Einleitung
Die Ideen und Vermutungen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, sind aus meiner Beschäftigung mit Dantes Menschenbild entsprungen. Ein wichtiger Teil jener Vorstellung, so wurde mir bald klar, nimmt das Gedächtnis ein. Gleichzeitig musste ich einsehen, dass eine Untersuchung des Gedächtnisses bei Dante ein grösseres Unterfangen darstellen würde. Die Herausforderungen, die sich schliesslich dabei ergeben haben, sind in der Heterogenität des Gegenstands begründet: Das Gedächtnis kann einerseits als ein individuelles Seelenvermögen verstanden werden, andererseits bezeichnet es auch ein kommunales Gedenken. Abgesteckt auf einem Spektrum der Deutungsmöglichkeiten, die sich von einer philosophie- und theologiegeschichtlichen bis hin zu einer sozialgeschichtlichen Perspektive erstrecken, umfasst die Gedächtnisvorstellung bei Dante verschiedene zu seiner Zeit bekannte Ideen – wie das Gedächtnis als Buch oder das Gedächtnis als Raum –, aber auch neue Vorstellungen, die sich aus den neuen Bearbeitungen der Thematik in der Theologie speisen. Auch wenn immer wieder am Rande erwähnt wird, dass das Gedächtnis von grosser Bedeutung für Dante gewesen sein muss,1 so liegt bis heute lediglich eine Monografie zu dieser Thematik vor.2 Diese Arbeit von Luigi de Poli aus dem Jahr 1999 liefert allerdings aufgrund eines unzureichenden Quellenstudiums und der Heranziehung von veralteter Forschungsliteratur unbefriedigende Ergebnisse.3 Die Forschung hat sich demnach bisher kaum mit der Wie bereits bei De Robertis, Domenico: Il Libro della «Vita Nuova», seconda edizione accrisciuta, Firenze 1970, S. 170. 2 Gemeint ist hier De Poli, Luigi: La structure mnémonique de la Divine Comédie. L’ars memorativa et le nombre cinq dans la composition du poème de Dante, Bern 1999. 3 In De Polis Arbeit bleiben die wichtigen Studien zum Gedächtnis bei Dante von Karl August Ott (1987), Harald Weinrich (1994) und Maria Corti (1993) unberücksich-
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