
4 minute read
Geschichte?
from Wahlen ohne Kampf?
Nichtereignisse wahrzunehmen, wird vorgeschlagen, ihr zugleich machtlegitimierendes, aber auch transformatives Potenzial für die Politik und besonders für die politische Repräsentation zu erkunden (Kapitel 1). Für ein solches Vorgehen sprechen bereits die wenig bekannten Veränderungen der schweizerischen Parteien in der Nachkriegszeit (Kapitel 2). Das Buch folgt fünf exemplarischen Handlungsphasen eines Wahlkampfs, die als Annäherung an die verschiedenen Facetten des parteipolitischen Handelns im Wahlkampf zu verstehen sind. Bei der Vorbereitung eines Wahlkampfs vereinbarten nationale und kantonale Parteikader Ziele, Strategien und Mittel und konstruierten somit den Wahlkampf als Wettbewerbsfeld (Kapitel 3). Die Art und Weise, wie Parteien ihre Zielwählerschaft en defi nieren, zeigt, wie sich ihre Bindungen mit den Wählenden über die Zeit veränderten (Kapitel 4). Mit den Kampagnenmaterialien und der Medienarbeit der Parteien lässt sich ihre (Selbst-)Darstellung im Laufe der Zeit verfolgen (Kapitel 5). Die Veränderungen bei der Nominierung und Lancierung der Kandidierenden verdeutlichen, wie sich Parteien unterschiedlich verkörpern liessen(Kapitel 6).Die veränderten Bedingungen des Mobilisierens lassen sich mit der Analyse der Kontaktnahme mit den Wählenden aufzeigen (Kapitel 7). Weit davon entfernt, ein Nichtereignis zu sein, verweisen die schweizerischen Wahlkämpfe der Nachkriegszeit auf eine Spannung zwischen Stillstand und Bewegung sowie zwischen der Abbildung bestehender Kräft everhältnissen und der Schaff ung neuer Handlungsmöglichkeiten – eine Spannung, die bis heute nachwirkt (Kapitel 8).
Wahlkämpfe als Nichtereignisse der schweizerischen politischen Geschichte?
Advertisement
Während die Schweizer Wahlen und Wahlkämpfe des 19. Jahrhunderts, sowie zum Teil auch der Zwischenkriegszeit, Gegenstand von erhellenden Studien wurden, 8 besteht für die Wahlkämpfe zwischen den 1940er und 1990er Jahren
dieses Projekts verfassten Dissertation, Kergomard: «Es ist nicht selbstverständlich, dass man uns wählt.», 2018. 8 Insb. Ruffi eux: Les élections au Grand conseil Vaudois, 1974; Gruner: Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat, 1978; Meylan; Saudan: Aspects de la vie politique à Lausanne, 1984; Wandeler: Vom Freischärler bis zum erzkonservativen Junker, 1999; Kunz: Polarisierung und Desintegration, 2000.
eine erstaunliche Forschungslücke. Nur einige zeitgenössische Studien, oft am 1965 gegründeten Forschungszentrum für schweizerische Politik in Bern entstanden, setzten sich mit den Wahlkämpfen der 1960–70er Jahre auseinander. 9 Auch die junge internationale Politikwissenschaft interessierte sich lange Zeit wenig für Wahlkämpfe, da die frühe Wahlforschung die Faktoren der Wahlentscheidung nicht beim Wahlkampf, sondern bei «soziostrukturellen Merkmalen» (Columbia School) oder bei bestehenden «parteipolitischen Bindungen» (Michigan School) der Wählenden sah. 10 Erst als Letztere ab den 1970er Jahren abgeschwächt schienen, interessierte sich die internationale Forschung vermehrt für die Wirkung des Wahlkampfs auf die Wahlentscheidung und für die Veränderungen des Wahlkampfs im Zeitverlauf. 11 Richtet sich der Blick allein auf die Wahlergebnisse, so kommt man tatsächlich schwerlich am Urteil vorbei, dass Wahlkämpfe in der Schweiz der Nachkriegszeit Nichtereignisse darstellten: Die ausserordentliche Stabilität im Kräft everhältnis der Parteien zwischen den 1940er und 1980er Jahren – sowohl die Stimmenanteile als auch die Mandate im National- und Ständerat betreff end – vermittelt den Eindruck einer erstarrten Schweizer Politik, welche erst in den 1990er Jahren in Bewegung kommt (Graphik 1). Nicht zuletzt das 1919 im Nationalrat eingeführte Proporzwahlsystem (Verhältniswahl) wirkte so stark dämpfend auf potenzielle konjunkturelle Kräft everschiebungen, dass sich die Mandatsverteilung im Nationalrat nur minimal verändern konnte. Der unspektakuläre Charakter schweizerischer Wahlen prägte auch die Berichterstattung über den Wahlkampf, besonders im internationalen Vergleich, wie etwa in der freisinnigen Nouvelle Revue de Lausanne 1959 nachzulesen war:
«Der Wahlkampf verläuft ruhig: Die Parteien wissen sehr wohl, dass das Verhältniswahlsystem jede Umwälzung, jede wesentliche Änderung ausschliesst. Wie weit wir von den britischen Parlamentswahlen entfernt sind! […] Wie vor vier Jahren werden unsere eidgenössischen Wahlen ein weiterer Beweis für politische Stabilität sein. Das
9 Gruner; Siegenthaler: Die Wahlen in die eidgenössischen Räte, 1964; Gruner; Daetwyler; Zosso: Aufstellung und Auswahl der Kandidaten, 1975. 10 Lazarsfeld; Berelson; Gaudet: Th e People’s Choice, 1944; Campbell; Converse; Miller et al.: Th e American Voter, 1980. Dazu Gerstlé: Sociologie de la campagne électorale, 2001. 11 Nie; Verba; Petrocik: Th e Changing American Voter, 1979; Farrell; Schmitt-Beck: Do Political Campaigns Matter?, 2002.
Ergebnis steht quasi im Vorhinein fest und viele Kantone werden in der Verteilung der Mandate keine Änderungen erfahren: Höchstens in einigen Kantonen ringt man noch um einen umkämpft en Sitz.» 12
)'3 &93 63 693 /LEHUDOH /G8 0LWWH3DUWHLHQ 3G$ 1HXHOLQNHXQGJUQH3DUWHLHQ 5HFKWVSRSXQGUHFKWVUDG3DUWHLHQ Graphik 1. Parteistärken in Prozent bei den Nationalratswahlen, 1919–2015.
Mitte-Parteien: BDP, CSP, Demokraten, EVP, GLP Neue linke und grüne Parteien: FGA (ab 1979); GPS (ab 1975); POCH (1971–1991); PSA (ab 1971–1991); Solidarität (ab 1995) Rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien: EDU (ab 1975); FPS (1987–2007); Lega (ab 1991); MCR (ab 2007); Republikaner (1967–1987); NA/SD (ab 1967) 1939 fanden in neun Kantonen (Appenzell Ausserrhoden, Luzern, Neuenburg, Schwyz, Solothurn, Tessin, Waadt, Wallis und Zug) stille Wahlen statt.
Quelle: Bundesamt für Statistik: Nationalratswahlen.
Selbst auf die Proklamation der Wahlergebnisse folgten uninspirierte Kommentare in der Presse – erstaunt könne man nicht wirklich sein. 13 Es war dabei nicht immer auf Anhieb klar, welche der drei grössten Parteien SP, FDP oder CVP die Wahlen überhaupt gewonnen hatte und welcher Indikator als Mass
12 Avant les élections fédérales, in: Nouvelle Revue de Lausanne, 21.10.1959. 13 Les jeux des élections sont faits, in: Feuille d’Avis de Lausanne, 27.10.1959.
Das Signet des Schwabe Verlags ist die Druckermarke der 1488 in Basel gegründeten Offizin Petri, des Ursprungs des heutigen Verlagshauses. Das Signet verweist auf die Anfänge des Buchdrucks und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeisst?»