DIE MITTEL DER ZEIT – HERSTELLUNGSINNOVATION IM HOLZBAU Christoph Schindler
Nicht das Gestern, nicht das Morgen, nur das Heute ist formbar. Nur dieses Bauen gestaltet. Gestaltet die Form aus dem Wesen der Aufgabe mit den Mitteln unserer Zeit. Das ist unsere Arbeit. Ludwig Mies van der Rohe 19231 Gegenwärtig können wir beobachten, dass zeitgenössische computergestützte Fertigungstechnologie im Begriff ist, einen Einfluss auf die Architekturentwicklung auszuüben, wie wir ihn seit der Industrialisierung nicht mehr erlebt haben. Um diesen Einfluss in seiner Tragweite zu erkennen, wollen wir im Folgenden anhand des Holzbaus darstellen, was die Zäsur zwischen den Mies’schen “Mitteln unserer Zeit” und früheren Fertigungstechnologien auszeichnet und anschliessend einige Perspektiven aufzeigen. Wir betrachten dazu die Herstellung von Bauteilen wie die Herstellung aller technischen Artefakte als einen Fertigungsprozess2. Wir nehmen an, dass sich jeder technische Fertigungsprozess – ganz gleich welcher Art – aus den drei Komponenten Material, Energie und Information zusammensetzt. Das Darstellen von Prozessen mit dem Umsatz von Material, Energie und Information ist eng verknüpft mit der Geschichte der Allgemeinen Systemtheorie. Norbert Wiener gilt als der erste, der die Information als dritte Kategorie eingeführt hat: “Information is information, nor matter or energy.”3 Dieses Modell ist heute etablierter Standard in der methodischen Konstruktionslehre64. Der schrittweise Übergang der Verarbeitung von Material, Energie und Information vom Menschen zur Maschine lässt uns in Anlehnung an den Technikhistoriker Akos Paulinyi5 drei idealtypische Gruppen von Fertigungsverfahren unterscheiden. Sie sollen ermöglichen, “den Maschinenbegriff zur Analyse des Computers zu nutzen und ihn gegebenenfalls zu erweitern, anstatt die verbreitete Mythisierung des Computers mitzubetreiben”6. Hand-Werkzeug-Technik ist die Material- und Informationsverarbeitung durch einen Menschen, der ein Werkzeug führt. Werkzeugeinsatz in der Produktion technischer Artefakte beginnt mit der neolithischen Revolution 10.000 v. Chr. in Kleinasien. Maschinen-Werkzeug-Technik ist “die Übertragung der Funktionen des Haltens und Führens sowohl des Werkstücks als auch des Werkzeugs vom Menschen auf eine technische Vorrichtung”7. Dabei wird die Verarbeitung von Material durch eine Maschine ausgeführt, um repetitive physische menschliche Leistungen zu ersetzen. Information wird durch einen menschlichen Werkzeugmaschinen-Bediener verarbeitet. Der Ursprung der Maschinen-Werkzeug-Technik liegt in der britischen Textilindustrie in den 1770er Jahren mit der “Waterframe” von Richard Arkwright und der “Jenny” von James Hargreaves8. 92
Informations-Werkzeug-Technik ist die Übertragung der Funktion der Steuerung sowohl des Werkstücks als auch des Werkzeugs vom Menschen auf eine technische Vorrichtung. Dabei wird die koordinierte Verarbeitung von Material und Information durch eine Maschine ausgeführt, um formalisierte physische und intellektuelle Leistungen zu ersetzen. Die ersten Produktionsmaschinen, die mit dieser Technik arbeiteten, waren 1804 in Frankreich die lochkartengesteuerten Webstühle von Joseph-Marie Jacquard. Wie die oben aufgeführten frühen Beispiele aus der Textilproduktion mit Maschinen- bzw. Informations-Werkzeug-Technik zeigen, ist die Übertragung der Material- bzw. Informationsverarbeitung vom Menschen zur Maschine wesensbestimmend für die jeweilige Fertigungstechnologie. Es ist hingegen für das Prinzip der beiden Technologien nicht wesentlich, ob die Energie vom Menschen oder von einer Kraftmaschine zugeführt wird9, denn sowohl Hargreaves “Jenny” als auch Jacquards LochkartenWebstühle waren handbetrieben. Allerdings ist die Kopplung von Arbeitsmaschine und Kraftmaschine (Wasser, Dampf, Elektrizität) ein entscheidender Faktor der Kapazitätssteigerung. Im Gegensatz zu kunstgeschichtlichen Stilbegriffen lösen sich diese drei Technologien nicht ab, sondern überlappen, verstärken und vervollständigen sich gegenseitig – ähnlich wie Alvin Toffler seine Einteilung der Gesellschaftsentwicklung in die drei Wellen Agrargesellschaft, Industriegesellschaft und postindustrielle Gesellschaft beschreibt10. Es kommt also heute gleichermaßen Hand-, Maschinen- und Informations-Werkzeug-Technik zur Anwendung, wobei die grösste Wertschöpfung bei der jeweils aktuellsten Technologie liegt. Dieses Modell der technischen Entwicklung spiegelt sich mit erstaunlicher Klarheit in der Architekturgeschichte wider. Der Holzbau eignet sich für eine solche Darstellung ganz besonders: Wegen seiner leichten spanenden Bearbeitbarkeit und der breiten Verfügbarkeit des Rohstoffs war der Holzbau in vorindustrieller Zeit die wirtschaftlichste Bauweise. Während der Industrialisierung bestimmte mechanisierte Holzbau-Vorfertigung fast vollständig den nordamerikanischen Wohnbestand. Heute zeichnet sich ab, dass der Holzbau wegen seiner hervorragenden computergestützten Infrastruktur in den Schreinereien und Zimmereien eine technische Führungsrolle in der Bauindustrie übernommen hat. Keine andere Konstruktionsweise illustriert die Beziehungen zwischen Fertigungstechnologie und Architektur umfassender über einen vergleichbar langen Zeitraum. Anhand der Geschichte des Holzbaus können wir die drei Fertigungstechnologien auf verschiedenen Ebenen erkennen, sowohl in der Erscheinungsform der Werkzeuge als auch der damit entstandenen Bau-
konstruktionen. Betrachten wir zunächst die Werkzeuge: Innerhalb der gesamten Technikgeschichte des Holzbaus können wir nach unserem Modell drei Gruppen von Werkzeugen identifizieren. Die grundsätzliche Form der Handsäge entsteht zusammen mit der Hand-Werkzeug-Technik etwa ab 3000 v. Chr. in Ägypten. Die Maschinen-Werkzeug-Technik in der Holzverarbeitung tritt ab 1777 in England mit Samuel Millers Patent der Kreissäge in Erscheinung. Die erste Fertigungsmaschine der Informations-Werkzeug-Technik, eine numerisch gesteuerte Fräse zur Herstellung von Helikopterrotorblättern und Flugzeugflügeln, stammt aus einer Entwicklung von John Parsons in den USA ab 1947. Es überrascht zu sehen, dass unsere heutigen Handwerkzeuge sich im Wesen kaum von ihren jahrtausendealten ägyptischen Wurzeln unterscheiden. Gleichermaßen hat sich in den letzten 230 Jahren am Erscheinungsbild der Kreissäge wenig geändert. Und auch eine heutige universelle Fräse für die Holzverarbeitung weist die gleichen Merkmale auf wie ihre Vorfahren im Maschinenbau der 1950er Jahre11. Die Festlegung der prinzipiellen Erscheinungsform von Werkzeugen und Maschinen fällt zusammen mit der Einführung einer neuen Fertigungstechnologie. Der jeweilige Umgang mit Material, Energie und Information prägt das Wesen eines Werkzeugs, während graduelle Verbesserungen beispielsweise der Werkzeuggeometrie oder der Werkstoffe vergleichsweise unerheblich sind. Das gleiche Schema von Hand-, Maschinen- und InformationsWerkzeug-Technik können wir auch an der Geschichte der Baukonstruktion ablesen. In Mitteleuropa ist die Holzkonstruktion der Hand-Werkzeug-Technik das Fachwerk. Bis auf wenige repräsentative Gebäude wurden bis in das 18. Jahrhundert hinein sämtliche Häuser als Fachwerke errichtet, ländliche Bauten sogar bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Qualität und Geschwindigkeit der gesamten Holzverarbeitungskette wurde vom handwerklichen Wissen und Können des ausführenden Menschen bestimmt – der Handwerker verarbeitete gleichzeitig Material (Führen und Halten von Werkstück und Werkzeug), Energie (Übertragung von Muskelkraft) und Information (Steuerung des Handlungsvorgangs). Die Holzverbindungen wurden jeweils individuell für das Fügen zweier Bauteile hergestellt, ohne dass dabei ein weiteres Material zum Einsatz kam: Das erste Element der Verbindung wurde nach Augenmaß erstellt und diente als Schablone für das zweite Element. Für die handwerkliche Einzelanfertigung einzeln zugeschnittener, individuell zusammengepasster Teile hat Rüdiger Albin im Möbelbau den Begriff “Zusammenpassbau” vorgeschlagen12. Peter Benje beschreibt diesen Vorgang wegen der Verwendung des ersten Teiles als Schablone für das zweite ebenso treffend als “Zusammenzeichnen”13. Im Fachwerkbau wurden alle Werkstücke und Konstruktionsteile bei Abbundarbeiten wie Balkenlagen, Dachstühle, Sparrengebinde und Fachwerkwände zum Anreißen angelegt und probeweise zusammengefügt. Dies geschah wegen des grossen Platzbedarfs nicht direkt auf der
Alles dreht sich um Material, Energie und Information – das Modell zeigt heutige Fertigungstechnik als Teil einer kontinuierlichen Entwicklung in der Menschheitsgeschichte.
Wertschöpfung
betr.:Fertigungstechniken
Drei aufeinanderfolgende Wellen von Fertigungstechnologien: Hand-WerkzeugTechnik, Maschinen-Werkzeug-Technik und Informations-Werkzeug-Technik
Zeit
1 Mies van der Rohe, L. Bürohaus, in: G Nr. 1, Juli 1923, S. 3 2 Nach DIN 8580 Fertigungsverfahren sind dies Urformen, Umformen, Trennen, Fügen, Beschichten und Stoffeigenschaften ändern.
6 Buchhaupt, S. (Hrsg. et. al.). 1999. Gibt es Revolutionen in der Geschichte der Technik? TU Darmstadt, Darmstadt 1999, S. 161 7 Paulinyi A. Die industrielle Revolution. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1989, S. 22
3 Wiener, N. Cybernetics, or control and communication in the animal and the machine. MIT Technology Press, New York 1948, S. 155
8 Benad-Wagenhoff, V. et. al. Die Entwicklung der Fertigungstechnik, in: Wengenroth, U. (Hrsg.). Technik und Wirtschaft. VDI Verlag, Düsseldorf 1993, S. 196
4 siehe z.B. in Standardwerken des Ingenieurwissens: Czichos, H. und Hennecke, M. (Hrsg.) Hütte: das Ingenieurwissen. Hrsg. Akadem. Verein Hütte. 33. Aufl., Springer, Berlin 2008, S. K8ff; Grote K.H. und Feldhusen, J., (Hrsg.). Dubbel: Taschenbuch für den Maschinenbau. 22. Aufl., Springer, Berlin 2007, S. F1ff; Pahl, G. und Beitz, W. Konstruktionslehre: Methoden und Anwendung. 7. Aufl., Springer, Berlin 2007, S. 41ff
9 vgl. Marx, K. (1890) Das Kapital : Kritik der politischen Ökonomie. 1. Bd. Dietz: Berlin 1975, S. 394: “Ob die Triebkraft nun vom Menschen ausgeht oder selbst wieder von der Maschine, ändert am Wesen der Sache nichts.”
5 Diese Unterteilung stützt sich auf eine Periodisierung in Handwerk, Mechanisierung und Automatisierung, wie beispielsweise untersucht von Hermann Schmidt 1941, Max Bense 1956 Ladislav Tondl 1964, Günther Spur 1972 und Günther Ropohl 1979. Die konkreten Begriffe Hand-Werkzeug-Technik und MaschinenWerkzeug-Technik gehen auf den ungarischen Technikhistoriker Akos Paulinyi zurück, erstmals in Paulinyi, A. Kraftmaschine oder Arbeitsmaschine: Zum Problem der Basisinnovationen in der Industriellen Revolution, in: Technikgeschichte Bd. 45 (1978) Nr. 2, VDI-Verlag, Düsseldorf 1978, S. 173-188. Der ergänzende Begriff “Informations-Werkzeug-Technik” ist ein Vorschlag des Autors.
11 vgl. dazu Ettelt, B. und Gittel, H.-J. Sägen, fräsen, hobeln, bohren: die Spanung von Holz und ihre Werkzeuge. DRW-Verlag, Leinfelden-Echterdingen 2004, S. 10; Schadwinkel, H.-T. Das Werkzeug des Zimmermanns. Schäfer, Hannover 1986, S. 20/36; Buchhaupt 1999, S. 143
10 Toffler, A. Die Dritte Welle. Zukunftschance. Perspektiven für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Wilhelm Goldmann Verlag, München 1980
12 Albin, R. Grundlagen des Möbel- und Innenausbaus: Werkstoffe - Konstruktion, Verarbeitung von Vollholz und Platten, Beschichte Oberflächenbehandlung, Möbelprüfung. DRW-Verlag, Leinfelden-Echterdingen 1991, S. 85 13 Benje, P. Maschinelle Holzbearbeitung: ihre Einführung und die Auswirkungen auf Betriebsformen, Produkte und Fertigung im Tischlereigewerbe während des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 168
Abbundzeichen in Mitteldeutschland: Systematische Logistik mit Hand-Werkzeug-Technik für individuelle Bauteile (aus Gerner, M. Fachwerk: Entwicklung, Gefüge, Instandsetzung. 7. Aufl., Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, S. 70) 93