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Foto: Guy Hocquenghem
Normalität versus Perversion Am 28. August jährt sich zum 30. Mal der Todestag des französischen Autors und Philosophen Guy Hocquenghem. Norbert Reck, der mitschrieb an dem Band über Hocquenghem, „Die Idee der Homosexualität musikalisieren“, gewährt einen kurzen Einblick in das Wirken dieses fast vergessenen Vordenkers der Queer-Theorie Heinz-Jürgen Voß (Hg.): „Die Idee der Homosexualität musikalisieren – über die Aktualität von Guy Hocquenghem“, Psychosozial-Verlag, 130 Seiten, 16,90 Euro
> Frei zu sein ist keine Frage günstiger Umstände. Gerade dort, wo eine Gesellschaft sich „liberal“ gibt, kann Freiheit sich verflüchtigen, können eigene Bedürfnisse aus dem Blick geraten und mit dem verwechselt werden, was Gesellschaft und Wirtschaft im Angebot haben. Im Handumdrehen wird die erkämpfte „sexuelle Identität“ zum Konsumprofil, das befreite Leben zum Lifestyle-Projekt. Guy Hocquenghem lebte anders – er nahm sich seine Freiheit einfach. Gerade an den Widerständen erprobte er sie: freundlich, aber selbstbewusst und angstfrei – in Zeiten, als die rechtliche Gleichstellung für „homosexuelle Akte“ noch fern war. Als Student der Philosophie und Soziologie beteiligte er sich an den Protesten im Mai 1968 in Paris, war Mitbegründer der linksradikalen Zeitschrift Tout! und engagierte sich in der FHAR (Front homosexuel d’action révolutionnaire). 1972 schrieb er – als Erster in Frankreich! – im Nachrichtenmagazin Nouvel Observateur offen über sein Schwulsein, sein Coming-out und seine politischen Ideen. Das machte ihn über Nacht berühmt. Die Reak-
tionen waren überwiegend freundlich, doch nun sollte er überall als Spezialist für Homosexualität auftreten. Er erlebte am eigenen Leib, dass es nichts mit Anerkennung zu tun hatte, öffentlich als „Homosexueller“ gehandelt zu werden. In einer solchen Kategorie steckte auch immer die Festlegung auf das „Anderssein“. In seinem berühmten Essay „Das homosexuelle Verlangen“ (die deutsche Übersetzung erschien 1974) dachte Guy ausführlich über die Sache nach. Zuschreibungen wie „Homosexualität“ und „Heterosexualität“ waren für ihn keineswegs neutrale Begriffe für etwas natürlich Vorhandenes. Sie waren Konstruktionen, Grenzziehungen zwischen „Normalität“ und „Perversion“. In sie war die Angst vor dem nicht Bezähmbaren der Lüste bereits eingeschrieben; im Zwang zur Ordnung steckte die „homosexuelle Paranoia“ – die wir heute Homophobie nennen. Mit der Realität hatten diese Begriffe ohnehin kaum etwas zu tun. Sexuelles Verlangen war immer schon anarchischer, vielschichtiger, uneindeutiger. Schon Sigmund Freud stellte bei allen Menschen homosexuelle Fantasien fest, nicht nur bei der Gruppe der „Homosexuellen“. Darum entwarf Guy das Verlangen neu als einen niemals kanalisierbaren, breiten „Strom ohne Namen“. Er wollte Freiheit, nicht Einordnung. Weitere Essays, Artikel, Filme und Romane folgten. Seine Texte gelten heute als Pionierarbeiten für die spätere Queer-Theorie, für ein Denken über alle Grenzen hinweg. In Frankreich und den USA wird sein Werk gerade wiederentdeckt; in Deutschland bemüht sich aktuell der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß mit Kollegen und Freunden darum. Am 28. August 1988 starb Guy an den Folgen von Aids. <