Jörn Jacob Rohwer. Die Seismografie des Fragens – Biografische Gespräche

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Die Se i smo g rafie des Frag ens

Biografische G espräche

Salis

Isabel allende, boleslaw barlog, louIs begley, anne bennent, HeInz berggruen, grace bumbry, montserrat caballé, ellIott carter, marIon gräfIn dönHoff, Inge feltrInellI, stepHen fry, antHony gIddens, detlev glanert, danIel JonaH goldHagen, arnon grünberg, franz cHrIstIan gundlacH, HeInrIcH Hannover, bernHard HeIlIger, werner Herzog, davId Hockney, Hans keIlson, HIldegard knef, ute lemper, dorIs lessIng, peter ludwIg, Ian mcewan, artHur mIller, JoHn neumeIer, yoko ono, krzysztof pendereckI, paloma pIcasso, rosamunde pIlcHer, lIselotte pulver, lenI rIefenstaHl, oskar roeHler, guy baron de rotHscHIld, olIver sacks, maxImIlIan scHell, volker scHlöndorff, rIcHard sennett, susan sontag, george taborI, mIcHel tournIer, tomI ungerer, edward upward, vIvIenne westwood, edmund wHIte, robert wIlson

J örn Jacob R oh w e r


impressum Jörn Jacob Rohwer Die Seismografie des Fragens Biografische Gespräche Salis Verlag AG, Zürich www.salisverlag.com info@salisverlag.com Sie finden uns auch bei Facebook und Twitter Lektorat: Patrick Schär, Basel Korrektorat: Ina Serif, basel Buchgestaltung, Umschlag: Bon Bon Büro, Berlin Umschlagbild: Dale Grant, Amsterdam Gesamtherstellung: fgb, Freiburg im Breisgau 1. Auflage 2014 © 2014, Salis Verlag AG, Zürich Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-906195-07-0 Printed in Germany


Inhaltsverzeichnis Essay, Jörn Jacob Rohwer 9 Boleslaw Barlog 33 Heinz Berggruen 44 Elliott Carter 59 Marion Gräfin Dönhoff 103 Bernhard Heiliger 111 Hans Keilson 122 Arthur Miller 167 Leni Riefenstahl 186 Guy Baron de Rothschild 201 George Tabori 228 Edward Upward 241 Louis Begley 259 Montserrat Caballé 274 Inge Feltrinelli 288 Franz Christian Gundlach 313 Heinrich Hannover 324

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Hildegard Knef 340 Doris Lessing 352 Peter Ludwig 369 Yoko Ono 385 Krzysztof Penderecki 397 Rosamunde Pilcher 420 Liselotte Pulver 436 Oliver Sacks 454 Maximilian Schell 471 Susan Sontag 484 Michel Tournier 500 Tomi Ungerer 511 Isabel Allende 527 Grace Bumbry 538 Anthony Giddens 556 Werner Herzog 574 David Hockney 588 John Neumeier 601 Volker Schlöndorff 614


Richard Sennett 627 Vivienne Westwood 638 Edmund White 649 Robert Wilson 671 Anne Bennent 686 Stephen Fry 706 Detlev Glanert 721 Daniel Jonah Goldhagen 736 Arnon Gr端nberg 747 Ute Lemper 762 Ian McEwan 774 Paloma Picasso 788 Oskar Roehler 804

Zum Autor 872

Nachwort 835 Biografien 841 Bildnachweis 855 Register 856 Danksagung 871 7


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Das Rückgrat der Nation Rosamunde Pilcher (1924) Mrs. Pilcher, Sie haben immer einen Whisky neben sich, wenn Sie schreiben, nicht wahr?

Na, hören Sie, so können Sie das aber nicht formulieren – das klingt ja, als hinge ich von früh bis spät an der Flasche! Normalerweise schreibe ich tagsüber, bis ich gegen halb sieben das Abendessen richte. Und nur wenn ich danach noch weiterarbeite, weckt ein Whisky mit Soda meine Lebensgeister wieder auf.

Haben Sie die Parade zu ihrem hundertsten Geburtstag ­ge­sehen? Sie hat die ganze Zeit gestanden, ohne zu wanken.

Stimmt, nicht eine Pause hat sie sich gegönnt – und das bei zwei künstlichen Hüftgelenken! Queen Mum war hart im Nehmen – echtes schottisches Kaliber eben.

Achthundert Liebesromane schreiben sich gewiss nicht Damit hat sie sich selbst ein Denkmal von allein. gesetzt. Sie war wirklich überaus erfindungsreich, auch was ihr eigenes Leben anbetrifft – eine sehr couragierte Frau.

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Auch Barbara Cartland, Ihre Kollegin, wäre fast hundert Gott bewahre, nein! Und war sie nicht geworden. Sie war allerdings scheußlich? Ich muss gestehen, ich keine Schottin, oder? habe sie sehr bewundert.

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Queen Mum hielt sich mit Gin über Wasser, bis sie Ja, sie liebte ihren Gin. Genau wie ­hundert war. den kleinen Verdauungsspaziergang nach dem Lunch.


Vielleicht ein wenig pittoresk in Stilfragen … Offen gestanden habe ich zwar selbst sehr wenig Stil – aber an Dame Barbara reiche ich nicht heran. Übrigens besaß sie ein Haus im schottischen Helmsdale. Als in dem Nest ein kleines Heimatmuseum errichtet werden sollte, hat sie eine große Summe Geld dafür gespendet. Wenn man es heute besichtigt, gelangt man am Ende des Rundgangs in ein »BarbaraCartland-Zimmer«, wo sie als maßgeschneiderte Puppe anzutreffen ist – mit flachsblondem Haar, ganz in rosa gekleidet, einen Fuchspelz um die Schultern, inmitten ihrer Bücher und Fotos platziert, neben sich ein Glas des Honigs, von dem sie stets zu naschen pflegte. Sehr hübsch anzusehen. Drückt man einen Knopf an der Wand, erschallt ganz unerwartet ihre Stimme: »Du und ich im Mondenschein – eines Tages bist du mein …« Gesangsaufnahmen, die sie noch mit über achtzig gemacht hat, stellen Sie sich das bitte vor! Ich schätze, Sie wissen, was Sie noch zu tun haben, Ins Tonstudio gehen, bevor ich sterbe! Mrs. Pilcher! Ich kann mir ja schon mal den Kopf über die passenden Songs zerbrechen. Bedenken Sie den Lohn: ein eigener Raum – im Heimatmuseum!

Und darin ich als ausgestopfte Puppe – ja, das wäre wirklich komisch!

Reden wir über Ihr Leben: Eine Autobiografie haben Sie bisher noch nicht verfasst, aber vielleicht fällt Ihnen schon ein passender Titel dafür ein.

Oh, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, lassen Sie mich einen Moment überlegen. Vielleicht Little Rose. So pflegte meine Mutter mich zu nennen. Obgleich es schon damals eher abwertend und spöttisch gemeint war, weil sie nie zufrieden mit mir war.

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Woran hat sie sich denn so gestört?

An allem: Wie ich sprach, was ich tat, was ich anzog, wo ich hinging – wer ich war … »Little Rose« war fast ein Schimpfwort, das ich später nur mit Mühe wieder losgeworden bin.

Wäre die Mutter heute mit ­Ihnen zufrieden? Es fällt mir schwer, Vermutungen darüber anzustellen. Als ich mit dem Schreiben begann, hatte sie eigentlich nur Spott für mich übrig. Durchschlagender Erfolg wäre ihr lieber gewesen. Dabei handelte es sich um meine ersten Versuche – Veröffentlichungen in kleinen Frauenzeitschriften, mit Anfang zwanzig … Irgendwann nahm ich mir vor, niemandem mehr davon zu erzählen, auch meiner Familie nicht, weil ich dachte: Ich tue, was mir möglich ist, und auch wenn es nicht sehr viel ist, muss ich mich nicht dafür rechtfertigen oder gar schämen. Zeitweilig haben Sie auch ­unter anderem Namen geschrieben. Das war im Zweiten Weltkrieg, während meines Dienstes bei der Marine, als ich zu Stillschweigen verpflichtet war und eigentlich nichts veröffentlichen durfte. Und weil ich schreiben, aber nicht ins Gefängnis wandern wollte, habe ich es unter Pseudonym getan. Sie dienten damals in der ­Königlichen Marine. Was für ein Bild hatten Sie vom ­deutschen Feind?

Hmmm, schwierig … aber kurz gesagt: Wir waren angehalten, ihn zu hassen. Vermutlich hätten wir unseren Auftrag sonst auch kaum erfüllen können. Zum Hass erzogen wurden wir nicht; das hätte uns mit dem Gegner auf eine Stufe gestellt. Natürlich wurde seitens der Regierung alles furchtbar angeheizt, ähnlich wie durch die Propagandamaschinerie in Deutschland. Aber irgendwie hielt uns das auch bei Laune.

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Ihr Mann kehrte schwer ­versehrt aus dem Krieg zurück. Ja. Im April 1940. Er gehörte zur Wurde er in Deutschland Highland Division. Sie hatten Frankverletzt? reich, Belgien und Holland passiert und überquerten gerade den Rhein, als es geschah. Mein Mann befand sich als Beifahrer in einem kleinen Wagen. Als er hörte, dass ein Geschoss auf sie zuschnellte, versuchte er sich durch einen Sprung aus dem Wagen in einen Graben zu retten. Aber das Geschoss war schneller, traf ihn und durchbohrte seinen Leib. Er war sehr schwer verwundet. Man brachte ihn in ein kleines Feldlazarett mit Sturmlampe, wo es einem jungen Arzt gelang, den Verletzten wieder zusammenzuflicken, obgleich er dafür chirurgisch gar nicht ausgebildet war. Später, im Londoner Militärhospital, waren die Ärzte von dem Ergebnis dieser Notoperation überaus beeindruckt. Sie brachten meinen Mann dann langsam wieder auf die Beine. Einige Zeit nachdem er wieder zu seiner Division zurückgekehrt war, wurde er ein zweites Mal verwundet und endgültig mit einem Lazarettschiff nach England zurücktransportiert. Welche Erinnerung haben Sie an deutsche Gefangene, die nach dem Krieg in britischen Lagern interniert waren?

Persönlich gekannt habe ich keinen. So viele gab es ja auch nicht, oder …? Ich schätze jedoch, sie wurden gut behandelt, von den Landfrauen verpflegt und dergleichen. Oft wurden sie ja zur Feldarbeit herangezogen, um unsere Landwirte zu entlasten, die gerade selbst dem Krieg entronnen waren. Sie waren wunderbare Arbeitskräfte, wurden aber auch entlohnt.

Wussten Sie, dass Hunderttau­ sende Deutsche durch das ­Verhalten der alliierten Sieger­ mächte ums Leben gekommen sind – zu einem beträchtlichen Teil, weil man sie in der ­Gefangenschaft verhungern ließ?

Nein das habe ich nicht gewusst. Aber das betraf doch vorwiegend die russischen Lager, oder? Für mich wäre es schwer vorstellbar, dass irgendjemand in Großbritannien wirklich grausam behandelt worden wäre. Zwangsarbeit 423

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hat es hier mit Sicherheit nicht gegeben. Nebenbei bemerkt haben britische Soldaten die deutsche Gefangenschaft vermutlich nur überstanden, weil viele von ihnen vorher die englische Privatschulerziehung »genossen« haben. Schlimmer kann es nämlich kaum kommen! Sind Sie eigentlich ein klassen­ bewusster Mensch? Klassenbewusst?! Ich hasse Klassenbewusstsein! Ebenso Rassismus. Beides ist völlig sinnlos, weil es Menschen auseinandertreibt. Ein problematisches Thema hierzulande. Obwohl ich glaube, dass die Nachkriegsgenerationen einen Bann gebrochen hat. Wie meine Kinder, die Freunde aus allen Schichten der Gesellschaft mit nach Hause brachten, ohne einen Unterschied zu machen. Für meine Generation wäre das undenkbar gewesen. Wir waren noch sehr geprägt durch die viktorianischen Werte unserer Eltern. Ihren Büchern ist er anzu­ merken, dieser Sinn für die Obwohl die Menschen in meinen ­gewissen Unterschiede … Geschichten kein großartiges Leben führen und nicht der Oberschicht zuzurechnen sind. Sie sind ganz gewöhnliche Mittelmenschen. Übrigens, viele der Adligen, die ich kenne, kommen gerade so über die Runden, indem sie Früchte aus ihrem Obstanbau verkaufen, Zimmer vermieten oder ihre Besitztümer für Touristen öffnen. Ziemlich gewöhnliche Verrichtungen, nicht wahr? Gegen einen Adelstitel hätten Sie selbst bestimmt nichts Natürlich nicht – allerdings würde einzuwenden. sich dadurch weder an mir noch an meinem Umfeld etwas ändern. Für meinen Mann wäre es vielleicht verdrießlich. Ich »Dame Rosamunde«, er nur »Mr. Pilcher« – das wäre ihm wohl nicht so lieb.

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Für Sie ein Grund, den Titel zurückzuweisen?

Nein, nein! Ich würde ihn schon annehmen und mich vielmals dafür bedanken.

Sie haben oft betont, dass Sie an Politik nicht interessiert sind. Alle Ihre Bücher beweisen es. Dennoch fragt man sich, wie es einer britischen Autorin möglich ist, ohne eine Spur von Kritik über die Upper ­middle class zu schreiben.

Meinen Sie, ich sollte sagen, wir seien alle total verkommen!? Wir sind das Rückgrat der Nation! Jeder, der ein großes Anwesen hat, bringt viele Stunden damit zu, sich in der Kirche, der Gemeindearbeit oder in Vorständen zu engagieren. Das sind Menschen mit einem hohen Maß an Verantwortung. Im Übrigen sind wir ein ziemlich verschrobenes Volk. Nirgends auf der Welt gibt es mehr Exzentriker als in England. Es wäre eine Schande, gerade diese Eigenart gering zu schätzen.

Und wie definieren Sie den ­Exzentriker? Figuren, die wirk­ lich aus dem Rahmen fallen, gibt es in Ihren Büchern doch gar nicht, von Außenseitern oder Minderheiten ganz zu schweigen.

Stimmt … Das heißt, nein: Die eine oder andere Tunte taucht schon bei mir auf. Sie verkaufen dann Blümchen oder Antiquitäten und sind immer schrecklich süß. In einem meiner Bücher hatte ich auch eine nette, kleine pakistanische Dame, die einen Laden führt. Aber ich will das Thema gar nicht beschönigen; ich schreibe nicht darüber, weil ich einfach zu wenig davon verstehe. Ich meinte auch mit »Exzentrikern« keine Außenseiter, niemanden, der anders ist als die anderen. Sondern Menschen, die ungewöhnliche, komische Leben leben, sich Kitsch an die Bluse heften, Blödsinn machen und so. Die sind doch drollig. Wissen Sie, die Welt, in der wir hier oben in Schottland leben, ist sehr altmodisch und unschuldig. Abgesehen von Edinburgh und Glasgow ist der Rest des Landes mehr oder weniger so, wie er immer schon gewesen ist.

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Wie kamen Sie eigentlich dazu, den britischen PEN-Club als »eine Vereinigung von Schwät­ zern« zu bezeichnen, »die vom Schreiben keine Ahnung ­haben«? Fühlten Sie sich un­ verstanden, gekränkt oder von ihnen verschmäht?

Nein, ich hab nur nichts am Hut mit dieser … Vereinsmeierei. Es bringt mir einfach nichts, dies ganze Gerede vom Schreiben. Auch in Schottland gibt es diese betont linksorientierten Autoren, die man schon aus zehn Meilen Entfernung erkennen kann. Ich zumindest. Ich mag zwar aussehen wie eine Hausfrau, aber wenn ich in Erscheinung trete, dann, nun ja, ich möchte sagen – gepflegt, Sie wissen schon. Aber die, vor allem die jungen Frauen, benehmen sich dann so dermaßen daneben … Bloß weil sie glauben: Das ist diese dumme alte Schachtel, die Kitschromane schreibt … Da gibt’s dann wenig Verständigung. Wissen Sie, eigentlich spreche ich ein schönes Englisch, aber wenn es sein muss, kann ich auch sehr »Dundee«!

Mit der Aufgabe des PENClubs, sich für die Rechte Natürlich. Aber ich habe auch vier ­diskriminierter oder verfolgter wunderbare Agenten, die meine Rechte Schriftsteller und Autoren zu und Interessen bestens vertreten. engagieren, hat das alles herz­ lich wenig zu tun. Ach ja – und sonst? Einen Anwalt, einen Wirtschaftsprüfer, einen Aktienmakler. Und eine Sekretärin. Na, da sind Sie ja bestens beschäftigt. Die aber auch!

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Sie haben einmal gesagt, dass Sie rückblickend Ihr Leben gern als Sängerin zugebracht hätten. Die Hauptfigur Ihres Buches Wintersonne ist S­ängerin und Schauspielerin. Gibt es Gründe für Sie, sich zu wünschen, ein anderer Mensch zu sein?

Nein. Ich bin schon sehr zufrieden mit mir. Es wäre auch undankbar, sich anderes zu wünschen, weil mich das Leben doch sehr beschenkt hat. Vielleicht wäre eine Malerin aus mir geworden, wenn ich nicht mit dem Schreiben begonnen hätte, weil ich auch zeichnerisch sehr begabt gewesen bin. Eine Sängerin oder Pianistin hätte ich nur der Ausbildung wegen und zu meiner eigenen Freude werden wollen, nicht aus beruflichen Gründen. Ich hatte sowieso nie die geringste Chance, auch nur daran zu denken. Darum habe ich meine Talente frühzeitig ins ­Schreiben investiert.

Wie beurteilen Sie rückbli­ ckend Ihre schriftstellerische In jüngeren Jahren ging mir das Entwicklung? ­Schreiben viel leichter von der Hand, mitunter geradezu spielerisch. Ich brachte eine Kurzgeschichte pro Tag zustande, so mühelos, als ginge ich auf Schmetterlingsjagd. Je älter ich wurde, desto mehr entwickelte es sich zu einer Aufgabe, desto höher wurde mein Anspruch an die Texte, desto intensiver gestaltete sich auch die Arbeit daran. Von leicht konnte keine Rede mehr sein. Ein Buch wie Die Muschelsucher hätte ich mit dreißig noch nicht schreiben können. Weil ich damals nicht über die entsprechende Erfahrung verfügte. Insofern ist der schriftstellerische Prozess auch eine sehr persönliche Entwicklungsgeschichte. Im Gegensatz zu früher ge­ fallen Sie sich heute so, wie Sie sind. Würden Sie sich als glücklichen Menschen bezeichnen?

Mich stört das Wort »glücklich« in diesem Zusammenhang. Die Menschen denken viel zu sehr ans Glücklichsein. Darum geht es nicht im Leben. In Wirklichkeit geht es ums Zurechtkommen. Darum, das Leben selbst zur Erfüllung werden 427

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zu lassen. In eigener Verantwortung. Wenn man etwas will, muss man etwas dafür tun und nicht erwarten, dass es geschieht. So ist das mit dem Glück. Als junge Frau haben Sie das sicher anders gesehen. Ja, aber das war keine sehr glückliche Zeit für mich. Sechs Jahre meiner Jugend waren vom Krieg bestimmt. Alles, was Spaß machte, kam zu kurz – Partys, Theater, Kino … Kurz nach Kriegsende habe ich dann geheiratet. Wir zogen nach Schottland, wo ich mich total isoliert fühlte und bald mit vier kleinen Kindern herumhockte. Und dann dieses gotterbärmliche Wetter! In den ersten zehn Jahren alle Sommer komplett verregnet! Ich sehnte mich nur zurück nach Cornwall. Und blieb trotzdem. Ich glaube, ich habe damals nie ans Glücklichsein gedacht, sondern daran, was ich noch aus meinem Leben machen könnte. An das Glück knüpfte ich die geringsten Hoffnungen. Und warum? Weil ich es nicht für möglich hielt, dass mir jemals etwas Gutes widerfahren könnte. Ein Zustand, der zur Bestimmung wurde und den Wunsch in mir weckte, es möge eines Tages anders kommen, wenigstens in der einen Form von Schaffen, die mir erfolgversprechend schien – dem Schreiben. Angenommen, Sie könnten noch einmal von vorn be­ ginnen – würden Sie sich auf ein Familienleben konzen­ trieren oder darauf, Ansehen und Erfolg als seriöse Literatin zu erlangen?

Ich glaube, ich muss mich gar nicht entscheiden, weil ich beides verwirklicht habe. Meine Karriere war ein sehr, sehr langer Aufstieg über ungezählte Stufen, jede zu ihrer Zeit. Ein Zurück hat es nicht gegeben, aber auch keine Regression. Es war ein lebenslanger Prozess. Zu Beginn meiner Laufbahn war es ein Hin und Her zwischen Kindern, Küche und kreativem Schaffen, aber irgendwie habe ich es immer gemeistert. Erst als ich

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zweiundsechzig war, wurde Die Muschelsucher veröffentlicht, und auch da war ich nicht mit einem Schlag berühmt. Kein Mensch hat mich gekannt, mein Leserkreis war winzig klein. Trotzdem war es recht beachtlich, was ich verdiente, ich konnte sogar schon meinen Kindern aushelfen. Als ich sehr hart weiterarbeitete, folgten die ersten Veröffentlichungen in Amerika, sogar in US-Magazinen, die sehr hohe Honorare zahlten. Und von da an ging’s bergauf. In puncto Geldverdienen haben Sie sich immer als emanzipierte Frau bezeichnet. Zu den zentralen Anliegen der ­Frauenbewegung zählte aber ursprünglich auch die sexuelle Gleichberechtigung. Keine ­Ihrer Heldinnen hat viel dafür übrig, und persönlich sind Sie Fragen in diese Richtung immer ausgewichen. Haben Sie ein eigenes sexuelles Bewusst­ sein, Mrs. Pilcher?

Eine verführerische Frage, mein Herr! Da sitze ich hier in meiner Küche und soll Ihnen Auskunft über mein sexuelles Bewusstsein geben … Dazu will ich besser gar nichts sagen, sonst wird es nachher überall breitgetreten.

Sie müssen’s ja nicht gleich so tragisch sehen. Nein, natürlich nicht … Aber unter »feministisch« verstehe ich a: dass Frauen das gleiche Geld für die gleiche Arbeit verdienen wie Männer; b: dass sie tun und lassen können, was sie wollen, egal ob sie sich für ein berufliches Umfeld oder primär für die Arbeit im Haushalt entscheiden – beides sollte selbstverständlich sein und nicht immerzu bewertet werden; und c: bin ich, was die sexuelle Frage anbetrifft, die Letzte, die sich irgendwie einmischen oder gar abfällig dazu äußern würde, denn was andere Leute tun, geht mich überhaupt nichts an. Mir reicht, was ich mit meinen vier Kindern ausgestanden habe. Das war alles andere als beschaulich …

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In sexueller Hinsicht? Oh ja, hören Sie mir auf – aber wenigstens hat es keine größeren Verirrungen gegeben, ich meine, Lesbierinnen und dergleichen …

Die private Welt der Rosamunde Pilcher scheint wenig Raum für Zufälle zu lassen – immer ist alles tadellos organisiert, geordnet und im Voraus schon geplant: Glück, Erfolg, Schön­ heit, die gesamte Lebens­ führung, als ob es nie anders gewesen wäre und Sie schon als Kind gewusst hätten, ­worauf Sie hinauswollten …

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Nein, ich glaube nicht – ich habe mich, auch in der Schulzeit, nie in eine Frau verguckt … Vermutlich, weil ich, obwohl eine ältere Schwester um mich war, im Grunde nur mit Jungen aufgewachsen bin. Nachbarsjungen, Spielgefährten, Cousins – wir zwei Mädchen waren ständig mit ihnen zusammen, gingen an den Strand, zu Picknicks, auf Fahrradtouren, sodass ich sehr an Jungen gewöhnt war und mich nach der Geborgenheit einer lesbischen Beziehung gar nicht sehnte. Und später, in meiner Ausbildungszeit, sind mir so viele schöne junge Männer nachgelaufen … Hunderte! Oh ja, ich war bildhübsch. Sehr spaßig ist das gewesen. Jedenfalls brauchte ich so eine Beziehung nicht. Heute habe ich zwar viele Freundinnen, die ich sehr liebe, aber eine intime Beziehung wäre nichts für mich.

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Haben Sie sich in Sachen Liebe jemals selbst zu einer Frau »verirrt«? Da Sie von Exzentri­ kern, also auch Gestalten wie Edith Sitwell, Lady Ottoline Morrell oder Virginia Woolf, eine so hohe Meinung haben, ist die Frage nicht ganz abwegig.

Stimmt haargenau, absolut getroffen! Ich habe immer gewusst, was ich wollte, was für ein Leben ich leben, was für einen Mann ich haben wollte. Auch vier Kinder habe ich mir immer gewünscht und bekommen. So war ich, so bin ich – wenn ich mir etwas vornehme, schreite ich zur Tat. Ich bin nicht unbedingt berechnend, aber doch sehr vorausschauend und verhalte mich entsprechend.

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Haben Sie eigentlich jemals im Leben die Kontrolle verloren oder sich einfach nur gehen lassen?

Sie meinen – in sexueller Hinsicht?

Wenn Sie die Frage so ­verstehen … Also, vor meiner Ehe, als ich im Fernen Osten lebte, hatte ich durchaus Verhältnisse mit verheirateten Männern. Aber nie sehr tief gehend. Überhaupt war ich niemals eifersüchtig oder gar verrückt vor Liebe. Und darüber bin ich sehr froh. Mir ist, als wäre ich von einer Krankheit oder Verunstaltung verschont geblieben. Nicht dass ich mich deswegen für einen besseren Menschen hielte – nein, ich betrachte es als eine glückliche Fügung, dass ich derartige Gefühle auch in jungen Jahren nicht gekannt habe, weil sie nur alles verderben. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass Sie immer sehr in sich Wahrscheinlich, ja. In Gefühlsdingen ­gefangen waren. habe ich nie den Kopf verloren. Nie. Über Ihre Ehe haben Sie einmal gesagt: »Die ersten drei Jahre waren die einsamsten meines ganzen Lebens.« Warum haben Sie überhaupt geheiratet oder nicht spätestens nach drei ­Jahren das Weite gesucht?

Weil ich mich für das Leben in den Highlands entschieden hatte und mich der Situation anpassen wollte, wie ich sie dort vorfand. Weil ich mit einundzwanzig dem Dasein eines jungen Mädchens entwachsen war und mein Leben selbst gestalten wollte. Ich hatte drei Jahre in Übersee zugebracht, war den Orten meiner Kindheit und Jugend durch Ausbildung und Kriegsdienst entwöhnt. Ich war erwachsen geworden und hatte die Wahl zwischen einer beruflichen Laufbahn in London oder einer Heirat.

Und warum entschieden Sie sich fürs Heiraten?

Ich glaube, weil ich sehr müde war. Die Zeit im Fernen Osten war sehr 431

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aufreibend, ich war sehr krank gewesen … Wie so viele Menschen sehnte ich mich nach dem Ende des Krieges danach, endlich sesshaft zu werden, zur Ruhe zu kommen. Eine Art Nestinstinkt. 1946 war das Jahr der Eheschließungen. Alle wollten vergessen, was geschehen war, wieder zueinanderfinden, eine Familie gründen. Sie haben oft betont, dass Ihre Jahrzehnte währende Ehe vor allem eines gewesen sei: harte Arbeit. Glauben Sie, dass das Eheversprechen heute noch ­immer eine angemessene ­Voraussetzung ist, um eine Partnerschaft zu führen?

Eher nicht. Obwohl ich kaum darüber zu befinden habe. Ich halte es jedoch für gut, wenn zwei vor einer Eheschließung zusammenleben, weil sie sich dadurch besser kennenlernen. Mein jüngster Sohn lebt seit acht Jahren mit seiner Partnerin zusammen, sie haben zwei Kinder und sind nicht verheiratet. Stört mich überhaupt nicht.

Dass zwei andere Ihrer Kinder sich scheiden ließen, hat Sie Ja, aber nicht sehr, weil sie keine Kinaber schon gestört. der hatten. Das Ganze war furchtbar anstrengend, unnütz und teuer – ein dummes Theater, das mir auf die Nerven ging. Aber wir haben es hinter uns gebracht. Sie haben Ihren Kindern von Ihren Bücher-Millionen bereits beträchtliche Summen über­ tragen. Sogar die Urheberrechte haben Sie ihnen vermacht. Was wäre, wenn nun eines der Kinder das makellose Image der Rosamunde Pilcher beschädigt?

Ich wäre sehr verletzt. Wahrscheinlich wäre ich noch nicht mal in der Lage, mich dagegen zu wehren. Aber ich weiß, dass meine Kinder niemals dazu fähig wären. Weil ich doch mit allen freundschaftlich verbunden bin und sie alle, ich möchte nicht sagen, dankbar sind, aber doch die Stabilität, in der sie jetzt leben, sehr zu schätzen wissen: dass sie ihren Kindern eine Ausbildung ermöglichen können und dergleichen … Ich meine, von Zeit zu Zeit haben sie mich schon angegriffen, zum Beispiel, weil ihnen meine

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Äußerungen in einem Interview missfielen. Dann waren sie voller Ablehnung, kamen mit Vorwürfen, die ich nie für möglich gehalten hätte. Und ich … ich war einfach verletzt. Tief verletzt. Über Tage war mir das Herz ganz schwer … Es stört mich nicht, wenn man hinter meinem Rücken über mich spricht. Ich kann viel weniger damit leben, wenn man mir den Ärger ins Gesicht schleudert. Das haut mich um … Wie es scheint, bin ich ziemlich verletzlich. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich nur wenige sehr enge Freunde habe. Wie gehen Sie mit Lügen um, Mrs. Pilcher? Hmmm … Ich kann nur sagen, ich lüge nicht und mag es nicht, wenn andere lügen. Ich spüre, wenn man mir keinen reinen Wein einschenkt. Belogen zu werden, ist das Schlimmste. Denn was steckt dahinter: Dass der andere sich schämt, etwas verheimlicht oder verbirgt? Warum nicht die Wahrheit sagen? Wenn man einmal mit dem Lügen anfängt, hört man nicht mehr auf. Vertrauen ist das Wichtigste auf der Welt – es ist, glaube ich, noch wichtiger als die Liebe. Vorhin haben Sie kurz Ihre Schwester erwähnt. Sie haben es meist vermieden, in der ­Öffentlichkeit über sie zu spre­ chen. Aus welchem Grund?

Weil sie ziemlich früh aus meinem Leben verschwunden ist. Sie hat einen Marineoffizier geheiratet und ist mit ihm nach Amerika gegangen. Danach habe ich sie nie mehr gesehen. Wir standen einander nicht sehr nahe, waren schon als Kinder kaum zusammenzubringen. Sie hat sehr viel gelesen, während ich allein oder mit anderen Kindern spielte.

Lebt Ihre Schwester noch?

Nein, sie ist mit vierundfünfzig an Krebs gestorben.

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Wie jene amerikanische Lebe­ dame in einem Ihrer Romane, die nach vielen Jahren aus den USA zurückkehrt, ihr Dasein überdenkt und kurz darauf ­einem Krebsleiden erliegt.

Ich weiß, von welcher Figur Sie sprechen, aber meine Schwester war keine Lebedame, sondern eine eher traurige, kleine Person. Unglücklich verheiratet. Von Amerika enttäuscht. Beide Söhne im Vietnamkrieg dahingerafft. Die einzige Tochter bei einem Autounfall verloren, kurz bevor sie selber in todkrankem Zustand die Klinik verlassen hatte, um in Frieden zu Hause zu sterben … Ein ziemlich tragisches Leben.

Welchen Platz hat Ihre ­Schwester, so wie Sie sie e­ rinnern, heute Je mehr ich an sie zurückdenke, desto in Ihrem Leben? klarer wird mir, wie viel Pech sie hatte. Sie kam 1919 in Australien zur Welt, wo meine Eltern nach dem Ersten Weltkrieg lebten, verbrachte dort fünf Jahre, bis die Familie zurück nach England zog. Kurz nach meiner Geburt wurde mein Vater, der im öffentlichen Dienst beschäftigt war, nach Burma versetzt. Ich bin ihm also gar nicht erst begegnet. Die andere Kleine aber, ein Mädchen von fünf Jahren, hat ihn damals verloren – einen geliebten Menschen, der niemals wiederkam. Den Vater zu entbehren, um mit einer wenig sympathischen Mutter und einem Horrorbaby, der neuen kleinen Schwester, zurückzubleiben, das muss sehr traurig für sie gewesen sein. Ich habe immer gespürt, wie frustriert meine Schwester war. Keiner ihrer Träume hat sich je erfüllt. Vielleicht gerade weil sie ein so nutzloses, jammervolles Geschöpf gewesen ist. Hat Sie das stärker gemacht? Ja! Mich hat das um vieles stärker gemacht. Weil ich erkannte, dass sie sich nicht zurechtfand in ihrem Leben, dass sie unfähig war zu tun, was sie tun wollte und dafür einzustehen.

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Klingt nicht nach einem Happy End – im Gegensatz zu den Stimmt, aber auch in meinen Büchern meisten Ihrer Bücher … löse und glätte ich nicht alles – häufig bleiben am Schluss noch viele Fragen offen, die den Leser dann begleiten. So gesehen schreibe ich auch keine happy endings, sondern hopeful endings. Ein wirkliches Ende kann es ja auch gar nicht geben. Weil das Leben doch immer weitergeht. Nicht wahr?

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Foto: Dale G rant

Jörn Jacob Rohwer graduierte am University College London, war Stipendiat des DAAD, der Villa Aurora sowie der Duke University. Er hielt Lesungen und Vorträge in Deutschland und den USA und unterrichtete an der Universität der Künste in Berlin. Seine Essays, Porträts und Konversationen wurden in renommierten Verlagen, in Zeitungen, Magazinen und Anthologien veröffentlicht, in mehrere Sprachen übersetzt sowie von der Huntington Library in San Marino, Kalifornien archiviert. 2005 erschien sein Band Hinter dem Ruhm. Gespräche (Steidl), 2011 folgte das auf Gesprächen basierende Buch Veruschka. Mein Leben (DuMont). www.jjrohwer.de 872


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