surprise Strassenmagazin 285/12

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Japaner in Not München. Vertreter von «The Big Issue Japan» sind zum Strassenmagazin BISS nach München gereist, um von dessen Modell der Festanstellung von Verkäufern zu lernen. In Japan ist die Not gross: Als Arbeitsloser erhält man nur drei bis fünf Monate Unterstützung, und auch die reicht kaum zum Überleben aus. Dazu seien die Scham und die Angst vor Diskriminierung ungleich grösser als in Europa, sind sich die Big-Issue-Gründer einig: So hätten zwei ihrer Verkäufer sich entschieden, lieber auf der Strasse zu sterben, als Sozialhilfe zu beantragen.

Rechte Frauen Hannover. Professorin Michaela Köttig forscht zu Frauen in der rechten Szene. Sie sagt, dass viele von ihnen eine klare berufliche und private Perspektive hätten – das anderslautende Klischee sei längst empirisch widerlegt. Der Frauenanteil in ultrarechten Cliquen liege zwischen 30 und 60 Prozent. Sie würden von vielen nicht als gefährlich wahrgenommen – und deshalb gezielt dazu angehalten, sich in Kindergärten, Schulen und Sportvereinen zu engagieren, um dort die rechtsextreme Ideologie an die nächste Generation weiterzugeben.

Verkaufsschlager Dalai Lama Glasgow. Die Beliebtheit des spirituellen Oberhaupts der Tibeter ist offensichtlich ungebrochen: Verkäufe von Strassenzeitungen auf der ganzen Welt schnellten mit seiner Heiligkeit als Cover Boy in die Höhe, viele waren ausverkauft. 1,1 Millionen Dollar verdienten Strassenverkäufer insgesamt weltweit mit der Ausgabe, in der ein exklusiv von Danielle Batist vom INSP geführtes Interview mit dem Dalai Lama erschien. Auch Surprise hatte dank ihm ausserordentlich gute Verkäufe. Wir sagen: Tuschitscheh!

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Zugerichtet Die andere Frauenquote Unschön, was der schöne junge Brasilianer seinen Opfern angetan hat. Mit einem Kumpel, dessen Identität er eisern verschweigt, beging er im Zürcher Langstrassenquartier zwei fiese Raubtaten. Eines der Opfer schloss gerade sein Velo ab, das andere erleichterte in einem Hinterhof seine Blase, als das Duo zuschlug, mit Fäusten, Füssen und Waffen. Im Detail sind die Taten Beispiele für Verhalten, das den Gerichten besonders sauer aufstösst: Selbst als der erste Geschädigte bereits zu Boden gegangen war, traktierte der Angeklagte ihn weiter mit Tritten in den Oberkörper. Im zweiten Fall hielt der Angeklagte das Opfer fest, während der Komplize ihm wiederholt mit den Fäusten heftig gegen den Kopf schlug. Und selbst als es flüchtete, aber stürzte, war noch nicht genug: Nun schlug auch der Beschuldigte zu. Mit einer Waffe, auf den Kopf. Je länger sich die Befragung des 22-Jährigen hinzieht, desto öfter sind aus dem Zuschauerraum Schneuzgeräusche zu vernehmen. Dort sitzen Hand in Hand die Mutter und die Ehefrau des Angeklagten. Auch von ihnen ist die Rede, sie sind unfreiwillig Teil des Prozesses. Die Verteidigerin führt aus, wie der neu Eingewanderte und frisch Verheiratete damals mit der Verantwortung überfordert war. Erst recht, als dann auch noch das Baby kam. Die Dinge entwickelten sich nach einem Standarddrehbuch männlicher Logik, dem Frauen schlecht folgen können: Probleme bei der Arbeit, Kündigung, Alkohol und Drogen, schliesslich Kriminalität und Gewalt. Nicht selten gegen die Frauen selbst. Nicht im vorliegenden Fall, aber der soziale Abstieg reicht ja auch. Die junge Familie konnte sich nach dem Stellen-

verlust keine eigene Wohnung mehr leisten und musste zur Mutter des Täters ziehen. Während sich Frau und Mutter um das Familienwohl kümmerten, zelebrierte der Angeklagte seinen Frust über den Statusverlust und stürzte ab. Als Motiv für seine Taten gibt er an, er habe die Krankenkassen- und Telefonrechnungen nicht mehr bezahlen können. Weibliche Angehörige sind zu oft unbeteiligte Opfer der männlichen Täter, Kollateralschäden mit einer Packung Taschentücher auf der Zuschauerbank. Ihre Schneuzer wachsen sich zu Schluchzern aus, diese bei der Urteilsverkündung je nach Strafmass in leises Weinen oder einen hysterischen Heulkrampf. Man kann versuchen, sich ihr Gefühlschaos auszumalen. Mit der Straftat hören sie ja nicht auf, ihre Söhne oder Männer zu lieben. Mit dem Urteilsspruch verlieren die Frauen zudem oft ihren unmittelbaren Lebensmittelpunkt, besonders wenn es Migrantinnen trifft. Andererseits müssen sie mit Enttäuschung und Wut über ihre Männer umgehen, die bei ihren Taten nicht an sie und ihre Zukunft dachten. Schliesst etwa unsere Brasilianerin ihren Räuber nach milden 18 Monaten wieder in die Arme – weitere 18 Monate wurden bedingt ausgesprochen – warten zehntausende Franken Gerichts- und Untersuchungskosten sowie Wiedergutmachungszahlungen. Den umgekehrten Fall gibt es praktisch nicht. Junge Familienmütter, die schwere Raubtaten begehen, sind extrem selten. Wie überhaupt weibliche Kriminalität eher selten ist: Das Bundesamt für Statistik verzeichnete 2010 bei allen Verurteilten eine Frauenquote von 15 Prozent. Aufholen sollten die Frauen hier lieber nicht. YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 285/12


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