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1. Vorbemerkungen zur Terminologie
Die Auseinandersetzung mit historischen Gedächtnisvorstellungen erfordert eine sorgfältige Analyse und einen vorsichtigen Umgang mit den Begriffen, die zur Beschreibung des Phänomens genutzt werden, sowie deren Inhalten. Ein Wort, oder im weiteren Sinne ein Text, funktioniert als Kommunikation nie nur in eine Richtung: Genauso wie ich als Autorin genaue Vorstellungen davon habe, wie ein Begriff zu verstehen ist, so weckt dieser auch bei meinem Leser spezifische Assoziationen. Natürlich gibt es eine Schnittmenge, da sonst Sprache als Kommunikationsmittel nicht funktionieren kann – aber die Variationen tendieren in jedem Austausch dazu, Missverständnisse hervorzubringen. Die Problematik spitzt sich zu, wenn wir es mit vormodernen Texten zu tun haben. Denn gerade die von den mittelalterlichen Autoren angewandte Terminologie ist heute ohne Kontext nur noch schwer nachzuvollziehen, und selbst nach einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit der Herkunft eines Wortes scheint es oft schwierig, dessen tatsächlich intendierte Bedeutung zu eruieren.
Es ist also zunächst unbedingt nötig, sich von modernen Erwartungen an die verwendeten Begriffe zu lösen. Beim Wort «Gedächtnis» denken wir heute unweigerlich an die Leistung unseres Gehirns, aber auch an dessen Unzuverlässigkeit oder Anfälligkeit für Manipulation, sowie an Alzheimer und Blackouts. Der Verweis auf das Gedächtnis ist immer begleitet vom Vorwurf der Korruption: Erinnerungen, so wissen wir heute, sind nicht statisch, verändern sich ständig und können sogar in grossem Masse verfälscht sein. Aber der Begriff erinnert auch an elektronische Festplattenspeicher und an Smartphone-Erinnerungsfunktionen, die uns als ein Mahnmal unseres als verkümmernd wahrgenommenen Erinnerungsvermögens erscheinen. Das Gedächtnis ist entweder etwas Technisches oder Teil der Psychologie. Der moderne Mensch sammelt zwar auch Memorabilien und verewigt sich in Fotoalben, aber selbst diese Nostalgie hat nichts mehr mit Sehnsucht nach Gott
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zu tun. Der Gedanke, dass das Gedächtnis mit unserem Seelenheil zusammenhängen sollte, mag uns heute sehr fernliegen. Und dass gerade dieses unverlässliche Vermögen des Gehirns zu jenem Teil des Menschen gehören soll, der mit der göttlichen Vollkommenheit verbunden ist, ist wohl schwer nachvollziehen. Umso wichtiger scheint es mir deshalb, bei der Auseinandersetzung mit vormodernen Gedächtnisvorstellungen eine klar definierte Terminologie anzuwenden.
Dem Versuch, Begriffe eindeutig zu definieren, steht das Bewusstsein über die Wandelbarkeit der Sprache gegenüber. Als Historikerin wird man bei einer begriffsgeschichtlichen Analyse unweigerlich daran erinnert, dass historische Zeugnisse auch in Bezug auf die Sprache einer Momentaufnahme gleichkommen. Das Grundprinzip unserer Kommunikation besteht darin, dass Worte auf etwas verweisen : im einfachen Fall auf einen Gegenstand, im schwierigen Fall auf ein Gefühl oder eine Idee oder eine Vorstellung. Die Semantik ist sowohl diachronen als auch synchronen, also geografischen, Veränderungen unterworfen. Der Bedeutungsinhalt eines Begriffs wird bestimmt durch den jeweiligen kulturellen und situativen Kontext und wird im Gegenzug auch vom Wort selbst mitgeformt. Das heisst aber nicht, dass wir nur jene Ideen zu denken vermögen, für die es auch ein Wort gibt.
Beim Umgang mit Dantes Texten muss man sich zudem bewusst sein, dass es nicht nur unterschiedliche Abschriften ( und später auch Drucke) des Texts gibt, sondern dass dessen Entstehung selbst auch von einem Arbeitsprozess geprägt war. So liegen die Entstehungszeiträume der einzelnen Teile der Commedia, wenngleich das Werk als eine Einheit gilt, weit auseinander: Zwischen 1306 und 1309 ist Dante mit dem Verfassen des Infernos beschäftigt; zwischen 1308 und 1309 entstehen die ersten Gesänge des Purgatorio, das er bis 1316 fertigstellt. Den letzten Teil, das Paradiso, vollendet Dante erst kurz vor seinem Tod im Jahre 1321.1 Zudem ist die Sprache, in der die Commedia und die Vita Nova geschrieben sind, eine gesprochene Sprache, die sich schriftlich manifestiert hat und uns heute nur noch in dieser Form zugänglich ist.
Um nun angesichts der als unzulänglich empfundenen Sprache nicht zu kapitulieren und gleichzeitig die Erfindung neuer Wörter zu vermeiden,
1 Santagata, Marco: Dante. Il romanzo della sua vita, Mailand 2016, S. 213, 218 und 322 f.
müssen die vorhandenen mit teilweise oder völlig neuem Inhalt besetzt werden. Sender und Rezipient – in unserem Fall Autor und Leser – müssen sich demnach darüber einig sein, wie ein bestimmtes Wort zu verstehen ist. Das lässt sich nicht für alle Begriffe im Vorfeld sicherstellen, aber zumindest für die wichtigen. In diesem Kapitel möchte ich daher festlegen, wie ich die Begriffe «Gedächtnis» und «Erinnerung » zu verstehen und benutzen gedenke. Bei der Untersuchung der Gedächtnisidee in Dantes Werken hat man immer wieder das Gefühl, ein neues Wort für das, was er unter «Gedächtnis» oder «Erinnerung » versteht, erfinden zu müssen. Die entsprechenden Begriffe, die uns in seinen Texten am häufigsten begegnen, sind mente oder memoria, aber es gibt auch eine eindrückliche Zahl an Verben, die auf das Gedächtnis verweisen, wie ricordare oder rimembrare aber auch pregare, was auf das Beten als Gedenken verweist. Es tauchen auch umschreibende Formulierungen dafür auf, wie beispielsweise « im Gedächtnis erneuern» ( nel pensier rinova la paura)2 . Gedächtnis ist für Dante, so scheint es, etwas, das sowohl « sich rückbesinnen», « reflektieren» und «Intellekt» umfasst, aber auch «Seele» als den eigentlichen Sitz des Gedächtnisses.
Um eine geeignete Terminologie festlegen zu können, gilt es zunächst, die bisher in der Forschung gebotenen Perspektiven auf die historischen Gedächtnisvorstellungen zu beleuchten. Im Spiegel der in der Forschung bisher verfolgten Interessen und angewandten Methoden möchte ich meine eigene Herangehensweise herauskristallisieren und dabei prüfen, welche von der Forschung erarbeiteten Ansätze für meine Arbeit geeignet sind und welche nicht. Die in der Forschung verfügbaren Arbeitsbegriffe sollen kritisch beleuchtet werden.
Im Anschluss möchte ich die Begriffe, die der Beschreibung der Gedächtnisidee bei Dante dienen sollen, festlegen. Zum Schluss wird es das Ziel sein, in einem Überblick die von Dante verwendeten Gedächtnisbegriffe aufzulisten. Das daraus resultierende Inventar soll ebenso als Fundament für die folgenden Kapitel dienen.
2 Inf. I, 6. Wenn nicht anders angemerkt werden folgende Ausgaben zitiert: Dante Alighieri: La Divina Commedia. Commento di Anna Maria Chiavacci Leonardi, Mailand 2011, und Dante Alighieri: Commedia, in deutscher Prosa von Kurt Flasch, Frankfurt am Main 2013. Es wird in der Fussnote jeweils nur der Originaltext zitiert, auf die Nennung der Edition und Seitenzahlangaben wird verzichtet.