Wie weiß ist Tel Aviv? | Baumeister

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Wie weiß ist Tel Aviv ? Tel Aviv bezeichnet sich selbst als „Weiße Stadt“ und gilt als Hochburg des sogenannten „Bauhaus-Stils“. Aber wie viel Bauhaus steckt tatsächlich in der israelischen Metropole? Unser Autor Ariel Genadt begibt sich auf Spurensuche.


81 Mitte der 1980er-Jahre entdeckte Tel Aviv das Potenzial seiner etwa 4.000 Gebäude, deren Gestaltung die Grundsätze der europäischen Moderne verkörpern. Seitdem vermarktet sie sich als Weiße Stadt und gilt als Hochburg des sogenannten „Bauhaus-Stils“. Im Laufe der Jahre wurde viel über diese Gebäude geschrieben, aber nur wenige Architekturkritiker untersuchten tatsächlich die ursprüngliche Oberflächentextur und Farbe der jeweiligen Gebäude. Die weiße Stadt Dabei stellt sich die Frage, wie weiß die weißen Häuser der Weißen Stadt tatsächlich waren. Dank des günstigen Wirtschaftsbooms seit den frühen 2000ern konnten viele der modernen Meisterwerke Tel Avivs saniert werden. Und dabei kam zum Vorschein, dass die Fassaden ursprünglich weitaus vielfältigere Farben, Texturen und Materialien vorzuweisen hatten als nur den typisch weißen Putz, den man in den 1980er-Jahren hauptsächlich vorfand. Tel Aviv war niemals eine komplett weiße Stadt. Der Mythos des „weißen“ Tel Avivs Ariel Genadt wurde laut Kritikern aus ideologischen ( Text ) Gründen als ein Ausdruck weißer männlicher Vorherrschaft von seinen Gründern und Architekten aufrechterhalten – ähnlich wie es ihre Zeitgenossen der Moderne in Europa taten.1 Ungeachtet dieser kulturellen Zusammenhänge könnte der Mythos auch einen weniger kontroversen Ursprung haben: Die europäischen Juden, die im frühen zwanzigsten Jahrhundert ins britische Mandatsgebiet Palästina auswanderten, wurden TITELTHEMA wahrscheinlich vom hellen Sonnenlicht des Nahen Ostens 10 0 JAHRE BAUHAUS geblendet. Diesen Hell-Dunkel-Effekt hielten die Einwanderer in ihren Schwarz-Weiß-Fotografien fest. So schrieb zum Beispiel der in Bessarabien geborene Maler und Schriftsteller Nachum Gutman (1898 – 1980) über Tel Aviv: „Licht gab es im Überfluss; es schmolz und verschluckte jede Farbe und Farbschattierung... Alle Volumen verloren ihre Reliefwirkung und mutierten zu Flecken. Wer sagt, dass der Orient farbenprächtig ist?“2 Zudem zeigen die Gemälde Gutmans und seiner Zeitgenossen, dass die sprichwörtliche Kleinstadt auf den Dünen keinesfalls weiß war. Über die Jahre hinweg wurden die Fassaden der 1930er-Jahre durch Staub, salzige Winde, Feuchtigkeit und Rußablagerungen in den Poren des Gipsputzes zersetzt. Und somit verblassten auch die Erinnerungen an ihr ursprüngliches Erscheinungsbild. Die Ausstellung „White City“ im Tel Aviv Museum of Art im Jahr 1984 war deshalb auch eine eindringliche Forderung, den architektonischen Wert dieser Gebäude anzuerkennen und ihren vernachlässigten Zustand zur Kenntnis zu nehmen.3 Durch die Verwendung von Fotografien aus der Schwarz-Weiß-Epoche und des Begriffs „White City“ ließ Kurator Michael Levin den Mythos wieder aufleben, der dem modernen Erbe der Stadt anhaftete. Mit diesem Narrativ erlangte die Stadt internationale Aufmerksamkeit, was wiederum zur Anerkennung von über 140 Hektar des Stadtgebiets als Unesco-Weltkulturerbe im Jahr 2003 führte.4 WEITER


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Auf den H채usern von Tel Aviv aus den 1930er- und 1940er-Jahren wurden Putze mit einer vielf채ltigen Farbigkeit und Textur aufgetragen. Im Bild sind von oben nach unten ein br채unlicher Kratzputz sowie ein gr체nlicher und ein orangefarbener Waschputz zu sehen.

FOTOS: ARIE L GE NADT

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83 Tel Aviv und das Bauhaus Zwischen der Weißen Stadt und den Idealen des Bauhauses bestand eine eher lose Verbindung, wie die Assoziation der Begriffe „Bauhaus“ und „Stil“ belegt, was wiederum der Philosophie der Schule widerspricht. Zwar hatten über 120 jüdische Architekten (einschließlich acht Frauen), die in den 1920er-Jahren aus Europa nach Palästina flohen, ein Studium an einer deutschsprachigen Universität absolviert, davon hatten aber nur sechs in Dessau studiert. Und davon arbeiteten nur drei Architekten in Tel Aviv.5 Diese drei Architekten konnten nur zwei Hauptaspekte ihres Studiums anwenden: Ästhetik, einschließlich volumetrischer Gestaltung und Oberflächenbehandlung sowie die ideologischen Entwurfsprinzipien von Hannes Meyer. Der von Walter Gropius entwickelte Studienschwerpunkt, der vorsah, Handwerk und Industrie zu vereinen, war im Palästina der 1930er-Jahre nicht von Bedeutung. Eine mechanisierte Industrie war praktisch nicht vorhanden, und die jüdischen Einwanderer, die Tel Aviv erbauten, mussten sich das Bauen mit Ziegeln und Beton oder das Verputzen von Wänden erst aneignen. Die Thematik des Bauhaus-Vorkurses, in dem die Studenten abstrakte Entwurfsaufgaben mit einem Fokus auf Volumen, Material, Textur und Farbe ausführten, konnte allerdings auch in Tel Aviv umgesetzt werden. Zudem förderten die Werkstätten für Malerei, Wandmalerei und Textilhandwerk das Feingefühl der Studenten für Farbe und Textur. Diese Aspekte galten keineswegs als „oberflächlich“, sondern wurden als integraler Bestandteil der volumetrischen Gestaltung angesehen. Waschputz, Kratzputz, Steinputz Da es in Palästina kein für moderne Bauweisen geeignetes Handwerk gab, wurden neue Arbeitsmethoden und Technologien aus Österreich oder Deutschland importiert und mit lokalen Materialien weiterentwickelt. Während viele Häuser in den 1920er-Jahren noch tragende Wände aus Sandstein besaßen, wurde in der Folge ein Kalziumsilikatziegel aus einer Verbindung von Sand mit Kalk hergestellt und zur Ausfachung sowie zur Verkleidung von Stahlbetonkonstruktionen benutzt. Die Oberflächen erhielten in den meisten Fällen eine Putzschicht, wobei vor allem ein dekorativer Zementputz inklusive seiner 15 lokalen Varianten zum Einsatz kam, den der tschechische Ingenieur Emil Teiner eingeführt hatte. Im Hebräischen werden bis heute die deutschen Bezeichnungen Waschputz, Kratzputz und Steinputz für die drei Hauptkategorien verwendet, die sich auf die verschiedenen Stufen der Oberflächenabreibung beziehen, mit der die mineralischen Zuschlagstoffe freigelegt werden.6 Keine dieser drei Putzarten war weiß. Als Zuschläge dienten lokaler Sand und Stein, zudem wurden transluzenter Sandstein, zerstoßene Muscheln und Glasstücke beigefügt, die der Oberfläche ein Glitzern verliehen. Daher hatten viele Häuser in Tel Aviv verschiedene Schattierungen in Beige, Grau, Rosa, hellem Grün oder in gebrochenen Weißtönen.7 Indem sie sowohl mit Textur als auch mit Farbe bei der Gestaltung ihrer abstrakten Baukörper arbeiteten, setzten die Architekten der 1930er-Jahre die Lehre einer Wechselbeziehung von Form und Farbe konkret um – unabhängig davon, ob sie am Bauhaus studiert hatten oder nicht. WEITER


84 Textur und Farbe Oberflächentextur und Farbe waren ein wichtiger Bestandteil der modernen europäischen Bauwerke, die Tel Avivs Architekten in den 1930er-Jahren beeinflussten. Dazu gehörten unter anderem Werke von Le Corbusier und Bruno Taut. Sowohl Le Corbusiers „Cité Frugès“ im französischen Pessac (1924) als auch Bruno Tauts Wohnviertel „Onkel Toms Hütte“ in Berlin (1926 – 1932) waren polychrom. Bei der Sanierung von Le Corbusiers „Maison La Roche“ in Paris (1925) im Jahr 2016 kam zum Vorschein, dass dessen Außenfassade ursprünglich cremeweiß war. Textur und Farbe waren auch ein zentraler Aspekt des Internationalen Stils, wie Philip Johnson und Henry Russell Hitchcock in ihrer Ausstellung im Museum of Modern Art im Jahr 1932 darlegten. Übereinstimmend mit der Bauhauslehre erläuterten sie, dass der Charakter eines Gebäudes nicht allein durch sein Bauvolumen, sondern auch durch sein Oberflächenmaterial wie zum Beispiel einem rauen Putz bestimmt wird. Die Wirkung der Schwarz-Weiß-Fotografien diente dabei nicht dem Anliegen der Kuratoren. Dies kann man aus den Begleittexten der Ausstellung ableiten, in denen die Häuser als blassgelb, rot oder gebrochen weiß beschrieben wurden. Zusätzlich enthielten die Texte eine Auflistung der Fassadenmaterialien wie Granit, Kalkstein und Ziegel. Diese Ideale wurden in Tel Aviv zeitweilig von Arieh Sharon, einem der bekannteren Bauhausabsolventen der Stadt, umgesetzt.8 Sharon hatte unter der Leitung von Hannes Meyer studiert und gearbeitet. Nach der Rückkehr in seine Heimat verwirklichte er zwischen 1931 und 1936 dreizehn Arbeitersiedlungen mit Gemeinschaftseinrichtungen und -gärten nach kommunitaristischen Entwurfsprinzipien. Auch wenn die Gestaltungsweise dieser Gebäude der weißen und sachlichen Ästhetik des Internationalen Stils nahestand, so entsagte Sharon später der Putzbauweise. Stattdessen wandte er sich einer lokalen Form des Brutalismus zu. Trotzdem stellen seine Arbeitersiedlungen ein wichtiges architektonisches Erbe des Bauhauses in Tel Aviv dar. Ihre Horizontalität kontrastiert mit der vertikalen „Objekthaftigkeit“ der Wolkenkratzer, die seit den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend die Skyline der Stadt dominieren. Sozialistische Ideale Als die Immobilienpreise der Stadt anstiegen und ein Bauboom einsetzte, wurden zeitgleich neue Verordnungen für die Sanierung alter Gebäude erlassen. Diese schufen finanzielle Anreize für Bauherren, die seitdem durch die Altbausanierung eine Genehmigung zum Bau zusätzlicher Geschossflächen für dasselbe oder ein angrenzendes Grundstück erwerben können. Das ermöglichte die Sanierung vieler moderner Meisterwerke, die sich in einem verwahrlosten Zustand befanden – und damit auch die Wiederherstellung der warmen Farben und Texturen der Originalfassaden. Es war also ausgerechnet die kapitalistische Marktwirtschaft, die jene Gebäude wiederauferstehen ließ, die in Zeiten streng sozialistischer Ideale geplant worden waren. Im Bereich der Neubauten entstanden während Tel Avivs Immobilienboom hauptsächlich Hochhäuser, die das architektonische Erbe und das lokale Klima der Stadt vollkommen außer Acht ließen. Richard Meiers Luxuswohnturm am RothschildWEITER


FOTOS: OBE N: ARIE L GE NADT; UNTE N: BAR ORIAN ARCHITEC TS

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Oben: Das Efroni-Haus von Shlomo Bernstein aus dem Jahr 1937 mit einem gebrochen weißen Kratzputz an der Fassade. Unten: Ein saniertes Gebäude aus den 1930er-Jahren inklusive einer zusätzlichen Aufstockung von Bar Orian Architects

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Richard Meiers Luxuswohnturm befindet sich an Tel Avivs Rothschild-Boulevard. Bei der Gestaltung der Aluminiumlamellen an der Fassade dienten die sogenannten „Trissim“ als Vorbild, die als Verschattungselemente von Terrassen und Loggien fungieren.

FOTO: ROL AND HALBE

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87 Boulevard aus dem Jahr 2016 ist dabei eine seltene Ausnahme.9 „Der Bau eines weißen Turms in der Weißen Stadt ist ein wahrgewordener Traum“, wie Meier sich ausdrückte. Damit bezog er sich wohl auf die Gelegenheit, an einem Ort zu bauen, wo seine repetitiven stilistischen Abwandlungen von Corbusiers Spiel mit weißen Bauvolumen letztendlich einen Bezug fanden. Gleichzeitig überrascht es nicht, dass Meier mit seinem Entwurf auf das mythische Weiß von Tel Aviv anspielte und jegliche nuancierte Oberflächentextur oder Farbe vermied. Die weiß lackierte Aluminiumverkleidung des Wohnturms sticht dabei aus seiner Umgebung mit ihren warmen Tönen heraus. Trotzdem passt sich das Gebäude mit seiner leichten und luftdurchlässigen Hülle an das Klima der Stadt und die ortstypische zeitgenössische Architektur an. Laut Meier wurde die Gestaltung der Aluminiumlamellen von den „Trissim“ inspiriert. Diese industriell angefertigten Plastik- oder Aluminiumrolljalousien werden in ganz Tel Aviv zur Abschirmung von meist illegalen Terrassen und Loggien benutzt.10 Meiers Lamellen erzeugen eine raffinierte und wohlproportionierte Verkleidung rund um die transparente Haut des Turms. Dieses ausdrucksstarke Element zur Klimaregulierung ist auch eine Anlehnung an den Architekturstil der 1930erJahre mit seinen breiten Traufen und Balkonen. Gleichzeitig greift es die Idee des Brise Soleil auf. Weiß und gebrochen weiß Auch wenn das Gebäude wenig mit den Prinzipien des Bauhauses verbindet, so ist es doch ein beispielhaftes Modell dafür, wie man Tel Avivs einzigartiger Sammlung moderner Architektur mit mehr Respekt begegnen kann. Die Identifizierung der vielfältigen und teilweise gegensätzlichen Aspekte des Bauhauserbes in Tel Aviv ist dabei ein wichtiger Schritt, um die moderne Stadtstruktur durch einfühlsamere Entwurfsstrategien zu erhalten und weiterzuentwickeln. Eine Unterscheidung zwischen weiß und gebrochen weiß mag dabei zunächst unerheblich erscheinen, doch die Oberflächenbehandlung einer Stadt legt wesentliche Wertvorstellungen offen. Die Anerkennung von Tel Avivs gebrochen weißer Architektur erfordert deshalb einen sensiblen Umgang mit der lokalen Identität. Dies ist unerlässlich für den Erhalt einer Stadt, die zu Recht stolz darauf ist, Menschen jeder Herkunft offenzustehen. Leatherbarrow. On

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architects in Palestine

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Aus dem Englischen

Weathering: Life of

Judith Turner und

1918 – 1948. Berlin:

Arieh Sharon, Kibbutz +

von Sigrid Ehrmann

Buildings in Time.

Michael D. Levin. White

E. Wasmuth, 2007: 10.

Bauhaus: An Archi-

Cambridge, MA: MIT

City: International

6

tect’s Way in a New

1

Press, 1993. Und Mark

Style Architecture in

Nitza Metzger-Szmuk,

Land. Karl Krämer Ver-

Zum ideologischen

Wigley. White Walls,

Israel. Tel Aviv: Tel Aviv

et al. Des maisons sur

lag Stuttgart und

Vorurteil der Weiße in

Designer Dresses:

Museum, 1984.

le sable, Tel Aviv: mou-

Massada Israel, 1976.

Tel Aviv siehe zum Bei-

The Fashioning of

4

vement moderne et

9

spiel: Sharon Rotbard.

Modern Architecture.

Siehe: whc.unesco.

esprit Bauhaus = Dwel-

www.meier.co.il/the-

White City, Black City:

Cambridge, Mass:

org/en/list/1096 (Ab-

ling on the dunes, Tel

architect (Aufruf: 11-2-

Architecture and War

MIT Press, 1995.

gerufen am 11-2-2019)

Aviv: Modern Move-

2019)

in Tel Aviv and Jaffa.

2

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ment and Bauhaus

10

London: Pluto, 2015.

Nachum Gutman und

Myra Warhaftig. They

Ideals. Paris: Eclat,

www.richardmeier.

Zum Vorurteil der Mo-

Shlomo Shva. City of

laid the foundation:

2004: 62.

com/?projects=

derne siehe: Mohsen

Sand and Sea. Ramat

lives and works of Ger-

7

rothschild-tower-2

Mostafavi, und David

Gan: Massada, 1979.

man-speaking Jewish

Ibid.

(Aufruf: 11-2-2019)


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