TROTZDEM Dezember 2013

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GESCHICHTE GESCHICHTE

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Was Reichspropagandaminister Joseph Goebbels als „spontane Vergeltungsmaßnahme“ der Bevölkerung bezeichnete, war in Wahrheit von der NS-Maschinerie mit Duldung und auch Beteiligung der Bevölkerung gelenkt und geplant. Im Bild: Brennende Synagoge im 2. Wiener Gemeindebezirk

prozentuell am meisten Tote. Die skrupellose Vorgehensweise der österreichischen Protagonist­ Innen sollte selbst die NSDAPFührung beeindrucken.

75 Jahre danach

„Weltjudentum“: Der Begriff „Weltjudentum“ bezeichnet eine antisemitische Verschwörungstheorie, wonach ein fiktives Kollektiv, „die Juden“ bzw. das Judentum, die Weltherrschaft anstrebe oder besitze. „Volkszorn“ & Ernst vom Rath: Als Vorwand des von ihnen als angeblich spontanen Akt des „Volkszorns“ deklarierten Terrors nutzten die NationalsozialistInnen die Ermordung des Legationssekretärs an der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath , durch den erst siebzehnjährigen Herschel Grynszpan. Er wollte so auf die Abschiebung von 17.000 polnischen Juden und Jüdinnen, zu denen auch seine Eltern zählten, nach Polen aufmerksam machen.

Heute, 75 Jahre danach, scheint es, als ob es eine lange Zeitspanne wäre. Dabei sind 75 Jahre nicht einmal ein Menschenleben. Die Orte und Plätze der Geschehnisse sind nah, es sind die arisierten Kaufhäuser in denen wir einkaufen gehen, es sind die Wohnungen Wiens in denen 200.000 Juden und Jüdinnen nicht mehr leben, die zuvor ein wichtiger Bestandteil des öffentlichen Lebens der Stadt waren. Es sind die PolizeibeamtInnen die auch 2013 noch vor Synagogen stehen müssen um diese vor Übergriffen durch Rechte zu schützen. Gedenken ist kein Selbstzweck, sondern impliziert eine geschichtliche Verantwortung einer Gesellschaft. Eine Verantwortung, die nicht allein an das Erinnern und die Aufarbeitung der Ereignisse gerichtet ist, vielmehr richtet sie sich an die derzeitige Gesellschaft. Gedenken bedeutet wachsende Tendenzen rassistischer , antisemitischer und nationalistischer Natur aufzuzeigen, deren Auswirkungen klar zu titulieren und dafür Sorge zu tragen, dass es nie wieder zu Ausbrüchen von Gewalt gegen Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen kommen darf. Die Zäsur, die mit dem Pogrom im Herbst 1938 beschritten wurde, ist keine rein institutionalisierte gewesen. Wohl waren es hauptsächlich die staatlichen Organe, die die Verbrechen begingen, dennoch muss festgestellt werden, dass die damalige Bevölkerung es duldete, sich beteiligte und dem nationalsozialistischem Regime den nötigen Rückhalt gab um die

Taten durchführen zu können. Geschichte ist keine Einbahnstraße und deshalb ist auch die Beschäftigung damit essentiell. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte führte dieses Jahr eine nicht repräsentative Onlineumfrage mit 6000 europäischen JüdInnen durch. Die Beteiligten geben mehrheitlich an, dass sie eine Zunahme des Antisemitismus in ihrem Land beobachten. Vier Prozent der Befragten gaben sogar an, in der letzten Zeit tätlich angegriffen worden zu sein. Jede zweite jüdische Person in Ungarn und Frankreich denkt dieser Umfrage zufolge nach, das Land zu verlassen.

Antisemitismus Antisemitismus ist kein neues Phänomen. Seit 2000 Jahren begleitet uns dieser spezifische Rassismus. Die Hintergründe werden häufig mit wirtschaftlichen Motiven begründet. Während Juden und Jüdinnen im Mittlalter weitgehend aus dem wirtschaftlichen Leben ausgegrenzt wurden, blieben ihnen oft nur Geldgeschäfte übrig. Auch heutige Verschwörungstheorien, die in vielen Fällen starke antisemitische Denkmuster aufweisen, beziehen sich oft auf eine vermeintliche wirtschaftliche Kontrolle durch JüdInnen. Dieser Argumentation verfallen leider auch linksgerichtete Gruppierungen – so konnten sich vor allem im deutschsprachigen Raum, aber auch in New York am Ort der Entstehung der Bewegung, viele Occupy Gruppierungen nur mäßig von rechtsextremen Äußerungen und PolitikerInnen distanzieren. Die Zeitgeistbewegung, eine eindeutig antisemitische Vereinigung von VerschwörungstheoretikerInnen rund um Peter Joseph der von

einer faschistoiden Traumgesellschaft redet, hatten sich beispielsweise massenhaft bei Occupy eingebracht. Die daraus entstandenen Thesen mancher Occupyteilnehmer­Innen das „Weltjudentum“ wäre an der derzeitigen Krise schuld und Reden von Holocaustleugner­Innen auf Occupy-Veranstaltungen waren das Ergebnis. Beschuldigungen dieser Natur sind nicht nur augenscheinlich antisemitisch, darüber hinaus entbehren sie einer stichhaltigen Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse. Es ist einfach die „Schuld“ an der derzeitigen wirtschaftlichen Situation an einzelnen Personen oder Gruppen festzumachen. Eine sozialistische, linke Analyse kann aber nur bedeuten, dass es politische Strukturen gibt, die eine kapitalistische Ausbeutung durch Klassen möglich machen und Klassen haben keinen kulturellen oder religiösen Hintergrund.

Der Begriff „Reichskristallnacht“ wurde in Anspielung auf die vielen Scherben von den National­ sozialistInnen geprägt. Er ist eine zynische Umschreibung der Gräueltaten, die in der Nacht des 10. Novembers 1938 stattfanden.

Es liegt an uns! Die Feindlichkeit gegenüber Juden und Jüdinnen muss als eine spezielle Art rassistischen Denkens betrachtet werden, generell gilt aber, die steigende Tendenz zu Bewegungen, die versuchen über rassistische Konzepte Mitmenschen auszuschließen birgt eine Gefahr in sich, die schon einmal zu einem 9. November 1938 geführt hat. Es liegt an uns diese Entwicklungen aufzuzeigen und Bewusstsein für Geschichte und die damit einhergehende Verantwortung herzustellen. Oder um es mit den Worten von Primo Levi zu sagen: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“

Luca Tschiderer

Primo Levi: Primo Levi war ein italienischer Schriftsteller und Chemiker. Er ist vor allem bekannt für sein Werk als Zeuge und Überlebender des Holocaust. In seinem autobiographischen Bericht „Ist das ein Mensch?“ hat er seine Erfahrungen im KZ Auschwitz festgehalten.


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