Gemeindezeitung 41

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leer. Ich hatte ein ungutes Gefühl, dass ich womöglich auf einem Grab stand, was man schließlich nicht tun darf. Daneben befindet sich ein neuerer Friedhof, der ein eher präsentablen Anblick bietet, doch auch dieser Friedhof ist verlassen, denn in Halberstadt gibt es niemanden, den man auf diesem Friedhof beerdigen könnte. Es gibt hier keine Juden, zumindest nicht den Anforderungen der Halacha entsprechend. Vom Friedhof gingen wir zum Gebäude der ehemaligen jüdischen Elementarschule. Lediglich Davidsterne an der Fassade erinnern noch an die vergangene Funktion dieses Baus. Zu unterrichten gibt es dort derzeit niemanden und es befinden sich dort nun gewöhnliche Wohnungen. Anschließend kehrten wir zu Synagoge zurück. Der rote Kater erwartete uns noch immer. Frau Dick erzählte uns die Geschichte, wie die Halberstädter Synagoge die verfluchte Nacht vom 8. zum 9. November 1938 überlebte. Zur damaligen Zeit arbeitete in der Gemeinde ein Hausmeister namens Wassermann, ein Deutscher, ein Mann von eisernem Körperbau. Er trat zur Verteidigung der Synagoge hervor, niemand aus den Reihen der Pogromteilnehmer riskierte es sich ihm zu stellen. Jedoch wurde das Gebäude der Synagoge, obwohl es nicht zerstört wurde, bis in die hinterste Ecke leer geplündert. Bis zum verfluchten Tag verfügte die Halberstädter Synagoge über 90 Torahrollen. Alle verschwanden spurlos. Heute steht in einer Glasvitrine in der ehemaligen Bibliothek einsam eine einzige Torahrolle, eine Schenkung eines Bewohners in den letzten Jahren. In dem einstigen Gebetsraum sitzend und den Ausführungen von Frau Dick zuhörend, schaute ich auf den Holzboden hinunter, der aus Holzpaneelen gefertigt wurde, aus jahrhundertealten Baumstämmen. Ich schaute auf die Steinmauern, die für Jahrhunderte gebaut wurden und dachte mit Trauer an den dummen, grundlosen Hass, der Halberstadt, das Zentrum des jüdischen Lebens in Sachsen, in eine Stadt verwandelte, in der es „Juden irgendwann einmal gab“. Es gibt keine jüdische Gemeinde mehr, es gibt niemanden mehr, der auf dem jüdischen Friedhof beerdigt werden könnte, niemanden mehr, den man an der jüdischen Schule unterrichten könnte… Nach alldem aßen wir in dem koscheren Café „Hirsch“ zu Mittag. Wir wurden mit Blinis mit Lachs und Tee bewirtet. Danach begaben wir uns auf den Weg nach Hause. Zum Abschluss möchte ich mich für diese Exkursion beim Organisator unseres Minjan, Herrn Alexander Boijka, bedanken sowie dem Fahrer unserer Gemeinde, Herrn André Skatkov. Mit besonderem Dank möchte ich mich bei dem Leiter der Sozialabteilung, Herrn Alexander Pisetzki, bedanken. Er war nicht nur unser Fahrer, der all diejenigen nach Halberstadt und wieder zurück brachte, die nicht mehr in den Bus gepasst haben. Er übersetzte sehr präzise die Erzählungen von Frau Dick. Ohne seine Hilfe hätte sich unsere Exkursion zu einem bloßen Spaziergang im Regen verwandelt. Gennadij Feigin, Magdeburg Übersetzung: Darja Pisetzki

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