Siegessaeule Oktober 2013

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Gunther Geltinger „Moor“, Suhrkamp, 440 Seiten, 22,95 Euro Dion, ein 13-jähriger, in der Schule ausgegrenzter Junge, leidet unter seinem Stottern ebenso wie unter der erdrückenden Liebe seiner Mutter. Geltinger, der nach seinem Debüt „Mensch Engel“ als einer der talentiertesten Newcomer unter den schwulen Buchautoren gehandelt wurde, hat Dions Geschichte in der Nähe einer Moorlandschaft angesiedelt. So findet das Buch zu kraftvollen, poetischen Landschaftsbeschreibungen, verliert sich aber auch in einer gehetzten, oft prätentiös wirkenden Sprache, die die Figuren gekünstelt erscheinen lässt.

„Banal-Sex“, Buchpremiere mit Sirko Salka, Moderation Martin Reichert, Hedi Mohr live und DJ Herr Noll, 16.10, 20:00, Schillingbar

Ernst Haffner „Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman“, Metrolit, 260 Seiten, 19,99 Euro Der Glanz der Goldenen Zwanziger hat Ernst Haffner lediglich am Rande interessiert. Stattdessen blickt er in die Kaschemmen und Wärmehallen zwischen Alex und Wedding, dem Zuhause von Horden halbwüchsiger Kriegswaisen und aus Fürsorgeanstalten entflohenen Männern. Mit Diebstählen und auf dem Schwulenstrich finanzierten sie sich die nächste Zigarette und den Schlafplatz für die Nacht. Der zeitweilige Sozialarbeiter Haffner schildert in seinem Roman von 1932 diese Parallelwelt so detailliert und eindringlich, wie man dies nur aus eigener Anschauung zu tun vermag.

Toni Schwabe „Die Hochzeit der Esther Franzenius“, Igel Verlag, 147 Seiten, 19,90 Euro Lange war dieser 1902 erschienene Roman in Vergessenheit geraten – obwohl sogar Thomas Mann eine begeisterte Rezension schrieb. Jetzt gibt es eine Neuauflage, die von der Literaturwissenschaftlerin Jenny Bauer kommentiert wurde. Esther, die zwar augenscheinlich erst in den Verlobten ihrer Schwester verliebt und später mit einem anderen Mann verlobt ist, hegte ebenso Gefühle für Frauen. Ein Inhalt mit Folgen: damit könnte Schwabes Buch der erste deutsche Lesbenroman sein.

Trix Niederhauser „Denn vom Trauern kommt der Tod“, Ulrike Helmer, 304 Seiten, 17,95 Euro Die lesbische Autorin Trix Niederhauser legt hier einen brillanten Krimi vor! Brunhilde Schwarz ist über 80 Jahre alt, lebt im Heim und mimt perfekt die liebevolle, leicht senile Alte. Dabei hat es die alte Dame in sich: Geschickt manipuliert und tyrannisiert sie ihr Umfeld. Dem Tode nahe beginnt sie nun ihre Geheimnisse preiszugeben. In einem roten Heft hat die hinterlistige Mörderin all ihre Vergehen dokumentiert – jetzt ist es an der Zeit, mit sich selbst abzurechnen. Unglaublich witzig und spannend! Texte: as/ascho/rob/mah

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Sirko Salka (Foto): „Banal-Sex. Wieso schwules Leben harte Arbeit ist“, Querverlag, 159 Seiten, 14,90 Euro

FOTO: TANJA SCHNITZLER

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Buchtipps

Leben im Exzess Bis Februar 2013 war Sirko Salka Chefredakteur der Siegessäule. Jetzt erscheint sein erstes Buch „Banal-Sex“. Ein Interview über sein Steckenpferd: Schwule und ihren Lifestyle Sirko, ist das Buch ein Fazit deiner Zeit als Siegessäule-Chefredakteur, eine Abrechnung mit der Szene? Es gibt keinen Grund abzurechnen: Ich bin glücklich mit allem, was war. Es ist eher ein Abschluss, jetzt bin ich noch mal von A bis Z durch den ganzen Homo-Schlamassel gewatet. Ich wollte schon länger etwas zum Thema Schwule und Moral machen: Wir heben schnell den Finger, wenn andere uns an den Karren pissen, aber wir sollten erst mal vor der eigenen Tür putzen. Wir sind Teil des Ganzen, wir sind so ignorant, rassistisch und sexistisch wie alle anderen in dieser Gesellschaft. Der Text ist nach den sieben Todsünden gegliedert: Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Habgier, Völlerei und Wollust. Wieso? Die sieben Todsünden sind die groben Schnitzer, die uns beim Versuch unterlaufen, glücklich zu werden. Wobei: Mit Ausnahme von Trägheit ist alles exzessiv und eigentlich ganz gut, zumindest schwul betrachtet. Ein Leben im Exzess. Einer der Schlüsselsätze ist „Wir heterosexualisieren uns zu Tode“. Gleichzeitig kritisierst du die Szene für Lebensentwürfe wie Lederkerl, Tunte, Dandy, Körperkult und Shoppingspaß. Wir sind angeblich alle so kommunikationsstark, kreativ, verdienen und verprassen massig Kohle, sind

konsumgeil ohne Ende. Das ist ein Bild, das ich nicht erfülle, und ich denke, ich bin kein Einzelfall. Die Homo-Norm kann eine Last sein. Ich glaube aber auch, wir wären dämlich, wenn wir jetzt nach dem Rockzipfel der Hetero-Norm griffen. Es gibt alternative Konzepte, wir müssen nur den Mut haben, sie auch zu leben. Natürlich kann jeder sein, wie er will. Man muss weder Kommerzschwuchtel noch Mucki-Tusse noch angepasste Schein-Hete sein, um als schwuler Mann glücklich zu werden. Also ein weiterer Weg für den modernen schwulen Mann? Vielleicht für den modernen Mann, der sein Schwulsein selbstbewusst und offen lebt. Man sollte nicht in Schränke zurückkriechen, aber wir müssen uns auch nicht eine gruselige Anständigkeit verpassen, um akzeptiert zu werden. Hast du dir wirklich einen Bauch angefuttert, wie du in „Völlerei“ beschreibst? Ja, aber nicht dieses Jahr. Mir stinkt das Schönheitsdiktat, der Fitness-Wahn, der alles andere ausgrenzt. Die moderne Todsünde der Völlerei schlummert im Verzicht, dass wir uns immer mehr kontrollieren und disziplinieren. Die Frage ist: Wie fühlt man sich wohl? Wenn man sich den Normen anderer unterwirft, ist man am Ende nicht der Glücklichere. Welche Reaktion auf das Buch erhoffst du dir? Ich fänd es cool, wenn sich Leute mit dem Buch in ihrem Alltag ertappt fühlen und vielleicht auch auf die eine oder andere Baustelle Antworten finden – oder meine Antworten. Das Buch ist ja total subjektiv. Was planst du jetzt? Ich habe große Lust, back to the roots zu den Tageszeitungen zurückzukehren. Da habe ich mit Journalismus angefangen und in diese Richtung soll es wieder gehen. Interview: Malte Göbel


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