Tagesgeschichten Erzaehlnachtbroschuere Schreibzentrum phzh 2016

Page 1

Tagesgeschichten News mit mehr Wert

Federer langweilt Nadal S. 02 Noch mehr Dinge, die jeder Student machen sollte S. 03

Warum Alkohol und Zigaret­ ten so gut zusammenpassen S.06


Werte Leserschaft Auch heute versorgt Sie unser Portal «Tagesgeschichten» mit Nachrichten aus aller Welt. Unsere Journalisten berich­ ten mit Augenmass in Echtzeit über die aktuellsten Themen und liefern Ihnen Hintergrundinformationen mit Qualität. Ob Analytisches, Skurriles oder Nachdenkliches – unsere News haben mehr Wert und begleiten Sie durch den Tag. Ihr Redaktionsteam


Tagesgeschichten, 03.November 2015

2

08:03

Federer langweilt Nadal Lorenz Vogel

In einer Altersresidenz / für Sportler jenseits des Lebens Lenz / der einst ganz grosse Star Nadal / und sein alpiner Erzrival / zu schwach in ihren alten Tagen / um einen Tennisball zu schlagen / sich im Ge­ spräch die Stirn nun bieten. Das Wetter bereits disku­ tiert, / sagt Federer unin­ spiriert / zu seinem alten Freund Nadal / «Wie gelb und rund er ist, der Ball» / Der andre un­b eeindruckt dann: / «Das ist mir doch nichts neues Mann! / Lieber würd ich ein Einzel­ zimmer mieten.» 09:14

Ich bin eine Lusche, und das ist auch gut so Helen Kaufmann

Zürich: Die zufriedenen Fau­­len. Heutige Jugendliche sind weniger leistungsbe­ reit, haben aber ein höheres Selbstwertgefühl als früher.

Dies zeigen die Werte einer aktuellen Erhebung. Die Ergebnisse einer nicht repräsentativen Umfrage des schweizerischen Meinungs­ forschungsinstituts (SMFI) zum Thema Leistungsbereit­ schaft und Leistungs­­­­­­f ähig­­­­ keit von Jugendlichen sorgen für Furore: Demnach schät­ zen sich rund 60 Pro­zent der Jugendlichen als we­­­n i­ger leistungsfähig ein als ihre Eltern. Ebenso beant­worten rund ein Viertel der Teil­ nehmen­den die Frage nach ihren per­sönlichen Zie­len in Be­­ruf und Frei­zeit mit nicht leistungs­orientierten Fakto­ ren wie Gesundheit, Familie und ge­nügend Zeit zur Erho­ lung. Wirtschaftsverbände schlagen Alarm, da sie mit­ tel- und längerfristig einen Rückgang der Produktivität und damit eine Schwächung des Wirtschaftsstandorts Schweiz befürchten. Ernst Arnold, Präsident des Verbandes Schweizer Wirt­ schaft mit Zukunft warnt: «Wenn sich die Einstellung der Jugendlichen gegenüber ihrer Leistung nicht schlag­ artig verbessert, wird dies


Tagesgeschichten, 03.November 2015

sowohl für ihren persönlich­ en Lebensstandard als auch für die gesamte Gesellschaft verheerende Folgen haben.» So ist Arnold überzeugt, dass Menschen ohne Leistungs­ bereitschaft längerfristig nicht glücklich sein können. Erstaunlicherweise ist das Selbstwertgefühl dieser Ge ­­ neration, die sich dem Dru­­­ck der Leistungsge­sell­ schaft widersetzt, jedoch im Durchschnitt höher als dasjenige ihrer Eltern: So ge­b en rund 80 Prozent der Befragten, die sich in keinem Bereich als leistungs­ fähig einschätzen, an, mit sich sel­bst zufrieden zu sein. Sogar jeder dritte Jugendli­ che gibt an, der Aus­sage «Ich bin eine Lu­sche, und das ist auch gut so!» ganz oder teilweise zuzustimmen. 09:25

Noch mehr Dinge, die jeder Student machen sollte Nina Vogt

Ökostark, leistungsori­ entiert, sozial integriert, gesellschaftskritisch, so­

3

zi­a l engagiert, up to date, wissbegierig, lebensfreudig, unabhängig, kompromiss­ bereit, formbar, umweltbe­ wusst, weitgereist, openmin­­ded, wortgewandt, ge­­langweilt, einzelkämp­f­erisch, gruppendynamisch, körperbewusst, linientreu, faul?, zielgerichtet, lebens­­­ be­jahend, alternativ, linksorientiert, abgelöscht, kont­rovers, initiativ, vorein­ genommen, interessiert, ist das alles?, wortgewandt, innovativ, experimentier­ freudig, ungebremst, konser­ vativ, willensstark, eifrig, realitätsfremd, verwöhnt … 10:24

Die Bodybuilderin mit dem Puppengesicht Gabriel Mateos Sánchez

Fitnesstrends wirken sich auch auf die Spielzeugin­ dustrie aus. Die neusten Entwicklungen in der Freizeitgestaltung der heranwachsenden Ge­ ner­­­­­ation schlagen sich offen­­sichtlich auch in den ver­k aufsstrategischen Über­-


Tagesgeschichten, 03.November 2015

­legungen der Spielzeugfir­ men nieder. So lancierte die Firma Mattel, die seit den späten 1950er-Jahren die Barbie­puppe produziert, ihr neustes Produkt: Die Fitness­barbie. Abgesehen von einigen k­l­ei­neren Modifikationen (tiefere Stirn, breitere Wangenknochen und ein Flaum an der Oberlippe ist das neuste Modell der weltweit beliebtesten Puppe fast doppelt so schwer wie ihre Vorgängerinnen. Ken, der seit 2011 wiede Bar­­ bies fester Freund ist und nun Ar­­nold Schwarzenegger in seinen besten Jahren glei­cht, wiegt gar beinahe das Dreifache. Diese neuen Anpassungen haben sich gemäss den anatomischen Begebenheiten auch auf die Beweglichkeit ausgewirkt, sodass man den beiden Fi­ guren kaum noch die Beine biegen, geschweige denn die Arme bewegen kann. Alle restlichen Bewegungen wur­ den aufgrund des enormen Muskelzuwachses völlig verunmöglicht. Aber nicht nur die Beweglichkeit wird

4

eingeschränkt, sondern auch die Kleidung. So trägt Ken seit Neuestem nur noch Tanktops und Box­ershorts, während seine BodybuilderFreundin le­d iglich in Leg­ gins und einem Sport-BH trainiert. Das Inventar an Barbie-Zu­ satzartikeln wurde durch ein Fitnesscenter-Puppenhaus inklusive diversen Geräten, Langbank und Gewichten erweitert. Hinzu kommen Mini­atur-Pro­teinshakes und kleine Anabolikaspritzen. Be­kanntlich bringt eine ne­ue Barbie jeweils neue Freu­n­de oder Verwandte mit: In die­­sem Fall sind es der br­ei­­t­ schultrige Besitzer des Fit­ nesscenters sowie des­­sen Onkel, der Drogen­­­­­de­a ler, der die figurbewus­ste Kund­ schaft mit den dazugehöri­gen Zusatzdrogen wie Kokain versorgt, das selbstverständ­­­ lich mit Puder­z ucker imi­ tiert wird. Ob sich diese neue Barbie auf dem Markt behaupten kann, wird sich zwar erst noch zei­ gen, doch Verlaut­barungen anderer Spielzeughersteller lassen ein­deutige Trends ver­


Tagesgeschichten, 03.November 2015

muten. Das dänische Unter­ nehmen Lego teilte nämlich kürzlich mit, eine neue Fit­ness-Serie mit Power­ food-Shops und Solarien als Ergänzung zu Lego City auf den Markt bringen zu wollen und auch die Firma Ravensburg kündigte an, die jüngsten Entwicklungen bei ihrem neuen Chemiebaukas­ ten zu berücksichtigen. 11:19

Zitieren – die neue Paartherapie Michael Sasdi

Es war einmal vor langer Zeit ein älterer Mann, der hatte den Zitteri. Also, genauer gesagt, er hatte ihn nicht immer, sondern nur, wenn er seinem Bruder einen Brief nach Amerika schrieb. Weil es der ältere Bruder war, gab er sich immer Mühe und versuchte deshalb schön zu schreiben. Aber eben, wie das so ist, wenn man sich Mühe gibt, hat man schluss­ endlich nur noch Mühe und zu guter Letzt macht man auch noch Mühe. Er schlug nämlich mit der

5

Faust auf den Tisch, weil ihm die Füllfeder schon wieder verreist war und zwei Wörter verschmiert waren. Er schrie in die Leere seines Zimmers: «Choge Zitteri, Zitteri, Zit­ teri …» Sicher hundertmal, bis der Nachbar an der Türe klingelte. Als er aufmachte, um ihn anzuschnauzen, war es eine Nachbarin. Auf die Frage, wer sie denn sei, ging die ältere Frau nicht ein, sondern meinte nur auf Hochdeutsch: «Uh, was ist denn mit Ihnen passiert, Sie sind ja ganz tintig?!» «Wenn Sie’s genau wissen wollen: Ich hab den Zitteri und jetzt ist die Hand voll Tinte. So ist das.» «Was haben Sie, den Zitieriiii?» Dabei zog sie das I schön in die Länge. Bevor er dazu kam, ihr den Zitteri zu erklären, stand sie schon in der Wohnung und erklärte ihm stattdessen, was Zitieren heisst, und las derweilen seinen Brief. «Sehen Sie: Sie haben zum Beispiel nicht geschrieben, wo das Altersheim Ihrer Schwester ist. Jetzt schreiben Sie eine kleine Zahl über Lotti. Am unteren Bildrand


Tagesgeschichten, 03.November 2015

schreiben Sie die gleiche Zahl und dahinter zum Beispiel: ‚Lottis Altersheim ist in Feutersoey’.» Als er ihr endlich den Zitteri erklären konnte, lachte sie so ansteckend, dass er – ganz entgegen seinen Gewohnhei­ ten – einen Kaffee machte, einen Kaffee Schnaps. Nach der zweiten Runde meinte der alte Mann, er könne doch auch einfach das verschmi­e ­ rte Wort nochmals leserlich unten am Bildrand hinter die Zahl schreiben, anstatt den Wohnort der Schwester. «Das eine tun und das an­ dere nicht lassen», meinte sie darauf süffisant. Jetzt lachten beide und schrie­ ben den Brief ins Reine. So schlossen an diesem Abend in seiner Stube der Zitteri und der Zitieri Freundschaft. 12:42

Warum Alkohol und Zigaretten so gut zusammenpassen Biljana Mojsilovic

… weil sie die Inspiration fördern, weil sie so ungesund sind und weil alles, was

6

Spass macht, ungesund ist. Und weil alle bekannten Kün­stler zigarettensüchtig und Alkoholiker waren. Meine Hoffnung liegt genau bei diesem Umstand: Wenn es bei ihnen mit der Inspiration funktioniert hat, sollte es doch auch bei mir, oder? Ich wäre ja auch gerne eine Künstlerin! 13:17

«King-Kong» will Bremer Polizei seine Identität nicht verraten Erik Altorfer

Sie wurden gestern beob­ achtet, wie sie aus dem ICE von Hamburg ausgestiegen sind. Sie haben sich dann auf dem Bahnhof einen Döner ge­kauft, mit alles, aber ohne scharf. Wir haben dafür Augen­zeugen. Zudem haben die Kameras auf dem Bahn­ steig, in der Bahnhofshalle und auf dem Bahnhofsplatz Sie aufgezeichnet. Ihre Ähnlichkeit mit diesem Hollywoodmonster ist nicht


Tagesgeschichten, 03.November 2015

nur verblüffend, wir sind sicher, dass Sie es sind. Also, wir fragen Sie noch einmal: Wer sind Sie wirklich? Wer versteckt sich hinter dieser Maske? Und vor allem, was haben Sie mit Fay Wray gemacht? Wir können auch Englisch: What happened to Fay Wray? Seit Ihrem New Yorker Auftritt sind über 80 Jahre vergangen, die Welt hat sich verändert! Wie sind Sie nach Europa gekommen? Damals, als Sie zu Ruhm gelangt sind, sind Millionen auf der Suche nach einem besseren Leben von hier, das heisst von Bremerhaven, in die USA emigriert. Millionen Europäer sind vor der Armut geflohen. Und jetzt haben wir es in Europa plötzlich mit diesen neuen «Herausforde­ rungen» zu tun. Ja, wir sind uns tatsächlich unserer Geschichte bewusst, wir über­nehmen Verantwor­ tung für unsere schreckliche politische Vergangenheit, auch wenn wir eigentlich die Gnade der späten Geburt er ­fahren sollten. Wir wollen uns solidarisch zeigen und Flüchtlinge

7

willkommen hei­ssen. Aber von Gorillas steht da nichts! Nichts davon in unserem Grundgesetz. Es ist also bes­ ser, wenn Sie uns nun endlich sagen, wer Sie sind. Klar? 14:32

Spiel mir das Lied von der Kohlengrube Ardita Merdzani und Maja Mladenovic

Im Jahr 1855 war eine Frau mit ihrem Baby in einem Bunker. Sie wiegte ihr Kind und fing an, das Lied von der Kohlengrube zu summen und erinnerte sich … Es war der 11. November 1830. Es war kalt und eisig, ich zog mich an und machte mich auf den Weg zur Ar­­beit. Da sah ich schon die ande­ ren Kinder an ihren Plätzen. Alle froren, obwohl die Tür­ en geschlossen waren. Nach­ dem ich meine zehn Stunden gearbeitet hatte, machte ich mich auf den Heimweg. Plötzlich wurde ich gepackt und weggeschleppt. Als ich wieder sehen konnte, befand ich mich in einer Ko­h ­l­en­­


Tagesgeschichten, 03.November 2015

grube. Ein Mann zwang mich, mich auszuziehen. Er zog seine Hose runter und packte mich. Er befahl mir, das Lied der Kohlen­grube zu singen. Ich sang das Lied und weinte gleichzeitig. 15:57

Wenigstens einmal rülpsen, bitte! Julia Denisi und Melissa Glauser

Liebes Tagebuch Wir befinden uns momentan in den Ferien in China. Ich bin mit meinem Bruder Ja­ son und meinen Eltern hier. Heute gingen wir in ein sehr nobles und edles Restaurant. Meine Eltern hielten uns wie immer eine Predigt: «Bitte, da wir ja nicht als Touristen erkannt werden wollen, bitte ich euch, nach dem Essen zu rülpsen, weil das hier Sitte ist», sagte Mama. Für Jason war das überhaupt kein Problem. Aber für mich, denn ich finde das sehr un­ an­­ständig. Nach dem Essen kam der Chefkoch höchst­ persönlich, um unsere Teller abzuräumen. Jason und

8

meine Eltern fingen sofort an zu rülpsen. Der Chefkoch klopfte sich glücklich auf den dicken Bauch und sah sehr zufrieden aus. Jetzt waren alle Augen auf mich gerichtet. Meine Mut­ter flüster­te mir zu: «Wenigs­ tens einmal rülpsen, bitte!» Aber ich blieb stur. Darauf­ hin ver­blas­s te das Lächeln des Chefs. Und ehrlich ge­sagt, ich glau­ be, da war wirklich ein Haar in meinem Dessert. 16:28

Tiger im Schrank Lukas Ramseier

Er: (stürmt ins Schlafzim­ mer) Überraschung Schatz! Sie: (nackt) Huch! Er: Nicht gerade eine ange­ messene Begrüssung. Sie: Entschuldige bitte, ich meine: Ach! Er: So überrascht? Sie: Du musst zugeben, so früh war mit dir wirk­ lich nicht zu rechnen. Er: Meine verfrühte Rück­ kehr wirkt zwar durch­ aus wie der Beginn


Tagesgeschichten, 03.November 2015

eines abgedroschenen Klischeewitzes, aber könntest du wenigstens so tun, als wärest du darüber erfreut? Sie: Bin ich doch! Er: Ach ja …? Sie: Wirklich! (Er blickt zur geschlossenen Schranktür, dann zu ihr, die etwas rot angelaufen und splitternackt im Bett sitzt, die Decke über die Brüste gezogen, wie es in flagranti er­w ischte Damen in Filmen gerne tun.) Er: Und das? Sie: Und was? Er: Der Schrank! Sie: Was ist damit? Der steht schon immer da. Er: Schon. Aber er ist zu. Sie: Das ist er doch auch immer. Er: Normalerweise höre ich daraus aber keine ver­ dächtigen Geräusche. (Er schweigt für ein paar Sekunden. Aus dem Schrank ist ein leichtes Poltern zu hören. Nachdem er sich seines Verdachts

9

vergewissert fühlt, geht er mit einem entschlossenen Nicken auf den Schrank zu.) Sie: Nicht! Er: Aha! Wusste ich’s doch! Sie: Was wusstest du? Er: Du bist ertappt, meine Liebe. Gib doch einfach zu, dass dein Liebhaber hier drin steckt und erspar uns weitere Strei­ tereien. Sie: Steckt er nicht! Er: Und was ist dann bitte das? (Er schweigt abermals für ei­nige Sekunden und lauscht den verdächtig nach Atem­z ü­gen klingen­ den Geräuschen.) Sie: Dafür gibt es eine schlüssige Erklärung. Er: Nämlich? Sie: Das will ich nicht sagen. Er: Aha! Wusste ich’s doch! Sie: Was wusstest du? Er: Hör auf mit deiner Heim­­lichtuerei. Sobald ich den Schrank geöff­ net habe, wirst du mit all deinen Lügen kon­ frontiert. Wollen wir


Tagesgeschichten, 03.November 2015

10

mal sehen, ob dein An­ ge­b eteter dann immer noch so männlich erscheint.

Geburtstagsgeschenk also nicht sehen? Was für eine Überraschung! Sie: Es ist nicht eingepackt. Und uneingepackt ist es ziemlich gefährlich. Er: Ach so. Natürlich. Wo­r um handelt es sich denn? Um ein Samu­ raischwert? Ein radioaktives Stück Uran? Einen Sibirischen Tiger? Sie: Ja!

(Er greift nach der Schranktür.) Sie: Nein! Er: Gibst du es also zu? Sie: Da ist nicht mein Lieb­ haber drin. Er: Ach ja? Was denn bitte sonst? Sie: Es ist … es ist … Er: Ja? Sie: Dein Geburtstagsge­ schenk. Er: Mein Geburtstagsge­ schenk? Sie: Ja. Er: Drei Monate im Voraus? Sie: Ja. Er: Und es atmet und bewegt sich? Sie: Ja. Er: Jetzt ist aber endgül­ tig Schluss mit dem Theater! (Er greift abermals nach der Schranktür.) Sie: Halt! Er: Ich darf mein eigenes

(Einige Sekunden verblüffte Stille.) Er: Bitte? Sie: Du hast recht, in dem Schrank ist … ein Tiger! Ja genau, ein Sibiri­ scher Tiger! Ich würde die Tür also nicht aufmachen. Er: Du willst mir ernsthaft erzählen, dass du für meinen Geburtstag in drei Monaten einen Tiger besorgt hast? Sie: Ich weiss doch, wie sehr du Katzen magst. Und da ich dir ein grösseres Geschenk machen woll­ te, habe ich dir einen


Tagesgeschichten, 03.November 2015

Tiger gekauft. Er: Drei Monate im Voraus? Sie: Der muss sich doch hier erst einleben und stubenrein werden. Er: Und deshalb sitzt du nackt im Bett? Sie: Auch dafür gibt es eine Erklärung! Er: Schiess los … Sie: Der Tiger! Er … er hat mir das Kleid vom Leib gerissen. Er: Das Kleid vom Leib gerissen. Soso. Sie: Genau! Das rote mit den weissen Punkten, das ich so mag. Mein Lieblingskleid. Er: Das wird mir aber jetzt doch zu blöd. (Erneut greift er nach der Schranktür.) Sie: Nein! Giovanni! Er: Aha! Wusste ich’s doch! Sie: Was wusstest du? Er: Giovanni heisst er also, der Lustmolch! Ein Italiener, was? Sie: Von wem redest du bitte? Er: Von deinem Liebhaber! Sie: Ich habe keinen Lieb­

11

haber. Er: Dann ist Giovanni wohl der Name des Tigers? Sie: Ja. (Er stösst einen tiefen Seufzer aus, schliesst die Augen und reibt sich den Nasenrücken.) Er: Jetzt reicht’s … Sie: Aber Liebling … Er: Nichts da Liebling! Ich komme von einer an­ strengenden Ge­­schäft­ sreise nach Hause, freue mich da­r auf, dich zu se­ hen, muss dich nackt im Bett antreffen, nach­dem du ganz of­fen­­sichtlich deinen Herzallerliebs­ ten namens Giovanni oder Giuseppe oder wie auch immer, mit dem du mich hin­tergehst, in den Schrank gesperrt hast und du hast zu alldem noch die Nerven, mir eine Lüge aufzutischen, deren Absurdität mir die Haare zu Berge ste­ hen lässt. Das ist doch alles zum Ausrasten! (Er reisst die Schranktür auf.)


Tagesgeschichten, 03.November 2015

Sie: Nein! (Ein Tiger stürzt aus dem Schrank und auf ihn. Die Überreste eines zerfetzten roten Kleides mit weissen Punkten hängen dem Tier zwischen den Krallen. Der Mann wird kreideweiss und schafft es gerade noch, dem Tiger zu entkommen, rennt ein paar Runden ver­ zweifelt im Zimmer umher und schliesslich aus der Schlafzimmertür. Der Tiger folgt ihm brüllend.) Sie (seufzend): Männer … Glauben einem aber auch nie was. 17:36

Elektro in Nordkorea Hüseyin Ucmak

Dieses Jahr findet das legen­ däre Elektromusikfestival Lick the Wale in Pjöngjang statt. Trotz vieler Proteste wagen sich die Organisato­ ren in die Höhle des Löwen. Kim Jong-Un erlaubte die­sen Anlass unter der Bedingung, dass alle ausländischen Be­

12

sucher ihre Mobilgeräte am Zoll abgeben. Die Organisa­ toren sind ge­­­­lassen und wollen ihre Elektromusik auf jeden Fall auch den Nordko­ reanern näherbringen. Auch das nordkoreanische Volk habe das Recht, etwas anderes zu hören als nur Lob­­­gesänge für den Diktator, meint der Veranstalter Andi Tobler. «Auch Kim JongUn ist herzlich eingeladen seine Hüften zu schwingen», fügt Andi mit einem breiten Lächeln auf den Lippen hinzu. Sicherheitsbeauftrage des Regimes haben die Mu­ sik auf Propaganda-Material überprüft und keine ge­f ähr­ lichen Inhalte gefunden. Den­n­noch wurden SONYGe­­räte beschlagnahmt, da sie aus Südkorea stammen. Die Techniker des Events konnten jedoch einige Geräte retten, indem sie mit einem Kleber den Anfangsbuchsta­ ben mit einem «P» ersetzten. Ob Kim Jong-Un mit seiner Teilnahme den Anlass wür­ digen wird, steht noch offen. Die Parteisprecher wollten sich nicht dazu äussern und betonten, dass der Führer


Tagesgeschichten, 03.November 2015

sehr beschäftigt sei – zum Wohle des Landes. 18:53

Der König der Heringe Julia Rietze

Johanna die gute Böse träumt davon, Königin zu sein. Sie stellt sich vor, nie­ mandem zu gehorchen und über alle zu regieren. Oft schaut sie sich Horror­ filme an. Sie mag Filme, in denen ein Mensch einen anderen einsperrt und quält. In Wirklichkeit würde Jo­ hanna das aber niemals ma­ chen, denn dafür ist sie zu gut erzogen. Sie entschliesst sich, ein Hau­stier anzu­ schaffen, um wenigstens in ihren eigenen vier Wänden über jemanden oder etwas herrschen zu können. Die Entscheidung gestaltet sich schwierig: Für einen Hund hat sie zu wenig Zeit. Katzen sind unregierbar. Einen Nager in einem kleinen Käfig halten? Das bringt Johanna nicht übers Herz. Ein ausrei­ chend grosses Gehege würde ihren eigenen Lebensraum zu stark einschränken. Am

13

Ende des langen und kom­ plexen Entscheidungspro­ zesses stehen: Die Heringe. Einige Arten lassen sich auch im Süsswasser halten. Heringe sind Speisefische und nicht vom Aussterben bedroht – für Johanna ein unverfänglicher Weg, ihre Machtgier auszuüben. Johanna hat jetzt eine Bade­ wanne voller Fische und sie ist von nun an die Königin der Heringe.


Impressum Die Texte entstanden anlässlich der Schweizer Erzählnacht 2015. Autorinnen und Autoren: Erik Altorfer, Helen Kaufmann, Gabriel Mateos Sánchez, Biliana Mojsilovic, Lukas Ramseier, Julia Rietze, Michael Sasdi, Hüseyin Ucmak, Lorenz Vogel, Nina Vogt, und die Sekundarschülerinnen Julia Denisi, Melissa Glauser, Ardita Merdzani, Maja Mladenovic. Herausgeber: Schreibzentrum PH Zürich 2016. Produktionsleitung: Erik Altorfer und Alex Rickert. Redaktion: Gabriel Mateos Sánchez, Nina Vogt und Amanda Wong. Gestaltung: Pia Fischer. Druck: OK Haller Druck AG. © 2016 Schreibzentrum PH Zürich. Auflage: 150 Exemplare.



Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.