so ungeschickt, dass ich mir bis 30 schon einige Finger abgeschnitten hätte. Aber dann hätte ich doch auch das KV machen können? Auch dabei wäre ihm wohler gewesen. Doch ich ging an die Kantonsschule, gehörte dort zu jenen in der Klasse, die sehr viel redeten und mit jedem Fremdwort um sich warfen, das irgendwie zu passen schien. Es konnte mir nicht schnell genug gehen, zu den Menschen mit den Fremdwörtern, zum Bildungsbürger*innentum zu gehören. Heute hat mein Vater eine Lastwagen-Garage, und ich kann nicht mal Auto fahren.

Während des Studiums war ich der fidelste Bildungsbürger: viel reden in den Seminaren, viele Namen von Büchern nennen, Querverbindungen und waghalsige Thesen aufstellen. So wie das manche – nicht alle – Professoren und Dozenten ebenfalls taten (ich glaube, es ist vor allem ein Männerphänomen). In diesem Reden, bei dem man sogar über Samy-Deluxe-Songs so spricht, als wären es symbolistische Bilder, und klarmacht, dass man sowieso die Grenzen von allem Geschriebenen und Geschaffenen erkennt, ist unwichtig, ob man tatsächlich was sagt. Dass ich dann doch nur kurz studierte, fünf Semester, und nur bis zum Bachelor, bereue ich nicht. Sowieso habe ich gerade eine vergleichsweise bequeme gesellschaftliche Position als freischaffender Journalist und Autor und bin über die Massen gesegnet mit Privilegien und Anerkennung.

Den Grund, weshalb ich trotzdem diesen Text schreibe, sehe ich in der Statistik. Denn es ist ungewöhnlich, dass ich einen Uniabschluss habe – obwohl ich ein Mann bin, weitgehend hetero und meine Eltern Schweizer*innen sind. 2019 untersuchte das Bundesamt für Statistik «intergenerationelle Bildungsmobilität», ein Wortungetüm,

das wohl viele ausschliesst. Und genau darum ging es in der Untersuchung: Wie viele Kinder von Menschen, die eine Lehre gemacht haben, haben einen Uniabschluss? Wie viele machen Matur?

Die Zahlen erschüttern mich: Fast 85 Prozent der Studiertenkinder in meinem Alter haben eine Matur, drei von vier mindestens den Abschluss einer höheren Fachschule und fast zwei Drittel einen Hochschulabschluss. Dagegen gehöre ich zu den nur 23,7 Prozent mit Uniabschluss, deren Eltern eine Berufslehre machten. Wenn die Eltern gar keine Ausbildung nach der obligatorischen Schulzeit absolvierten, sind es sogar nur 15,8 Prozent. Die Untersuchung gibt eine Unschärfe von etwa fünf Prozent an. Und der Ausschluss endet natürlich nicht mit dem Abschluss, es wird weiter gesiebt, bis an die Spitze des Bildungsbürger*innentums: Einer Studie der deutschen Vertretungsprofessorin Christina Möller zufolge hatten 2017 nur 11 Prozent der Professoren und 7 Prozent der Professorinnen in Nordrhein-Westfalen Arbeiter*innen oder Langzeitarbeitslose als Eltern.

Es wird aber auch dazwischen gesiebt. Nun kommen mir die Geschichten in den Sinn von all den Menschen, die mir nahestehen oder nahestanden und nicht zu diesen erlauchten 23,7 Prozent gehören: Arbeiter*innenkinder mit Bock auf Bildung, Viellese-Attitüde und -Begeisterung, die es aber nicht bis zum Abschluss schafften. Weil es einen Unterschied macht, ob man zuhause vorgelebt bekommt, wie man auf Prüfungen lernt oder Arbeiten schreibt. Weil es einen Unterschied macht, ob das Zuhause als Lebensinhalt anerkannt wird oder nicht. Weil es einen Unterschied macht, ob man neben Uni oder Mittelschule arbeiten muss oder nicht. Und nein: Es ist nicht dasselbe, ob man arbeiten muss oder ob es halt noch ein schöner Ausgleich zum Unileben ist, im Kulturclub ab und zu an der Garderobe zu stehen. Mein bester Freund kann zwar aus dem Gedächtnis aus dem Briefwechsel existenzialistischer Philosoph*innen zitieren und war lange an der Uni, aber einen Abschluss hat er nicht. Mein*e Mitbewohner*in hat die Matur nachgeholt, das Studium dann aber abgebrochen. Ein sehr enger Freund am Gymnasium, den seine kosovarische Familie zum Aufsteiger erkoren hat, brach das Wirtschaftsstudium nach einem halben Jahr ab. Die Erinnerungen an die bangen Momente Ende Oberstufe. Eine Zehntelnote hat meiner damals besten Freundin gefehlt für den Fachmittelschulschnitt. Sie machte dann eine Lehre als Coiffeuse. Viele dieser Menschen haben sich gesellschaftliche Anerkennung erkämpft. Heute schreiben sie beispielsweise Kolumnen und haben Ämter. Sie werden gehört, haben ein Netzwerk und kulturelles Kapital. Doch wenn ein Job verloren geht, fehlt die Salbung eines Abschlusszertifikats. Plötzlich ist da wieder eine Glasdecke, und zum Bewerbungsgespräch gibt es bei aller Anerkennung keine Einladung, wenn im Feld «Anforderungen» halt «Hochschulabschluss» steht.

Nein, ich will lieber die Kanti machen. Ja, klar, natürlich geht das immer noch mit einer Lehre danach, theoretisch. Vielleicht würde ich mehr verdienen, aber das interessiert mich nicht. Lehrer will ich eigentlich wirklich nicht werden. Verdammt nochmal, ich studiere erst anderthalb Jahre.

Das waren alles Dinge, die ich so oder so mal gesagt habe. Einige Dinge häufiger, andere nur einmal. Aber wenn mein Leben ein Filmtrailer wäre, zusammengefasst auf neunzig Sekunden, kämen diese Sätze vor. Es waren wichtige Entscheidungen. Sie haben Schranken zwischen mir und meinen Eltern aufgebaut. Statt Filme mit Mel Gibson oder Meg Ryan (oder beiden) habe ich plötzlich das Werk von Jean-Luc Godard geschaut. Mir war dabei klar, dass manche im Bildungsbürger*innentum weltfremd sind. Dass einige Stützräder brauchen, um sich im realen Leben zu orientieren. Oder um sich den weniger Gebildeten verständlich zu machen. Ein bisschen wie Heilige in einer Religion – allerdings empfand ich die Heiligkeit dieser Professor*innen als rational, mit wissenschaftlicher Arbeit und dem schönen Wahren, dem wahren Schönen begründet.

Dass ein gebildetes Elternhaus bei meinen Mitstudierenden oft mit dem profanen Schönen einherging, war mir ebenfalls klar: ein Ferienhaus im Tessin oder auch Ecuador; Reisen, drei, sechs, zwölf Monate. Oder dass man Stipendien bekommt, weil die Familie – funny story – halt eigentlich zu den aristokratischen Bernburgern gehört. Oder dass es Stress nimmt, wenn die Eltern sagen: lieber in Ruhe studieren. Mach doch den Master an einer Universität im Ausland. Egal, wenn das vielleicht teurer ist.

«Es gibt keine Genies!», wurde mir in einem meiner Uniseminare beigebracht. Keine Dozent*innen sagen, dass sie sich besser fühlen, über andere erheben, als Intellektuelle inszenieren und anderen nicht auf Augenhöhe begegnen. Doch sie müssen sich gar nicht aktiv über andere erheben: So lange es etwas Erstrebenswertes ist, die Perspektive dieser Person zu erlernen, vielleicht sogar ihren Weg, solange man in ihrer Position sein will, begegnet man ihr halt nicht auf Augenhöhe. Und womöglich legen dozierende Uniassistent*innen und Postdocs eben gerade deshalb Wert auf ihre Distinktion, ihren bildungsbürgerlichen Auftritt, weil sie selbst in prekären Anstellungsverhältnissen oder beruflichen Sackgassen stecken.

Dann ist das Bildungsbürger*innentum die Alternative, das, was eine*n befreit von etwas, das man als elterliche Enge wahrnimmt. So schnell wie möglich, so weit wie möglich weg von zuhause. Wo Paulo-Coelho-Bücher im Regal stehen. Wo Mel Gibson als wirklich toller Filmemacher gilt. Wo ein Abend nicht deshalb ruiniert war, weil jemand einfach nicht verstehen wollte, dass man für eine Gesellschaftsanalyse Foucault gelesen haben muss. Dort war ein Abend ruiniert, wenn die Katze eine Zimmerpflanze umgegraben und reingekackt hat.

Eine Weile habe ich tatsächlich geglaubt, dass Theaterschaffende privat moralische Entscheidungen so reflektiert treffen, wie sie moralische Fragen auf der Bühne darstellen. Ich habe tatsächlich geglaubt, dass auch ihr Publikum – also eben die Bildungsbürger*innen – eine höhere Ethik vertritt. Letztlich bessere Menschen sind. Das tönt lächerlich, wenn ich das aufschreibe, aber so stark war diese Anziehung und mit ihr einhergehend die Polarisierung zwischen dem, was ich kannte, und dem bildungsbürgerlichen Versprechen. Dabei bedeutet Bildung in der Schweiz nicht zwingend Macht. Zwar war bis heute bloss ein einziger Bundesrat, Willi Ritschard, Arbeiter. Doch die Studierten mag man auch nicht in der Schweiz mit ihrer niedrigen Gymnasialquote. Seit ich geboren bin, wettern SVP-Politiker*innen auf die «classe politique», das «juste milieu», die «Bildungselite» oder wie sie es gerade wieder verschlagworten. Kulturausgaben, Universitätsetats sind unter Dauerbeschuss. Die Rechte münzt «Die da oben» gegen «Die da unten» um: Statt um Besitz geht es bei ihnen oft um Bildung. Sie reden mit der – kleiner werdenden – Mehrheit der Nichtstudierten gegen die Studierten an.

Ich verdiene heute weniger, als ich wohl verdienen würde, hätte ich eine handwerkliche Lehre gemacht. Vielleicht bleibt das auch so. Wahrscheinlich werde ich nie so viel verdienen wie Professor*innen, aber bin dankbar, keiner zu sein. Ich kann gut mit ihnen, verstehe ihre Bücher. Wenn ich ins Unigebäude eintrete, fühle ich mich wohl. Ich würde behaupten, ich kann mich in ihre Probleme hineindenken – aber auch in jene meines Vaters. Und das ist der Vorteil, das krasse Potenzial der Arbeiter*innenkinder: Wir können uns in mehr Welten, Ausdrucksweisen, Wertvorstellungen hineinversetzen. Das kann man in keinem soziologischen Uniseminar lernen. Aber anstatt dass dieser Wert anerkannt wird, spürte ich im Studium einen Druck, all das abzulegen und mich neu beschriften zu lassen. Das erzkatholische Weltbild meiner Grossmutter allerhöchstens noch zu sezieren, statt mit ihr zu sprechen, zu diskutieren und etwas mitzubekommen. Erst seit ich die Grenzen der akademischen Welt erkannt habe, bin ich diese Arroganz wieder los. Und ich glaube nicht, dass die Anziehung und die Arroganz allein aus mir selbst herauskamen.

Von all den fiesen Fragen hat mich die Frage «Wie lange willst du eigentlich noch studieren?» am härtesten getroffen. Ich habe zweieinhalb Jahre studiert, seit sieben Jahren arbeite ich. Die Frage hat mein Vater gestellt, ich nehme es ihm schon lange nicht mehr übel. Er hat das Beste gewollt. Doch seit ich die Statistik angeschaut habe, ärgere ich mich schon: Dass mein Vater diese Fragen gestellt hat, ist kein Zufall. Wir leben in einer Klassengesellschaft.