KOMPASS Stadtmagazin Ausgabe 11 | 20

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Den da vorne mache ich mir heute Abend noch klar«, sagte Luisa. »Und wen nimmst du noch mit für ein bisschen Spaß?« Sophia guckte verdutzt, sie schaute sich im Club um und sah sportliche, junge Körper ekstatisch zum harten Beat der Musik tanzen, ja nahezu vibrierend und synchron bewegten sich die Menschen zu der dumpfen Techno-Musik. Ihr Blick wanderte durch den dunklen Raum, sie sah Menschen, die sich wild küssten, die Hände waren überall. Der Barkeeper reichte der jungen Blondine einen Drink »Ich muss bis neun Uhr arbeiten. Lust, dass wir uns danach mein Bett teilen?« Sophia wirkte sichtlich überfordert, sie verneinte höflich und verließ den Club, denn ihre Mitbewohnerin, mit der sie nur etwas tanzen wollte, war bereits mit einem Typen verschwunden. Sechs Uhr in der Früh war es, als sie sich auf den Weg nach Hause machte. Anscheinend eine Uhrzeit, in der die Nacht für viele erst beginnt, sie auf die Jagd gehen, ihre Triebe befriedigen und fremde Körper spüren. »Das ist also Berlin!, das ist die Freiheit, das Unkonventionelle, von dem alle schwärmen«, dachte sie sich, als sie Richtung Wohnung spazierte. Es war ihr erstes Wochenende in der Hauptstadt, ihre Mitbewohnerin wollte ihr das abenteuerliche Nachtleben der Partyszene schmackhaft machen. Ob das ihr Ding ist, wusste Sophia nicht … nicht nur die Party war schräg, irgendwie sind es auch die Menschen in der Stadt. In ihrem neuen Kollegenkreis hat keiner eine feste Partnerschaft. Das weiß sie, weil alle so offen darüber sprechen und dabei betonen, wen sie sich bei Tinder und anderen Portalen für den kommenden Abend klargemacht haben. »Komische neue Welt«, murmelte die 24-jährige Wahl-Berlinerin vor sich hin. Jede Nacht einen neuen Partner, Sex mit Fremden, wann immer man will. Unverbindlichkeit steht für Berlin. Dabei kam sie selbst aus einer kleinen Vorstadt Nähe München, das Studium war abgeschlossen, die langjährige Beziehung zum ersten Freund ging in die Brüche und sie wollte mal was Neues entdecken. Warum also nicht etwas Großstadtluft schnuppern? Dass hier anscheinend Monogamie gegen Polygamie eingetauscht wird, war ihr allerdings nicht klar.

Einsam, zweisam, dreisam? Warum monogam leben, wenn man auch mehrere Partner haben (und sogar lieben) kann? Fotos cookie studio // freepik.com

Für immer und ewig Die ganz große Liebe soll für immer und ewig halten. Die Hochzeit soll das Glück besiegeln. Auch heute noch binden sich viele Paare fest und hoffen auf ein gemeinsames Leben zu zweit (und ohne Störenfriede). Foto artisticfilms // pixabay.com

Berlin ist wild, Berlin lebt an vielen Ecken die freie Liebe und ja, feste Bindungen scheinen in einer Großstadt nicht so schnell zustande zu kommen, wie es in dörflicheren Gefilden der Fall ist. Aber: Auch in Berlin gibt es Menschen, die monogam leben. Vielleicht nicht so viele, wie anderswo. Kein Wunder, denn gerade hier tummeln sich viele junge Menschen, die auf der Suche nach Spaß, Abenteuer und Partys sind, voller Erlebnishunger und ganz unkonventionell prägen sie ein Bild dieser Stadt. Dazu gehören auch neue Beziehungsmodelle: Warum monogam leben, wenn man mit so vielen Menschen Sex haben kann? Warum sich binden, wenn man jeden Tag eine andere Person entdecken kann? Warum eine Wahl treffen, wenn man nicht weiß, was das nächste Match bringt? Warum treu sein, wenn Unverbindlichkeit so viel Spaß bringt? Polygamie ist keine Erfindung der letzten Jahre, sondern hat schon lange Hochkonjunktur. Nur ist es heutzutage so einfach wie noch nie, mit fremden Menschen intime Kontakte einzugehen. Zudem wird dieses neue, alte Beziehungsmodell gesellschaftstauglich, man redet darüber, es gibt kein Tabu mehr und offene Beziehungen scheinen so normal zu sein wie die Ehe. Und: Nicht nur in Berlin finden sich polygam lebende Menschen; auch in anderen Ecken Deutschlands finden sich immer mehr Menschen, die offene Beziehungen leben, egal welchen Alters und welcher sexueller Orientierung.

Polyamorie Polyamorie bezeichnet eine Form des Liebeslebens, bei der eine Person mehrere Partner liebt und zu jedem einzelnen eine Liebesbeziehung pflegt, wobei diese Tatsache allen Beteiligten bekannt ist und einvernehmlich gelebt wird. Das Herz mit dem Zeichen der Unendlichkeit als Symbol für Polyamorie. Wichtig: Polygamie ist klar zu unterscheiden von Polyamorie, bei der Frauen und Männer mehrere offen geführte Liebesbeziehungen eingehen. Foto Opensofias // wikimedia commons

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