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schreiben?

I Einleitung: Weshalb und wie eine Geschichte des Wahlkampfs schreiben?

«Sind Wahlkämpfe in der Schweiz tatsächlich so uninteressant, dass es sich erübrigt, ihnen Monographien zu widmen?» 1

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Die provokative Frage des Berner Historikers Erich Gruner Anfang der 1980er Jahre ist heute noch aktuell. Besonders Wahlen und Wahlkämpfe zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Fall der Berliner Mauer spielen in der schweizerischen Geschichtsschreibung keine grosse Rolle. 2 Während sich HistorikerInnen in anderen europäischen Demokratien seit längerer Zeit für die Veränderungen der Wahlkämpfe und der politischen Kommunikation in der zweiten Hälft e des 20. Jahrhunderts interessieren, gelten eidgenössische Wahlkämpfe der Nachkriegszeit weitgehend als Nichtereignisse – oder zumindest als ruhige, bescheidene, ja höfl iche Angelegenheiten einer politisch höchst stabilen Schweiz, welche die polarisierenden Schäfchenplakate der Schweizerischen Volkspartei (SVP) noch nicht erlebt hatte. So qualifi ziert sie der Kommunikationsberater Mark Balsiger in seinem Handbuch für Kandidierende: «Bis Anfang der Neunzigerjahre setzte der Wahlkampf jeweils ein paar Monate vor einem Wahltermin ein, und dann herrschte Eintracht – alle politischen Akteure waren bestrebt, einen Konsens zu fi nden.» 3 * Dieses Bild entspricht sicherlich einem schweizerischen Narrativ, welches seit dem 19. Jahrhundert die Kontinuität einer speziell schweizerischen Konsenskultur betont und als ahistorische, allgemeingültige Erklärung für die festgestellte Ruhe und Stabilität der helvetischen Politik dient. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die «Konkordanz» als Gründungsmythos und als nor

1 Gruner: Wahlen, 1984, S. 237. Dazu Gruner: Die direkte Demokratie, 1987. 2 Z.B.: Tanner: Geschichte der Schweiz, 2015; Walter: Histoire de la Suisse, 2009. 3 Balsiger: Wahlkampf statt Blindfl ug?, 2014, S. 10. * Im Folgenden stammen alle Hervorhebungen und alle Übersetzungen auf Deutsch von der Autorin, wenn nicht explizit anders vermerkt.

matives Demokratiemodell so stark nach innen und aussen zelebriert, dass sie als Verhaltensgebot oder sogar als selbsterfüllende Prophezeiung für die Nachkriegszeit fungierte. 4 Balsigers Aussage mag wohl für Wahlen gelten, oft Exekutivwahlen auf kantonaler oder kommunaler Ebene, bei welchen Parteien im Sinne des sogenannten freiwilligen Proporzes die Anzahl an Kandidierenden einschränken. 5 Wie lässt sich aber die von ihm postulierte Konsenssuche mit dem Wettbewerb um Stimmen und Mandate für den National- und Ständerat in Einklang bringen? Wie konnte das Gleichgewicht im Parlament und Bundesrat langfristig beibehalten werden, wenn die Schweizer Gesellschaft doch zwischen den 1940er und 1980er Jahren einem rasanten Wandel unterlag? Wie gingen politische Parteien überhaupt an ihre Wählerschaft en heran? Wie versuchten sie, die Aufmerksamkeit der im Wahlkampf von 1971 fotographierten PassantInnen auf ihre Plakate, ihre lächelnden Kandidierenden, ihre sympathischen Logos und hoff nungsvollen Slogans zu lenken? Denn wie ein Leitfaden der Zürcher Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) in Erinnerung rief: «Die CVP ist immer noch nicht in der glücklichen Lage, Wählerstimmen zu gewinnen, indem sie nichts tut. Es ist nicht selbstverständlich, dass man sie wählt.» 6 Hier setzt das vorliegende Buch an: Es fragt nach dem Schweizer Wahlkampf der Nachkriegszeit als zelebrierten Wahl-Kampf ohne Kampf und zeigt, wie Schweizer Regierungsparteien beim «Stimmenfang» ihr Verhältnis zur Gesellschaft und zur Wählerschaft immer wieder neu verhandelten. Im Rahmen des vom schweizerischen Nationalfonds fi nanzierten Forschungsprojekts Political Parties and Election Campaigns in Post-War Switzerland werden die Handlungen der vier grössten Landesparteien – CVP, Freisinnig-Demokratische Partei (FDP), Sozialdemokratische Partei (SP) und Bauern-, Gewerbe und Bürgerpartei (BGB, ab 1971 SVP) – anhand von vier Wahlkämpfen zwischen den 1940er und den 1980er Jahren auf eidgenössischer und kantonaler Ebene (Tessin, Waadt und Zürich) in den Blick genommen. 7 Anstatt sie als

4 Burgos; Mazzoleni; Rayner: La formule magique, 2011, S. 112; Guex; Schnyder; Burghartz: La Suisse: pays du consensus?, 2001; Jost: Critique historique du consensus helvétique, 2001, S. 58; Herrmann: Les cicatrices du passé, 2006, S. 305. 5 Linder: Schweizerische Demokratie, 2012, S. 104–114. 6 PA CVP ZH, Wahlkampfstab der Zürcher CVP: Der orange Faden. Eine praktische Anleitung für die Nationalratswahlen, August 1983. 7 Unter der Leitung von Damir Skenderovic/Oscar Mazzoleni, http://p3.snf.ch/ Project137811, Stand: 29.01.2020. Das vorliegende Buch ist eine gekürzte Fassung der im Rahmen

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