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1 Frage: AbreiĂ&#x;en oder neu gestalten – wie umgehen mit einem schwierigen Erbe?
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Abreißen oder neu gestalten – wie umgehen mit einem schwierigen Erbe
TITELTHEMA R E PA R AT U R K U LT U R
? Der Haupteingang von „La Modelo“ in Barcelona: Prächtige Fassade der Macht, dahinter verbarg sich das Elend.
Der Fotograf Filippo Poli hat ein ganz spezielles Studienobjekt für sich ausgewählt: das Hauptgefängnis „La Modelo“ mitten in Barcelona. Er hat es kurz nach der Schließung 2017 umfassend dokumentiert. Das Gebäude stellt ein typisches Panopticon dar, wie es Michel Foucault in seinem Buch „Überwachen und Strafen“ beschreibt. Die Stadt ringt seit Jahren um eine neue Nutzung.
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1 Fotos: Filippo Poli Text: Ton Salvadó
Seite 68/69: Das Gefängnis wurde zwischen 1881 und 1904 erbaut, mit zentralem Kuppelbau und sechs Flügeln. Mit dem Gebäude sind in Barcelona vor allem Erinnerungen an die Repressionen unter Franco ver-
Die Architektur
bunden.
des Panopticons wurde im 18. Jahr
Der Name „La
hundert als „Besse-
Modelo“ bedeutet
rungsanstalt“ vom
beispielhaft und
englischen Sozial
geht auf die spani-
reformer Jeremy
sche Gefängsnisre-
Bentham entwickelt.
form Ende des
Ziel war „die beob-
19. Jahrhunderts
achtete Einsamkeit
zurück.
des Insassen“.
Anfang Juni 2017 verließ der letzte Insasse die Mauern der wohl bekanntesten Haftanstalt Barcelonas, „La Modelo“. Das Gefängnis wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf zwei der charakteristischen Quadraten Ildefons Cerdàs am damaligen Stadtrand erbaut, der Entwurf stammt von den Architekten Josep Domènech i Estapà und Salvador Vinyals. Nur wenige Monate nach der Entlassung des letzten Gefangenen begann Filippo Poli mit seiner Dokumentation – Bilder, die die Erinnerung an mehr als ein Jahrhundert Gefängnisleben festhalten. Das Elend dieses Orts, so viel Schmerz und die vielen Jahre der Angst lassen sich kaum besser ausdrücken als durch seine Aufnahmen. La Modelo ist aus mehreren Gründen zu einem der zentralen Anliegen der Stadt Barcelona geworden. Die öffentliche Debatte um die Neugestaltung des Gefängnisgeländes drehte sich in den letzten Jahren um zwei sich ausschließende Positionen: Manche hielten es für unerlässlich, die gesamte Anlage abzureißen und auf den beiden Quadraten einen Park zu errichten. Die Befürworter dieses Vorschlags führen an, dass es in der Stadt ohnehin zu wenig Grünflächen gibt. Sie möchten jegliche Erinnerung an das Gefängnis am liebsten auslöschen. Für andere wiederum ist es unbedingt erforderlich, dass das baukulturelle Erbe und somit die gesamte Bausubstanz des Modelo-Gefängnisses erhalten wird und sich jede zukünftige Nutzung der Bewahrung des historischen Bauwerks unterzuordnen habe.
Umgang mit der Erinnerung Diese beiden entgegengesetzten Auffassungen ließen jedoch einen weiteren, möglicherweise entscheidenderen Aspekt außer Acht: die Anwohner. Denn diese fordern seit vielen Jahren, die Missstände im Stadtviertel zu beheben, die sich im Laufe der Jahre verschlimmert hatten: den Mangel an Grünflächen und die geringe Zahl öffentlicher Einrichtungen. Anwohner und Bürger der Stadt sind sich jedoch der Bedeutung der Ortsgeschichte sowie des baukulturellen Erbes, auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit, durchaus bewusst. Angesichts der lauernden Gefahr einer Tabularasa-Lösung rückte daher das Interesse in den Vordergrund, das Viertel und die Architektur zu sanieren und gewissermaßen zu recyceln. All dies kam mithilfe einer Methode zum Vorschein, die inzwischen für die neue Art der Stadtgestaltung unverzichtbar ist: Partizipation. Der Vorschlag zur Umgestaltung des Modelo-Gefängnisses, den wir in der Stadtverwaltung von Barcelona im Rahmen des Masterplans von 2019 ausgearbeitet und mit den Anwohnern diskutiert haben, berücksichtigt alle wichtigen Aspekte, um so die bestmöglichen und sorgfältig geprüften Lösungsvorschläge vorzulegen. So wurden die im vorherigen Masterplan aus dem Jahr 2009 festgelegten Nutzungen überprüft und aktualisiert, um öffentliche Funktionen vorzusehen: Gedenkräume, verschiedene Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zur weiterführenden Schule, Wohnungen, Sportanlagen sowie vor allem nachbarschaftsbildende Einrichtungen für Jugendliche und ältere Menschen. Durch die Anpassung des Masterplans von 2009 bot sich nun die Möglichkeit, die seit dem Jahr 2000 an diesem Ort geplanten Büros und Hotels durch Sozialwohnungen zu ersetzen. Dies wirkt gleichzeitig den Gentrifizie-
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rungsprozessen entgegen, die mit der Umwandlung des ehemaligen Gefängnisses La Modelo und Aufwertung des unmittelbaren Umfelds schon bereits ausgelöst wurden. Dazu kommen verschiedene Varianten von konventionellen bis zu experimentellen Wohnformen, bei denen die Gefängniszellen weitestgehend genutzt werden. Dies alles soll dazu beitragen, die hermetische Anlage gänzlich aufzubrechen: Die Mauern von La Modelo öffnen sich, und es entsteht eine Art Mikrostadt, in der fast alles möglich ist. Hier wohnen ältere und junge Menschen, Kinder gehen zur Schule, die Nachbarn kaufen auf dem Bauernmarkt ein oder treiben Sport. Auf diese Weise verliert das Gelände endgültig seinen festungsähnlichen Charakter und wird zu einem eigenen kleinen Stadtviertel. Strategie zur Umgestaltung und darüber hinaus
Michel Foucault beschreibt in sei-
Zum Autor
nem Werk „Überwachen und Strafen“ das Panopticon als
Ton Salvadó war
architektonische
Direktor der Abteilung
Gestalt für das „au-
Model Urbà – Strate-
tomatische Funktio-
gische Stadtentwick-
nieren der Macht“:
lung – der Stadt Bar-
Die einfache Geo-
celona von 2016
metrie mit einem
bis 2019 und Initiator
zentralen Turm er-
des Projekts zur Um-
möglicht die effizi-
gestaltung von La
ente Überwachung
Modelo.
der Gefangenen – und auch des Personals.
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Mit dieser kleinen komplexen Stadt soll ein spürbarer Bestandteil der städtischen Infrastruktur geschaffen werden, der das kulturelle Erbe und die Erinnerung dennoch bewahrt: Die Hauptelemente der historischen Gebäude sollen, saniert und neugestaltet, als Ensemble erhalten bleiben. Dabei geht es übrigens nicht nur um das berühmte Panopticon, sondern auch um das Verwaltungsgebäude in der Entença-Straße. Bei der Einweihung im Jahr 1904, als sich das Gefängnis noch am Stadtrand Barcelonas befand, waren in diesem Gebäude die Beamtenwohnungen untergebracht. Des Weiteren gehören auch die Werkstattgebäude in der Nicaragua-Straße dazu. Die Galerien, die zu Passagen umgestaltet werden sollen, bilden die Grundstruktur für den öffentlichen Raum, die sich um das Zentrum des Panopticons dreht. An diesen Raum, im Grunde ein großer überdachter öffentlicher Platz, docken alle Nutzungen an. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird sich dieser zum
Mittelpunkt der öffentlichen Aktivitäten des kleinen Stadtviertels entwickeln. Mit der Neugestaltung des Geländes werden auch mehr Grünflächen geschaffen. Darüber hinaus fügt sich das Ensemble des Modelo-Gefängnisses in das städtische Konzept der „Superblocks“ ein, bei dem die öffentlichen Straßenräume stufenweise zu autofreien Zonen umgewandelt werden. Durch diesen Übergang zu einem nachhaltigeren Mobilitätsmodell wird das Modelo-Gefängnis zu einem der Knotenpunkte eines zukünftigen Superblocks, der öffentliche Räume und Einrichtungen miteinander verknüpft. Angesichts der Komplexität des Projekts und der Überlagerung von Nutzungen und Aktivitäten, öffentlichem Raum und Infrastruktur besteht die größte Herausforderung darin, einen Gemeinschaftscharakter für das Gebäudeensemble herzustellen. Dies beinhaltet auch ein komplexes Ressourcenmanagement wie die gemeinschaftliche Verwaltung der Produktion, der Verteilung und des Verbrauchs von Energie. So wird aus dem Gebäudeensemble des Modelo-Gefängnisses eine andere Art von Stadtmodell, bei dem vom Wohnraum bis zum öffentlichen Raum alles miteinander geteilt wird. Aus dem aktuellen Masterplan, eine Art Planungsanleitung, ging ein Wettbewerb hervor, um die gesamte Fläche des La Modelo zu entwickeln. So werden wir die Zukunft von La Modelo bald deutlicher vor Augen haben. Dann werden wir bald ein kleines Stück Stadt besitzen, das als beispielhaft bezeichnet werden kann und das in Zusammenarbeit mit den Anwohnern entstanden ist. Ich habe keinen Zweifel, dass diese Art der Stadtentwicklung zwar komplizierter, aber solider und vor allem aber unvermeidlich ist. Aus dem Katalanischen von Sigrid Ehrmann