KOMPASS Stadtmagazin Ausgabe 8 | 22

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ena war 27, als sie Nico kennenlernte. Es war Liebe auf den ersten Blick, so sagt sie. Zuvor hatte sie nur kurze Affären, nichts, was wirklich ernsthaft war und Zukunft hatte. Bei Nico war es jedoch ganz anders: Er ließ ihr Herz tanzen und ganz eindeutig war es die große Liebe, eben solch eine Beziehung, die für ewig hält. Zumindest dachte Lena das und erzählte dies auch ihren Freundinnen. Aber schon nach kurzer Zeit veränderte sich Nico: Er war nicht mehr der zuverlässige Partner, der verständnisvoll und fürsorglich war … wobei, manchmal war er das schon. Aber wenn ihn irgendetwas reizte, dann kippte seine Stimmung von jetzt auf gleich, er wurde unberechenbar und beleidigend. Wenn Lena sich zurückerinnert, so spricht sie von seinen zwei Gesichtern. Und weil es eben auch gute Zeiten gab, konnte sie ihn nicht verlassen. Zu groß war ihre Liebe – oder eben das Gefühl, was sie damit verbunden hatte. Als Nico seinen Job verlor, ging er immer häufiger feiern, trank viel Alkohol, zu Hause randalierte er und es kam auch mal vor, dass ihm die Hand ausrutschte. Aber auch dafür hatte Lena Verständnis und Erklärungen. Vor ihren Freundinnen und ihrer Familie erfand sie Ausreden für die blauen Flecke. Noch immer glaubte sie an die perfekte Beziehung, die vielleicht gerade nur eine Krise durchmacht und die man einfach nur zusammen überstehen müsse. Oder man nehme Natascha und Judith. Die beiden kennen sich seit der Schulzeit, sind beste Freundinnen, gingen gemeinsam durch dick und dünn. Dass Natascha eine stetige Unzufriedenheit mit sich trug, das wusste Judith. Sie meckerte viel, verglich sich viel mit anderen, gönnte anderen keinen Erfolg, war neidisch. Doch als Judith merkte, dass diese Missgunst auch sie betraf, brach etwas in ihr. Im Freundeskreis machte Natascha Judith lächerlich, lachte sie aus, wertete sich so selbst auf. Dennoch bliebt die Freundschaft vorerst bestehen, schließlich hatte es Natascha ja auch nicht ganz so einfach in ihrem Leben, sagte sich Judith immer wieder. Erst, als sie ihren Freund kennenlernte und die beste Freundin auch vor diesem versuchte, Judith niederzumachen, brach sie ohne Diskussion den Kontakt ab. Das, was Judith und Lena erlebt haben, bezeichnet man als toxische Beziehungen. Dabei handelt es sich um Bindungen zu anderen Menschen, die einem partout nicht guttun, in denen der andere einen nutzt, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Es sind Bindungen mit Menschen, die verletzend und vorwurfsvoll sind, sich nicht für das Wohlbefinden des anderen interessieren. Natürlich ist das nicht alles: Es gibt immer wieder auch gute Zeiten, denn sonst würde wohl kaum jemand so etwas über sich ergehen lassen. In Kurzform: Zuckerbrot und Peitsche. Und das Schlimmste: Toxische Beziehungen sind gekennzeichnet durch eine Unberechenbarkeit. Man weiß nie, wann die Stimmung kippt. Somit trifft einen das verletzende und erniedrigende Verhalten oft unvorbereitet und kann langfristige Folgen haben – für einen selbst, aber auch für die Bindung. Es gibt Menschen, die verharren Jahre oder sogar Jahrzehnte in solchen toxischen Beziehungen. Was unvorstellbar klingen mag, ist für einige Menschen jedoch Normalität. Warum bleiben sie in solch einer ungesunden toxischen Beziehung? Gibt es keine Freunde, keine Familie, die darauf hinweist, dass diese Beziehung dysfunktional ist? Oder sind diese Menschen in einer toxischen Beziehung glücklich?

Vorsicht, giftig! Beschimpfungen, Drohungen, Anschuldigungen – wer so etwas regelmäßig in einer Partnerschaft oder Freundschaft erlebt, sollte hinterfragen, ob er in einer toxischen Beziehung steckt. Foto Engin Akyurt // unsplash.com

ES IST LIEBE! Häufig wird das Verhalten des Partners nach außen hin und vor sich selbst gerechtfertigt und schöngeredet. Es sei alles gar nicht so schlimm, es gäbe Gründe und es sei ja auch nicht der Alltag. Und vor allem: Es ist die Liebe, die einen das alles aushalten lässt. Denn würde man daran nicht glauben, würde man die rosarote Brille abnehmen, dann wäre das, was man zu sehen bekommt – Machtspiele, emotionale Ausbeutung und Erpressung, Drohungen, Beschimpfungen – alles andere als schön und gar nicht zu ertragen. Somit schirmt das Wort Liebe alles ab und verdammt einen dazu, die Realität zu ignorieren, den Partner zu perfektionieren und die Beziehung zu idealisieren. Man hält an den schönen Momenten fest, vielleicht auch an der Anfangszeit, selbst wenn dies schon Jahre her ist. Früher war der Partner oder die Partnerin schließlich anders, also muss es auch einen guten Kern geben. Doch dieses Verhalten kommt nicht nur in der Partnerschaft, sondern auch unter Freunden oder sogar Kollegen vor. Immer dabei: die Rechtfertigung. Er oder sie hat es schließlich nicht so gemeint. Gerade in Freundschaften kommt immer wieder das Zeit-Argument zum Tragen: Man kenne sich schon so lange und so gut, so etwas muss halt verzeihbar sein. Dass Menschen sich aber ändern, einen nur ausnutzen oder benutzen, neidisch sind, bewusst verletzen wollen, um die eigene schlechte Laune regulieren zu wollen, all das wird ausgeblendet. Man weiß, was man an dem anderen hat und somit hält man die Bindung auch aufrecht. Einfach mal ein Auge zudrücken, nicht alles so ernst nehmen, einstecken können. Selbstwertprobleme Gerade Menschen, die ein abhängiges Beziehungsmuster und ein niedriges Selbstwertgefühl haben, verharren oft lange in dysfunktionalen Bindungen. Foto Racool Studio // freepik.com

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