Avantgarde für ganz unten | Baumeister

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E Die Crest-Apartments in Los Angeles von Michael Maltzan Architecture stellen 64 Wohnungen für Obdachlose zur Verfügung.

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Avantgarde für ganz unten

des Bauträgers und Immobilienverwalters übernommen. Ausdrückliches Ziel ist es, die Obdachlosigkeit nicht nur zu reduzieren, sondern gänzlich zu beseitigen. Die Crest-Apartments im kalifornischen Van Nuys, eines der 26 realisierten Projekte des Trusts, markieren dabei einen entscheidenden Strategiewechsel des Unternehmens.

Der amerikanische Architekt Michael Maltzan ist durch ungewöhnliche Wohnungsbauten für Obachlose bekannt geworden. Sein neuestes Projekt sind die Crest-Apartments. Kritik Victor J. Jones In seinem autobiografischen Essay „Equal in Paris“ schildert der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin seine achttägige Odyssee durch das französische Strafvollzugssystem, nachdem er fälschlicherweise des Diebstahls bezichtigt und festgenommen worden war. Angesichts dieser persönlichen Erfahrungen verweist Baldwin auf die paradoxe Natur von Institutionen, insbesondere hinsichtlich des Umgangs mit armen und marginalisierten Bevölkerungsschichten: „Für mich hatte der Begriff ,Institutionen‘ einen angenehmen Klang nach Sicherheit und Ordnung und gesundem Menschenverstand, da wir jenseits des Ozeans meines Erachtens nach so schrecklich unter einem Mangel an Institutionen gelit ten hat ten; man musste direkt mit ihnen in Berührung kommen, um zu verstehen, dass auch sie veraltet, zum Verzweifeln, völlig unpersönlich und sehr oft grausam waren.“ 1

Architekten Michael Maltzan Architecture Auch heutzutage berichten besonders schutzbedürftige Personen über ähnliche Erfahrungen, wenn sie sich an Institutionen wenden, um Halt zu suchen. Ob körperliche oder seelische Traumata, psychische Erkrankungen, Drogenmissbrauch oder Armut – allzu oft spiegeln ihre Geschichten Baldwins Worte wider. Dieselben Verwaltungsstrukturen, die angeblich als verlässliche und sichere Anlaufstelle für bedür ftige Menschen gelten, sind gleichzeitig der Anfang eines endlosen Kreislaufs der Instabilität und Hoffnungslosigkeit. Die Betroffenen verzweifeln immer mehr, hin- und hergeschoben zwischen Krankenhäusern, Übergangsunterkünften und Gefängnissen – bis sie letztendlich auf der Straße landen. All diese Orte sind ein Nährboden für Missbrauch, Diebstahl und Gewalt. Chronische Obdachlosigkeit gilt als eines der eindeutigsten Anzeichen für diesen

Fotos Iwan Baan Teufelskreis. In den Vereinigten Staaten schlafen jede Nacht mehr als eine halbe Million Menschen auf der Straße, in Parks oder in ihren Autos. In Kalifornien gibt es fast 130.000 Obdachlose, die überwiegende Mehrheit in und um Los Angeles. Während sich früher Obdachlosigkeit in Los Angeles auf das innerstädtische Viertel Skid Row beschränkte, scheint nun jeder Winkel der Stadt betroffen zu sein. Und noch immer ist Entfremdung und Kriminalisierung die Standardreaktion auf die steigende Obdachlosigkeit in der Stadt. Dies könnte erklären, warum der Skid Row Housing Trust (SRHT) seinen traditionellen Wirkungskreis verlässt, um diese Herausforderung anzugehen. Die gemeinnützige Organisation wurde 1989 gegründet, um dem Verlust von bezahlbarem, dauerhaftem Wohnraum im innerstädtischen Skid Row entgegenzuwirken. Im Laufe der Zeit hat die Organisation immer mehr die Rolle

Achtzehn Meilen nordwestlich von Skid Row Der Ent wur f für die Crest-Apar tments stammt von Michael Maltzan Architecture (MMA) aus Los Angeles. Es ist das vierte einer Anzahl von Projekten, die Maltzans Büro für den Trust konzipiert hat, und das erste von SRHT entwickelte Projekt, das weit entfernt von Skid Row liegt. Der stilvoll gestaltete Eingang gewährt großzügige Ausblicke durch die Lobby und auf die dahinter gelegenen Gärten und ist ein willkommener Kontrast zu dem sonst eher eintönigen Straßenbild. Das Gebäude enthält 64 Wohneinheiten von überschaubarer Größe, die oftmals irrtümlich für Wohnungen zu marktüblichen Preisen gehalten werden, und bietet offiziell anerkannten obdachlosen Männern und Frauen mit chronischen Gesundheitsbeschwerden dauerhaften Wohnraum. Sowohl der Trust als auch Maltzan sind dabei der Ansicht, dass Obdachlosigkeit nur dann beseitigt werden kann, wenn zuerst die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen aufgebrochen werden, die für die begrenzte Auswahl an Wohnalternativen für Obdachlose verantwortlich sind.

Gute Zusammenarbeit Die innovativen Aspekte der Crest-Apartments sind größtenteils das Ergebnis einer gelungenen Zusammenarbeit von Architekten und Bauträgern mit den Geschäftsleuten und Einwohnern vor Ort: Bürgerversammlungen und öffentliche Debatten spielten eine wesentliche Rolle dabei, um der anfänglichen NIMBY-Reaktion auf das Projekt entgegenzuwirken. Erwähnenswert ist zudem, dass mehr als die Hälfte der Bewohner vormals obdachlose Veteranen sind, die vor dem Bezug ihrer Wohnungen auf den Straßen in der Gegend übernachtet hatten. Laut Maltzan ist das Crest-Projekt Teil einer größeren Zielsetzung: „Alle vier Gebäude, die wir für den Trust entworfen haben, senden ein deutli-

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ches Signal aus: Obdachlosigkeit darf nicht an den Rand gedrängt werden. Wir möchten die Vorurteile und das Stigma, das dem Wohnungsbau für Obdachlose anhaftet, abbauen, indem wir der Gemeinde verdeutlichen, dass wir eine positive Ästhetik sowohl für die Bewohner des Gebäudes als auch für die Nachbarn schaffen wollen.“ Die transformative Kraft der Crest-Apartments beruht demnach auf der Überzeugung, dass gutes Design für alle ein inspirierender Antrieb sein kann. Damit wird ein deutlicher Gegensatz zum unpersönlichen Charakter herkömmlicher Institutionen für Obdachlose gebildet. Die vielleicht wertvollste Erkenntnis offenbart sich in der Fähigkeit von Michael Maltzan Architecture, Restriktionen in Potenziale umzuwandeln. Die Herausforderung, aus der Not eine Tugend zu machen, reizte die Architekten und den Bauherrn von Anfang an. Wohnraum für Obdachlose gilt als eher „sprödes“ Thema, das selten mit architektonischer Innovation in Verbindung gebracht wird. „Oftmals werden solche Projekte mit dem Ziel durchgeführt, möglichst kostengünstige Unterkünfte zu schaffen, ohne jedoch die Bewohner zu berücksichtigen. Stattdessen sollten wir uns die Frage stellen: Was wäre, wenn der Wohnungsbau für Obdachlose eine Vorreiterrolle hinsichtlich innovativer und ansprechender Architektur spielen würde?“, regt SRHT-Kommunikationsdirektorin Jackie Vorhauer an.

Die Anatomie der Crest-Apartments Die Wohnungen stehen wie auf Zehenspitzen über einer langen, schmalen Parzelle, die sich zwischen einem für Los Angeles typischen „Commercial Strip“ und einem ruhigen, von Bäumen gesäumten Wohnviertel befindet. Die schlanke Form des Grundstücks – 27 Meter breit und 91 Meter tief – ergab sich aus der ursprünglichen Grundstückseinteilung für den Bau eines der allgegenwärtigen „Dingbats“, ein in Los Angeles weit verbreiteter Gebäudetyp der 1950er- und 1960er-Jahre, der auch ein entscheidender Wegbereiter für die rasante Stadterweiterung in der Nachkriegszeit war. Charakteristisch für die Architektur der Dingbats ist ihre Positionierung auf Pilotis, um im Erdgeschoss Parkmöglichkeiten für den darüberliegenden Wohnraum bereitzustellen. Allerdings hatten sich die Bauvorschriften im Laufe der Zeit geändert, und die Vorgabe, ein 4.200-Quadratmeter-Konzept für den Standort zu erstellen, wurde zusätzlich durch die vorgeschriebenen Brandschutzauflagen erschwert. Diese erforder-

ten eine Feuerwehrzufahrt sowie einen Wendekreis für Löschfahrzeuge. Anstatt eine neue Gebäudetypologie zu erfinden, um sich den räumlichen Einschränkungen anzupassen, entschieden sich die Architekten für eine Neuinterpretation der kostengünstigen Bauweise der Dingbats. Der traditionell horizontale Gebäudetyp wurde gedreht. Dies hatte nicht nur den Vor teil, dass ein erheblicher Teil des Grundstücks verfügbar blieb, sondern bot auch die Gelegenheit, ein neues Leitbild der städtischen Dichte zu vermitteln. Auf diese Weise entstand eine freistehende Gebäudest ruktur, deren sanft geschwungener Baukörper aufgrund der ausgedehnten Glasfassaden und den Pilotis im Erdgeschoss über den einheimischen Gräsern und anderen selbstaussäenden, dürreresistenten Pflanzen frei zu schweben scheint. Selbst die Feuerwehrzufahrt, die Parkplätze und die Fußwege, die sich unter und um das Gebäude schlängeln, liegen eingebettet in eine durchgehende Decke blühender Vegetation. Der Entwurf der Außenräume der Crest-Apartments stammt von der Landschaftsarchitektin Tina Chee. Und im Unterschied zu den drei anderen von Michael Maltzan Architecture entworfenen Projekten Rainbow, New Carver und StarApartments, die sich in einem stark verdichteten städtischen Umfeld befinden, war bei den Crest-Apartments die Gestaltung der Freiräume entscheidend für den Genesungsprozess der Bewohner: Gemüsegärten, Versammlungsräume im Freien und ein Grillbereich tragen dazu bei, dass mit Hilfe des Außenraums eine lebendige Gemeinschaft entstehen kann.

Gelungene Gestaltung Mit ihrer fünfstöckigen, glänzend-weißen Stuckfassade, die wie eine Werbetafel stolz ihre Botschaft verkündet, haben die Crest-Apartments ihre Nachbarn und die umliegenden Stadtverwaltungen für sich eingenommen. Auch die Beziehungen zwischen Gebäudeinnerem und seinen Bewohnern werden dank des Ideenreichtums des Entwurfs gefördert. Trotz der notwendigen Schutzmaßnahmen vor Kriminellen wurde eine visuelle Transparenz geschaffen, die die physischen Grenzen zwischen den Räumen auflöst: Lobby, Aufenthaltsräume, Gemeinschaf tsküche, Waschküche und Servicebüros werden so miteinander verbunden und öffnen sich zum Straßenraum. Ein derart offenes Gebäudekonzept ist bei diesem Gebäudetyp äußerst ungewöhnlich. Die gelungene Gestaltung der Räume fördert das Zugehörigkeitsgefühl und den WEITER


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Die Flure und Treppenhäuser sind in unterschiedlichen Farben gehalten und werden durch Tageslicht zum Leuchten gebracht.

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Der als Garten gestaltete Außenraum fließt durch die Pilotis im Erdgeschoss hindurch und ermöglicht so eine Verzahnung von innen und außen.

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Ideen S TA R - A PA R T M E N T S Für die Star-Apart-

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Gemeinschaftssinn zusätzlich. So wurden die Eingangstüren zu den Wohneinheiten versetzt angeordnet, um zu vermeiden, was Maltzan als den „trostlosen institutionellen Ausdruck zweihüftiger Flure“ bezeichnet. Ein andernfalls nichtssagender Durchgangsraum bietet auf diese Weise Gelegenheit für informelle Zusammenkünfte. Maltzans charakteristische weiße Flächen werden dabei durch punktuelle farbige Bereiche unterbrochen. Belebt durch natürliches Licht, verwandeln gelbe, grüne und blaue Farbtöne ganze Flure und Treppenhäuser in einen leuchtenden Schleier, als ob man durch eine Installation von James Turrell laufen würde. Die Fenster innerhalb der Wohneinheiten sind großzügig dimensioniert, um eine ausreichende Querlüftung und Tageslicht in den Wohnräumen zu gewährleisten. Alle Wohneinheiten sind gleich groß, so entsteht ein Gefühl der Gleichheit, was wiederum eine Demokratisierung der Räume erzeugt. Zudem ist jede Wohnung mit einer kompletten Küche und einem komfortablen Badezimmer ausgestattet. Zuletzt ist es auch der Briefkasten an der Eingangstür, der für jemanden, der längere Zeit in einer feindseligen Umgebung auf der Straße gelebt hat, ein unglaubliches Statussymbol darstellt. 28 Monate nach der Eröffnung der CrestApartments scheint die Hoffnung auf ein Zuhause, zumindest für einige wenige Glückliche, in Erfüllung gegangen zu sein. Wie viele obdachlose Menschen zukünftig eine solche Gelegenheit bekommen, bleibt allerdings offen. Derweil dauert die Debatte über das Potenzial von Architektur, einen sozialen Wandel anzustoßen, weiterhin an.

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ments bauten Michael Maltzan Architecture ein einstöckiges Gebäude in Down­ town Los Angeles in ein Obdach­ losenheim mit 102 Wohnungen um.

Situation

Maisonette-Wohnung

R A I N B O W - A PA R T M E N T S Für den Stadtteil

Längsschnitt

Skid Row entwickelten Michael Maltzan

BAUHERR:

Architecture ein sechsstöckiges

Skid Row Housing Trust

Gebäude mit 88 Wohnungen für

ARCHITEKTEN:

Obdachlose. Michael Maltzan Architecture, Los Angeles 4. OG TR AGWERKSPL ANUNG: John Labib + Associates

Aus dem Englischen von Sigrid Ehrmann

BAUINGENIEUR: N E W - C A R V E R - A PA R T M E N T S

1. OG

M 1:1 0 0 0

Breen Engineering HAUSTECHNIK: Khalifeh & Associates ELEKTRO: OMB Electrical Engineers LANDSCHAFTSARCHITEKTEN: SWA Group (Projektleitung: Tina Chee) FERTIGSTELLUNG: 2016 1 James Baldwin, Notes of a Native Son, (Boston: Beacon Press, 1984), Seite 140

Die New-Carver-

für Obdachlose

Apartments von

liegt direkt neben

MMA: Das Gebäude

dem I-10-Freeway

mit 97 Wohnungen

in Los Angeles.

STANDORT: EG

Van Nuys, CA


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