Gabriele Kögl. Brief vom Vater. LESEPROBE

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Gabriele Kögl BRIEF VOM VATER

Roman
Elster & Salis WIEN
Elster & Salis WIEN

Gabriele Kögl Brief vom Vater ROMAN

Verlag Lektorat

Schlussredaktion

Gestaltung und Satz

Gesamtherstellung

Gabriele Kögl

Brief vom Vater

Roman

Elster & Salis GmbH, Wien

wien@elstersalis.com

www.elstersalis.com

Anja Linhart

Senta Wagner

Michael Balgavy, DWTC

CPI Books GmbH, Leck

1. Auflage 2023

© 2023, Elster & Salis Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-03930-051-8

Aber trotzdem, trotzdem –der Vater war immer der Vater.

Franz Kafka, Brief an den Vater

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Er habe sich einen Plastiksack über den Kopf gezogen, sagte der Feuerwehrhauptmann. Rosa wollte ihn nicht sehen, und der Feuerwehrhauptmann sagte auch, es sei besser so. Ein schöner Anblick sei es nicht. Rosa blieb draußen stehen, vor der aufgebrochenen Tür. Ob es ein Unfall gewesen sei, fragte sie. Sie könnte besser damit leben, wenn es ein Unfall gewesen wäre. „Kann sein“, sagte der Feuerwehrhauptmann, „aber ich glaube es ehrlich gesagt nicht.“ Er reichte ihr den Brief, den er in Severins Hand gefunden hatte.

Severin hatte sich in letzter Zeit zurückgezogen, war ein paar Tage nicht bei ihr aufgetaucht, wenn er zu Hause war. Rosa hätte bei ihm klingeln können oder ihn anrufen, aber sie ließ ihn in Ruhe, wenn er es brauchte. Er wusste, er konnte jederzeit zu ihr kommen, hinauf in den ersten Stock des Hauses. Er war kein Kind mehr, nach dem sie dauernd hätte schauen müssen. Vor einem Monat hatten sie noch zusammen seinen Vierziger gefeiert. Nur er und sie. Es war ihr da schon aufgefallen, dass er kein Bedürfnis hatte, seine Freunde einzuladen. Als wäre ihm der Vierziger nicht egal gewesen, als hätte er ihm wehgetan und als wollte er diesen Schmerz am ehesten mit seiner Mutter teilen. Vielleicht hatte er sich gedacht: Viel habe er nicht erreicht bis zum Vierziger.

Das halbe Haus gehörte Severin. Aber dazu hatte er es nicht selbst gebracht, er hatte es von seiner Großmutter geerbt. Die andere Hälfte hatte Rosa bekommen. Er hatte sich praktisch nichts erarbeiten müssen. Und im Haus hätte viel gerichtet gehört. Rosa hatte ihn auch immer wieder gefragt, wann er es denn angehen würde. Im Bad waren die Leitungen

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so verkalkt, dass sie fast kein Wasser mehr durchließen. Und überhaupt, das Haus war feucht und hätte längst trockengelegt werden müssen. Rosa merkte es nicht so, oben, im ersten Stock, aber wenn sie unten bei Severin hineinging, fiel ihr auf, wie muffig und modrig alles roch.

Warum gerade mit einem Plastiksack, hätte Rosa gerne gewusst und hielt den Brief in der Hand, den Severin in der Hand gehalten hatte, als er Ernst gemacht hatte mit dem Vorhaben, das er sich wahrscheinlich schon länger ausgemalt und auf das er sich offenbar gründlich vorbereitet hatte. Warum hatte er überhaupt diesen Brief in der Hand? Wollte er seiner Mutter damit etwas sagen oder seinem Vater, in der wahnwitzigen Vorstellung, er könnte sich über den Brief direkt mit dem Vater verbinden in einer anderen Welt? Vielleicht hätte sie ihm den Brief nicht geben sollen, damals. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Aber Rosa hatte gedacht, er habe auch ein Recht darauf, zu erfahren, was in dem Brief stand, weil sich damals alle gefragt hatten, warum. Es gab keine Erklärung, weil Sigi ja offensichtlich glücklich war mit der neuen Frau und dem neuen Kind. Erst als der Brief ankam, von der kleinen Stadt in der Nähe von Innsbruck herein in die Südsteiermark, hatten plötzlich alle gewusst, warum. Severin war damals auch schon kein kleines Kind mehr, sodass sie den Brief vor ihm hätte verheimlichen müssen.

Rosa war auch nie im Streit mit Elvira gewesen, der zweiten Frau von Sigi. Natürlich hatte es unschöne Szenen gegeben bei der Trennung, aber die hatten nichts mit Elvira zu tun, die es damals noch gar nicht gegeben hatte in Sigis

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Leben. Später kam der Vater immer wieder einmal vorbei mit dem kleinen Sohn, um den großen zu besuchen. Der Kleine war herzig, der Halbbruder vom Großen, und man sah, welche Freude der Vater gehabt hatte mit dem neuen Kind. Er erzählte auch voller Stolz, was er alles mit ihm machte, wenn die Frau arbeiten ging. Er wickelte ihn sogar, was er bei seinem ersten Buben nie getan hatte. Und wenn er von der Arbeit heimkam und die Frau wegging, zur Arbeit, wie sie sagte, dann machte er dem Kleinen das Abendessen und legte ihn schlafen und er war ganz stolz darauf, dass er es konnte und der Kleine es gernhatte, wenn der Vater bei ihm war und sich um ihn kümmerte.

Rosa wollte er immer noch beweisen, dass er ein guter Vater war. Aus schlechtem Gewissen heraus vielleicht, weil er es bei Severin nie so deutlich gezeigt hatte. Oder er wollte Rosa zeigen, dass er sich weiterentwickelt hatte, dass er nicht mehr derselbe war, und bestimmt wollte er ihr demonstrieren, dass er es gut erwischt hatte mit der jungen Frau und dem Haus, das sie geerbt hatte und wo es immer etwas herzurichten gab.

Severin fuhr immer wieder einmal hinaus, auch wenn es weit war von der Südsteiermark in die Innsbrucker Gegend, zu seinem Vater und dessen neuer Frau, oder er schaute bei ihnen vorbei, wenn er eine Tour hatte mit dem Lastwagen. Die junge Frau hatte Severin immer freundlich behandelt, hatte für ihn gekocht und sich gerne mit ihm unterhalten.

Rosa gewann den Eindruck, dass sich Elvira sogar mehr um

Severin kümmerte als sein Vater, und daher ließ Rosa aus-

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richten, dass der Kleine später gerne auch einmal zu ihr und Severin kommen konnte, wenn er größer war. Denn wären sie gut zu ihrem Buben, würde sie auch gut zu deren Buben sein.

Ob sie es der Großmutter sagen sollten? Der Bruder von Sigi meinte, man solle es ihr ersparen. Sie habe genug mitgemacht, als ihr Sohn sich umgebracht hatte. Sie müsse es nicht auch noch erleiden, dass ihr Enkel nicht mehr lebte, auf ihre alten Tage. Es würde ihr nicht wirklich auffallen, dass er nicht mehr da war. Er hatte sie in den letzten Jahren nur noch selten besucht. Seit sie dement war, konnte er nur mehr wenig mit ihr anfangen. Und die Großmutter verwechselte Severin oft, dachte, es sei Sigi, der sie besuchte. Und wenn man sie darauf hinwies, dass es ihr Enkel war und nicht ihr Sohn, fragte sie nach Sigi, wie es ihm gehe und warum er nicht mitgekommen sei. Dann erzählte ihr Severin, dass sein Vater schon gestorben und deshalb nicht dabei war. Da fing sie zu weinen an, weil sie längst vergessen hatte, dass Sigi gestorben war, und wollte wissen, wann und warum. Und Severin brachte es nicht übers Herz, ihr zu erzählen, dass sein Vater sich umgebracht hatte. Er hielt es ja selbst kaum aus, sich das vorzustellen. Und so sagte er einfach, dass Sigi einen Herzinfarkt hatte, und da er ein starker Raucher war, wäre das auch nicht unwahrscheinlich gewesen. Der Großmutter kamen gleich die Tränen, zuerst, weil es für sie neu war, dass ihr Sohn nicht mehr lebte, und dann weinte sie über sich selbst, weil sie erkannte, wie vergesslich sie war, dass sie sich nicht einmal das gemerkt hatte. „Ich bin halt schon dumm“, sagte sie und schüttelte den Kopf.

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Rosa mochte ihre Schwiegermutter, als sie noch ihre Schwiegertochter war. Und sie glaubte, dass ihre Schwiegermutter sie auch mochte. Vor allem, weil sie ihrem Sorgenkind ein Zuhause geboten hatte. Anfangs hatte es sie vielleicht noch gestört, dass Rosa so jung war, etwas zu jung vielleicht für ihren Sigi. Aber sie schätzte Rosas Anteilnahme an ihrem Leben. Rosas Freude an dem Salat, der bei ihr im Garten so schön wuchs und den sie am Strunk immer frisch abgeschnitten und Rosa mitgegeben hatte. Und sie sah auch Rosas Wertschätzung für die großen braunschaligen Eier von den Hühnern aus ihrem Stall, die einen weitläufigen Auslauf hatten und den ganzen Tag im Freien Gras, Klee und Würmer picken konnten.

Rosa hatte schnell erkannt, dass das Produzieren von Lebensmitteln der eigentliche Sinn im Leben der Schwiegermutter war. Und bald hatten auch Rosa und Sigi zweimal im Jahr ein Schwein von den Schwiegereltern bekommen. Ein naturgefüttertes Schlachtschwein, keines, das mit gekauftem Soja aus Südamerika gemästet wurde und mit allen möglichen Zusatzstoffen angereichert war. Die Tiere für den Eigenbedarf durften doppelt so viel Zeit benötigen, um zu wachsen. Sie bekamen Küchenabfälle und frisches, feines Gras, wenn rund um den Hof gemäht wurde. Rosa hatte es sich angewöhnt, ihre Küchenabfälle der Schwiegermutter zu bringen, anstatt sie im Klo hinunterzuspülen. Das war ein schöner Kreislauf, und auf die Schweine der Schwiegermutter konnten sie sich verlassen wie auf Ostern und Weihnachten. Sie wurden am Hof geschlachtet, abgepackt und in die Gefriertruhe gelegt. Das war praktisch und Rosa musste kein Fleisch mehr im Supermarkt oder beim teuren Fleischhauer kaufen.

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Sie lernte von der Schwiegermutter, das ganze Schwein zu verwerten. Aus den Schwarten wurden knusprige Grammeln herausgekocht, die auf dem flüssigen Fett schwammen und abgeschöpft wurden. Das Fett kam in Rexgläser und wurde für Wiener Schnitzeln und Backhendeln verwendet. Leber und Hirn verarbeitete Rosa ebenso wie die Lunge und den Magen, aus denen sie eine Kuttel- oder Flecksuppe machte.

Beim Schlachten half Rosa der Schwiegermutter, die Därme zu reinigen. Bei dieser Arbeit wurde heißes Wasser in die mit Kot gefüllten Darmschläuche geleert, so lange, bis der Schweinedreck ausgewaschen war und die Därme nicht mehr stanken. Dann wurden sie mit Rollgerstenbrät gefüllt, an den Rändern mit Zahnstochern verschlossen und im Ofen gebacken. Die Därme bekamen eine Kruste und die Breinwurst wurde mit Sauerkraut gegessen.

Daran musste Rosa denken, als sie am großen Eichentisch in der Stube der Ex-Schwiegermutter saß, um das Begräbnis von Severin zu besprechen. Sie meinte, den Geruch von frisch ausgelassenem Fett zu riechen, als hätte der Schwager erst vor Kurzem geschlachtet. Dabei hatten sie doch längst keine Schweine und Kühe mehr, wahrscheinlich bildete sie sich diesen Geruch nur ein, weil er sie an eine Zeit erinnerte, an die sie gerne zurückdachte.

Nun saß ihr die alte Frau mit einem kantigen Gesicht und schlohweißem Haar gegenüber. Früher war sie stolz darauf gewesen, dass ihre Haare dunkel geblieben waren, bis weit in ihre Sechziger hinein. Und sie war eine lustige Frau gewesen. Eine Zeit lang waren die Schwiegereltern mit auf die Zelt-

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feste und Bälle gegangen. Die Schwiegermutter hatte gerne getanzt, auch mit Rosa, das hatte Sigi damals nicht gestört. Und einmal, auf einem Faschingsgschnas, waren Rosa und die Schwiegermutter als Braut und Bräutigam verkleidet und niemand hatte sie erkannt, nicht einmal Sigi oder der Schwiegervater. Darüber konnten sie später immer wieder lachen. So lange, bis es die alte Frau vergessen hatte.

Sie hatte auch sofort zugesagt, als Rosa sie gefragt hatte, ob sie auf Severin aufpassen würde, als sie wieder arbeiten gehen wollte. Das hatte sie ihr nie vergessen. Sigi nahm den Kleinen mit, wenn er zur Arbeit fuhr, und holte ihn wieder ab, wenn er auf dem Heimweg war. Es sah alles gut aus damals.

Rosa fand es nach einigen Monaten langweilig, nur beim Kleinen zu sein, und außerdem konnten sie ihr Geld gut gebrauchen für eine neue Küche mit einem Ceranfeldherd und einem Dunstabzug, wie es alle modernen Küchen hatten. Für kleine Kinder gab es früher in der Kleinstadt keine Betreuung und die Schwiegermutter hatte sie neben der landwirtschaftlichen Arbeit übernommen, bis der Kleine alt genug war, um in den städtischen Kindergarten zu gehen.

Die eigene Mutter hatte Rosa nicht fragen wollen. Die war sehr mit dem Haus beschäftigt, das nicht so ein guter Kauf gewesen war, wie ihre Mutter anfangs vielleicht gedacht hatte. Alles war alt und muffig, das Haus hatte nicht einmal einen Keller und überall stieg die Feuchtigkeit auf. Rosa hatte sich geärgert, dass ihre Mutter sie nicht in die Kaufüberlegungen einbezogen, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Vor allem, da sie nach dem Tod des Vaters eine Erbverzichtserklärung unterschrieben hatte, damit die Mutter abgesichert

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war gegenüber ihrer Tochter und weiter allein über das Haus verfügen konnte, das der Vater und sie gebaut hatten. Und dann wurde es abgerissen, es gab keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Die Umfahrung der Stadt war von allgemeinem Nutzen, da wurde auf ein paar Hausbesitzer keine Rücksicht genommen. Die breite Straße ging direkt durch ihr Haus hindurch, und genau dort, wo der Obstgarten gewesen war, befand sich nun der Drogeriemarkt, daneben der Schuhdiscounter und dahinter der Tierfuttermarkt. Mit der Ortsumfahrung kam die Einkaufsstraße. Alle wichtigen Geschäfte für den täglichen Bedarf wurden dort angesiedelt. Wenn man nicht etwas Spezielles brauchte, gab es keinen Grund mehr, in die Stadt zu fahren. Es war praktisch so, denn man musste nicht mehr in der Innenstadt mühsam nach einem Parkplatz suchen. Es waren genug Obst- und Gemüsegärten da, die zu Parkplätzen umfunktioniert werden konnten.

Rosas Eltern hatten keine Reichtümer erwirtschaftet. Der Vater war Werkzeugmacher und hatte eine eigene Schmiedewerkstatt neben dem Haus, in dem sie wohnten. Aber sie hatten ein eigenes Haus auf eigenem Grund und Boden. Und der Vater war stolz darauf gewesen, dass sie dieses Haus hatten bauen können in den Fünfzigerjahren, mit einem Kredit, den sie langsam abstotterten, bis sie am Ende schuldenfrei waren. Dieses Haus war ihr Ein und Alles. Sie pflegten und behübschten es, strichen jedes zweite Jahr die Balken. Sobald das Holz einen Anflug von Verwitterung zeigte, auch die Fensterstöcke und Rahmen. An den Fenstern brachte die Mutter Blumenkästen an, die jedes Jahr mit neuen Petunien

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und Pelargonien bepflanzt wurden. Der Garten war voll mit Obstbäumen und obwohl die Mutter halbtags beim Konsum an der Kassa saß, nahm sie sich die Zeit, um all das Obst einzukochen, das in ihrem Garten gedieh. Rosa mochte auch den Bach, der hinter dem Obstgarten vorbeiplätscherte und wo es im Sommer immer kühler war als an allen anderen Schattenplätzen. Die Nachricht, dass die Umfahrung der Stadt genau durch ihre Siedlung gehen würde, traf Rosas Vater wie ein Schlag. Nie hätte er vermutet, dass er von diesem idyllischen Fleck Erde einmal wegziehen müsste. Als die Pläne der Stadtregierung immer konkreter wurden und ein Datum für die Schleifung der Häuser feststand, traf den Vater tatsächlich der Schlag, der es ihm ersparte, dabei zuschauen zu müssen, wie sein Lebenswerk zerschlagen wurde, wie Rosas Mutter damals sagte.

Rosa war es aufgefallen, dass der Vater stiller geworden war in den letzten Monaten. Aber das war in der Zeit ihres Erwachsenwerdens. Sie war zu sehr mit ersten Liebeleien und ihren Arbeiten für die Lehrabschlussprüfung beschäftigt, als dass sie sich gefragt hätte, was ihren Vater bedrückte. Die Mutter nahm den Tod ihres Mannes hin als einen Schicksalsschlag. Sie jammerte nicht, sie beklagte sich nicht. Sie versuchte ihr weiteres Leben zu organisieren, verkaufte die Esse und den Amboss und alles andere, was aus der Werkstatt noch etwas einbrachte, bevor es von der Abrissbirne verwüstet wurde. Da Rosa noch nicht volljährig war, verfügte die Mutter über ihren Erbanteil. Sie sagte, dass sie ein gutes neues Objekt und keine verluderte Keusche mit dem Enteignungsgeld kaufen wollte. Und am Ende würde Rosa sowieso alles

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erben, wer denn sonst? Deshalb hatte Rosa dann auch nichts dagegen, dass die Mutter die untere Haushälfte dem einzigen Enkel vererbte, den sie hatte. Rosa war das recht, denn wenn schon Severins Vater nie etwas besessen hatte, sollte es bei ihrem Sohn nicht genauso sein. Er sollte etwas mitbekommen, und wenn er mit der Wohnung unten zufrieden war, musste er sich für den Rest seines Lebens keine Gedanken machen, wo er einmal wohnen würde, wenn seine Großmutter starb. Und schon gar nicht sollte er darauf schauen müssen, ob die Frau etwas besaß, die er vielleicht einmal heiratete. Dass er von seinem Vater nichts erben würde, musste er früher erleben, als alle dachten.

Sigi hatte Rosa als richtige Städterin empfunden. Da er auf dem Dorf aufgewachsen war, imponierte es ihm, dass Rosa praktisch in Fußweite von der Innenstadt wohnte. Auch wenn er nicht gerne zu Fuß ging, wie die meisten Leute vom Land damals. Im Gegensatz zu Rosa, die es liebte, nach der Arbeit einen Schaufensterbummel durch die kleine Fußgängerzone zu machen und dann noch in ein Kaffeehaus einzukehren, wo man sich den neuesten Tratsch erzählte. In einer Kleinstadt gab es keine Geheimnisse, über die in einem Friseurgeschäft nicht geredet würde. Und Rosa war ein beliebtes Sammelbecken für Informationen. Sie verstand es, die Nacken ihrer Kunden auf weiche Tücher zu betten, bevor sie die Haare einschäumte. Und sie verstand es, mit beiden Händen den Hinterkopf zu massieren und penibel darauf zu achten, nur ihre Fingerkuppen einzusetzen, keinesfalls die Nägel, wie es die Lehrlinge mit ihren viel zu langen Krallen oft taten. Sie ver-

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stand es auch, den Kopf mit der einen Hand leicht anzuheben, während sie mit den Fingern der anderen in den Haaransatz fuhr und sich mit kreisenden Bewegungen bis zum Hinterkopf vorarbeitete, wo sich beide Hände wieder trafen. Ein wohliges Stöhnen der Kunden war meist die nicht zu überhörende Resonanz. Beim Spülen achtete sie penibel darauf, dass kein Wasser in die Augen oder Ohren kam, und beim Trocknen massierte sie den Kopf noch eine Weile, indem sie die kreisenden Bewegungen ganz zart mit dem Handtuch weiterführte, sodass viel Restwasser vom Frottee aufgenommen wurde und nicht nachträglich noch als Rinnsal von den Haaren in Augen und Ohren tropfte. Nein, sie war keine Baderin wie im Mittelalter, die den Leuten den Kopf wusch und so fest trocken rieb, dass ihnen danach noch tagelang der Schädel wackelte. Die Kunden schätzten ihre Kopfwäsche genauso wie ihr Wissen um die neuesten Schnitte. Sie fühlten sich liebevoll behandelt und begaben sich gerne in Rosas Hände. Und so blieb es nicht aus, dass die Kunden redselig wurden und alles Mögliche erzählten, was ihnen auf dem Herzen lag. Auch Klaus, der Sohn des Drogisten, schilderte ihr haargenau, wie seine Frau mit dem Zahnarzt durchgebrannt war, bei dem sie als Assistentin gearbeitet hatte. Er war ziemlich niedergeschlagen und verstand nicht, wie das hatte passieren können, weil sie eigentlich vom Land kam und dankbar hätte sein müssen, dass einer aus der Stadt sie geheiratet hatte.

Rosa lernte Sigi auf einem Feuerwehrfest kennen. Er schoss dort mit einem Luftdruckgewehr auf Zielscheiben, während die anderen tanzten und Bier tranken. Rosa war vom Feuer-

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wehrhauptmann der freiwilligen Feuerwehr zu diesem Fest eingeladen worden. Er war auch einer ihrer Kunden und verehrte sie ein bisschen, wie man damals so sagte. Da er verheiratet war, war es schon viel, dass seine Frau es duldete, dass er seine Verehrung für Rosa zeigte. Sie durfte mit ihm, seiner Frau und ein paar anderen Feuerwehrleuten am Tisch sitzen und er ging immer wieder zum Schießstand und sah sich den Zwischenstand an. „Schon wieder der Sigi, eh klar“, sagte er, als er zurückkam. Und so erfuhr Rosa, dass Sigi der beste Schütze im Bezirk war und praktisch jedes Zielschießen gewann. Um Mitternacht gab es einen Tusch der Musikkapelle, Sigi wurde auf die Bühne gerufen und nahm den Pokal unter viel Applaus und Gejohle entgegen.

Danach holte ihn der Feuerwehrhauptmann an den Tisch und es wurde gefeiert. Rosa überlegte, ob er ihr gefiel. Wenn er ein berühmter Sänger oder ein Fußballer wie der Schneckerl Prohaska gewesen wäre, dann wäre das vielleicht auch gegangen mit dieser Frisur. Aber so weit reichte seine Berühmtheit nicht. Trotzdem kamen viele Leute an den Tisch und gratulierten ihm. Auch einige junge Frauen, und sie machten ihm dabei schöne Augen. Sie forderten ihn zum Tanz auf, aber er lehnte ab und sagte, Tanzen sei nicht seins. Rosa kam es vor, als hätte er nicht wirklich Interesse an Frauen, denn dass es beim Tanzen nicht nur ums Können ging, hätte er längst wissen müssen.

Sie hatte Lust, ihn zu provozieren, zu schauen, worauf er ansprang, wie weit sie gehen konnte. Sie fragte ihn, ob er sich die Haare selber schneide. Der Angriff gelang. Sofort strich er sich irritiert über die Mähne und fragte, wie sie darauf

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komme. Rosa sah ihn herausfordernd an und sagte, sie sei Friseurin. Und dass er mit einem guten, städtischen Haarschnitt doppelt so fesch aussehen würde. Sie könne ihm etwas wegnehmen von der dicken Matte im Nacken und ihm die komischen kleinen Locken ausziehen, wenn er wolle.

Das musste sie ihm nicht zweimal sagen. Gleich am Dienstag, denn montags hatten Friseurgeschäfte zu, kam er knapp vor Geschäftsschluss unangemeldet vorbei. Der Chef wollte ihn schon wegschicken und ihm einen Termin für einen der nächsten Tage geben, als Rosa sich einmischte und sagte, sie könne ihn noch unterbringen und sollte sie länger brauchen, würde sie etwas später gehen und zusperren.

Bei der Kopfwäsche nahm sie sich weniger Zeit und war auch etwas gröber als sonst. Sie dachte, er müsse nicht auf Anhieb alles von ihr wissen. Sie rechnete damit, dass sie von ihm noch genug erfahren würde, was sie interessierte. Ihr ging es erst einmal darum, ihm endlich die Matte aus dem Nacken zu schneiden und die lächerlichen Locken straff zu ziehen, die aussahen wie Ringelschwänzchen, damit sie sich nicht genieren musste, wenn sie nachher mit ihm noch etwas trinken ging. Er gestand ihr, dass er sich die Haare von der Frau eines Arbeitskollegen schneiden ließ. Bei ihr zu Hause, schwarz. Sie hatte im Keller ein Frisierzimmer eingerichtet und ein bisschen dazu geschnitten zum Einkommen ihres Mannes, seit sie nicht mehr angestellt war und den Haushalt und die Kinder versorgte. Und diese Frau habe ihm die Frisur eingeredet, weil sie meinte, das sei jetzt modern.

Rosa nickte spöttisch. Eine richtige Vokuhila-Proletenfrisur hatte er. Vorne kurz und hinten lang, mit Minipli und

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Mittelscheitel. An der Stirn waren die Haare zu kurz, als dass Rosa ihm einen gescheiten Seitenscheitel hätte verpassen können, der ihm die Haare geschmeidig ins Gesicht geschwungen hätte. Aber das konnte werden, er musste sie nur wachsen lassen und durfte nicht wieder die Billigmamsell seines Arbeitskollegen an sich heranlassen.

Nachdem sich Rosa seinen Kopf zurechtgeschnitten hatte, gingen sie noch etwas trinken, und da erzählte ihr Sigi, dass er bei seinen Großeltern aufgewachsen war, weil er ein lediges Kind war und die Mutter ihn nicht mitgenommen hatte, als sie von daheim ausgezogen war und in einen Bauernhof eingeheiratet hatte. Daraufhin gingen sie auch noch Pizza essen, zum Italiener, den es damals noch in der Stadt gab, und Rosa erzählte ihm von ihrer Kindheit in dem Haus, wo später die Umfahrung gebaut wurde und der Vater eine Schmiedewerkstätte hatte. Sie erzählte ihm auch, wie gerne sie dem Vater zugesehen hatte, wenn er die Kohle mit einem Blasbalg zum Glühen brachte, und wenn die Funken spritzten wie Sterne nach dem Urknall, wenn er das heiße Eisen auf den Amboss legte und mit dem Hammer in einem gleichmäßigen Takt darauf herumschlug, um es in die gewünschte Form zu bringen. Sigi verstand genau, was sie meinte, es tauge ihm auch, ein rohes Stück Holz so zu bearbeiten, dass ein Möbelstück daraus wurde. Wenn man sich viel damit beschäftige, könne man immer klarer sehen, was in einem Holz schon drinnen sei und was man nur wegfräsen müsse, um den schönsten Teil davon herauszuholen. Rosa nickte eifrig, bei den Haaren sei es ebenso. Sie sehe auch an Struktur und Fülle, für welche Frisuren sie geeignet seien und für welche nicht.

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Später begleitete Rosa Sigi regelmäßig auf die Sommerfeste, und es gefiel ihr, die Freundin des Schützenkönigs zu sein. Denn irgendetwas Besonderes sollte der Mann haben, in den sie sich verliebte. Sie genoss es, wenn die Musikanten um Mitternacht den Tusch bliesen und Sigi Rosa zu sich auf die Bühne holte. Auf der einen Seite streckte er den Pokal in die Höhe und auf der anderen fasste er nach ihrer Hand, die er in die Höhe riss. Er strahlte in die Kamera, mit seinen beiden Trophäen, eine rechts, die andere links. Auf jedem Fest wurde ein Foto von ihm gemacht, das am Freitag darauf im Bezirksblatt erschien, und Rosa war nun auch jede Woche mit drauf. Ins Friseurgeschäft wurde die Zeitung bereits am Donnerstagabend geliefert, gleich nach dem Erscheinen, und alle Arbeitskolleginnen suchten als Erstes nach dem Foto und ihrem Namen. So war Rosa zum Stadtgespräch geworden und durch sie kannte man auch den Schützenkönig dort und sie genoss den Ruhm, den sie durch Sigi eingeheimst hatte. Was Sigi nicht mochte, war, wenn sie mit anderen Männern tanzte, dass sie mit anderen Männern herumtat, wie er es nannte, während er sich konzentrierte und Pokal für Pokal für sie heimholte.

Und dann holte er sie heim, indem sie von ihm schwanger wurde. Und holte sich damit ein Heim, denn er wohnte noch immer auf dem Hof seiner Großeltern, obwohl dort eigentlich kein Platz mehr für ihn war. Die Großeltern waren gestorben und der kleine Bruder der Mutter hatte dort inzwischen eine Familie gegründet. Noch teilten sich die Kinder seines Onkels einen Raum und Sigi schlief im Zimmer der verstorbenen Großeltern. Er wusste, er würde auf Dauer nicht dort wohnen

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können. Aber es war auf dem Land damals nicht üblich, dass man auszog, bevor man heiratete. So passte es für Sigi, dass er zu Rosa ziehen konnte.

Für Rosa passte es auch, da Sigi ein geschickter Handwerker war und es viel zu tun gab in der schäbigen Bude. Rosas Mutter hatte bald gemerkt, dass das Haus nur für den Verkauf herausgeputzt worden war. Die Farbe blätterte bald ab und der Verputz bröckelte. Auch die Bretter unter dem Teppichboden waren morsch, und bei Rosa im ersten Stock war das Email der Badewanne braun vom rostigen Wasser, das noch eine ganze Zeit lang aus der Leitung kam, wenn man den Hahn aufdrehte. Erst wenn der Rost herausgespült war, wurde das Wasser klar. Die alten Armaturen waren auch nicht mehr dicht. Wenn man sie abdrehte, tröpfelte es und der Rost hinterließ braune Spuren. Rosas Mutter freute sich über den Mann im Haus, der zupacken konnte und ihr aus der Patsche half nach dem verunglückten Hauskauf.

Als Rosa schwanger war, wollte sie bald heiraten, damit ihr Bauch nicht zu groß war im weißen Kleid. Wegen der Gäste wäre es ihr egal gewesen, mit der kirchlichen Moral hatte sie nichts am Hut, aber die Hochzeitsbilder waren ihr heilig. Dafür wollte sie schön sein und irgendwie ahnte sie schon damals, dass die Bilder das Einzige sein würden, das ihr von der Hochzeit und der kurzen Zeit einer glücklichen Ehe bliebe.

Sigis Mutter war erleichtert gewesen, dass ihr Sohn seinen Platz endlich gefunden hatte. Denn mitgeben hatte sie ihm nicht viel können. Einen Bausparvertrag, den sie mit Geld für Eier und Milch, die sie an Privatkunden verkaufte, auf die

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Seite hatte legen können, viel mehr war nicht drin gewesen für ihn. Eine Erbberechtigung väterlicherseits hatte es damals noch nicht gegeben für ein lediges Kind. Deshalb waren ihr die beiden Schweine im Jahr wichtig, die sie für das junge Paar anfüttern konnte.

Mit dem Bausparvertrag erneuerten Rosa und Sigi das Bad. Sie rissen die Emailbadewanne heraus und bauten stattdessen eine bequeme Dusche mit Acryltasse und Plexiglaskabine ein, und beim Austausch der alten Leitungen kam auch ein Waschmaschinenanschluss ins Badezimmer. Das Schlafzimmer trennten sie ab, damit das Kind einmal ein eigenes Zimmer haben würde. Es gab viel zu tun, bis es so weit war. An den Wochenenden arbeiteten sie fleißig an den Erneuerungen. Nur an den Samstagabenden gingen sie weiter auf die Feste.

Rosa begleitete Sigi bis zum Schluss. Erst als der Kleine da war, setzte sie ein paar Monate aus. Sie bestand nie darauf, dass Sigi seltener zum Schießen ging, weil sie sah, welche Freude es ihm machte, obwohl ihr an den Samstagen langweilig war allein daheim mit dem Kleinen. Grund zur Eifersucht hatte sie auch nicht, denn sie wusste: Wenn Sigi einen Pokal nach Hause brachte, dann benötigte er dafür die volle Konzentration den ganzen Abend lang.

Severin war ein unkompliziertes Kind und schon bald schlief er nach dem Stillen etwa sechs Stunden durch. Wenn Rosa ihn also um acht Uhr das letzte Mal anlegte, wurde er erst gegen zwei Uhr wieder wach. In der Zwischenzeit konnte sie Sigi begleiten. Und hätte es wirklich etwas gegeben mit

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dem Kleinen, wäre immer noch ihre Mutter da gewesen im Erdgeschoß.

Auf die Feste kamen jetzt auch die Schwiegereltern und der Schwager mit seiner Freundin. Sie wollten es sich nicht nehmen lassen, das berühmteste Familienmitglied zu feiern. Manchmal trafen sie auch den Chef von Sigi. Handwerkermeister mussten viel unterwegs sein und Gesichtswäsche betreiben, damit sie Leute kennenlernten. Dabei kam man ins Gespräch, potenzielle Kunden fragten erst einmal vorsichtig an, wenn sie eine neue Tischecke oder einen Wandverbau planten, und auf einem Fest bei Musik und Bier redete es sich leichter als im nüchternen Büro, wenn nebenan die Maschinen kreischten. Der Chef zahlte meist einige Runden und lud auch Rosa und Sigi auf ein Cola Rum oder einen Eierlikör ein. Und natürlich war der Chef stolz darauf, dass sein bester Geselle auch der beste Schütze war weit und breit. Rosa und Sigi wählten ihn dann sogar als Taufpaten für Severin aus. Selbst hatte der Chef keine Kinder und Sigi und Rosa dachten, wer weiß, wofür es gut ist, später einmal. Und es war auch gleich gut, weil der Chef und seine Frau dem Buben immer einen Golddukaten schenkten, zu Weihnachten und zum Geburtstag. Er war auch ein besonders lieber Bub und ein hübscher noch dazu. „Ganz der Papa“, sagte Sigi gerne und eigentlich sah er auch nicht so schlecht aus mit der neuen Frisur und den geglätteten Haaren. Er hatte eine stattliche Größe und ein freundliches Geschau. Nur seine Nase stand etwas schief im Gesicht, und die Nähte konnte man sehen, wenn man genau schaute. Das war von dem Unfall, als er mit dem Gesicht in

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der Windschutzscheibe seines Opel Manta gelandet war, vor ein paar Jahren. Er hatte gerade den Führerschein gemacht und war zu schnell unterwegs gewesen auf der nassen, abschüssigen Straße. In der Kurve hatten die Bremsen nicht rasch genug reagiert und das Auto war erst zum Stillstand gekommen, als ein Baum es stoppte. Und dann pickte das Gesicht von Sigi auch schon auf der Windschutzscheibe.

Damals hatte es zwar schon die Gurtpflicht gegeben, aber die jungen Männer fanden es nicht lässig, sich anzuschnallen, das war etwas für die ängstlichen und alten Leute. Deshalb waren viele Gesichter von jungen Männern auf der Windschutzscheibe picken geblieben, wie Schmetterlinge, nur halt auf der anderen Seite der Scheibe. Besonders oft, wenn die Burschen von einem Zeltfest oder einem Ball nach Hause gefahren waren.

Mit der Zeit wurde es Rosa langweilig, auf diese HumtataFeste mitzugehen. Es waren hauptsächlich Leute aus den umliegenden Dörfern dort. Tanzen durfte sie nur mit dem Feuerwehrhauptmann oder einem Mann, den Sigi kannte. Sie hätte ihn jedes Mal fragen müssen, ob er es erlaubte, und das war ihr doch zu blöd und auch peinlich gegenüber den Anwärtern, die sie fragten. Da schüttelte sie lieber gleich den Kopf, denn wenn Sigi erfuhr, dass sie sich unerlaubt auf dem Tanzboden vergnügt hatte, redete er tagelang kein Wort mehr mit ihr. Oder er wiederholte immer wieder, wie konzentriert er arbeite, um einen Pokal zu schießen, da solle sie sich in der Zwischenzeit nicht amüsieren und sich dann, als wäre es selbstverständlich, um Mitternacht mit ihm auf die Bühne

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stellen und aus dem Siegesbecher Sekt trinken. Zu Hause landeten die Pokale auf dem Küchenschrank. Und dort verstaubten sie. Eine ganze Hochzeitsgesellschaft hätten sie versorgen können mit den Bechern zum Sekttrinken. Teuer war die Schießerei obendrein, weil Sigi doch für jeden Schuss zahlen musste, den er auf die Zielscheibe abfeuerte. Da kam schon etwas zusammen im Monat, wenn er viermal schießen ging. An und für sich hatte Rosa den Ärger hinuntergeschluckt über das verschossene Geld, aber als er anfing, sich aufzuregen, dass sie nach der Arbeit noch auf eine Mischung oder einen Kaffee in die Stadt ging, weil das Geld koste, konnte sie nicht mehr an sich halten und rechnete ihm die Schießerei vor. Dabei wusste sie, dass es nicht um das Geld ging, das sie dort vertrank. Er war eifersüchtig, weil sie dort jemanden hätte treffen können, und treffen konnte man natürlich immer jemanden in der Stadt, darum ging man ja dorthin.

Den Kleinen brachte Sigi mit, wenn er von der Arbeit nach Hause fuhr. Wenn er länger zu arbeiten hatte, holte Rosa ihn nach der letzten Kundschaft ab. Sie war der Schwieger mutter sehr dankbar dafür, dass sie Severin bei ihr unterbringen konnte. Das ermöglichte ihr, wieder ganztags zu arbeiten. Das Geld brauchten sie dringend. Sie mussten den Kredit für zwei Autos abzahlen und das Haus endlich trockenlegen, bevor es zusammenfiel.

Rosa bemerkte erst mit der Zeit, dass Sigi außer seiner Schießerei wenige Interessen hatte. Meistens richtete er am Haus etwas her. Strich die neuen Balken, die er in der Firma gezimmert hatte, oder schliff die Holztreppe, die in den ersten

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Stock hinaufführte, und versiegelte sie neu. Das einzig Gute an dem Haus war, dass es zwei getrennte Eingänge hatte. Der Haupteingang für das Erdgeschoß war zur Straße hin ausgerichtet, und wenn man um das Haus herumging, gab es einen zweiten Eingang, der über eine steile Stiege in den ersten Stock führte. Darauf schien Rosas Mutter geachtet zu haben, sodass sie einander nicht ständig begegnen mussten, wenn sie ein und aus gingen.

Wenn Sigi nicht am Haus herumbastelte, verbrachte er seine Zeit am liebsten mit Sport, den er aber nur im Fernsehen schaute. Im Winter Skirennen, im Sommer Autorennen und dazwischen Fußball. Eine Flasche Bier und ein Packerl

Zigaretten auf dem Tisch, mehr brauchte er nicht für sein Wochenendglück, wenn er nicht gerade Pokalhamstern war.

Severin hätte gerne etwas unternommen mit seinem Vater.

Gerne wäre er mit ihm Rad fahren gegangen oder hätte im Hof Fußball gespielt, aber Sigi hatte keine Lust dazu. Er wollte in seiner Freizeit am liebsten in Ruhe gelassen werden. Doch Severin gab keine Ruhe und war lästig, da kam es schon mal vor, dass sein Vater ihn anbrüllte in einer Lautstärke, die man beim sonst eher ruhigen Sigi nicht vermutet hätte. Dann ging Rosa mit Severin entweder auf den Spielpatz oder sie besuchten einen Freund von ihm.

Später war sie erstaunt, wie viel Sigi mit seinem neuen Sohn Daniel machte. Undenkbar wäre es gewesen, dass er Severin einmal gewickelt hätte. Wenn der Kleine stank, hatte er ihn Rosa in die Hand gedrückt und gesagt, er werde sich anspeiben, wenn er das wegputzen müsse, und war abgedampft. Später sah Rosa dann, wie er dem neuen Kind die

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Windel auszog, die Scheiße abwischte und ihm eine neue Windel anlegte. Geradeso als würde die Scheiße von Daniel besser riechen als die von Severin. Er musste sich nicht anspeiben, nicht einmal gewürgt hatte es ihn, Rosa kam es vor, als wollte er ihr richtiggehend demonstrieren, dass er solche Arbeiten nun machte. Und die Rechnung ging auf. Auch wenn Daniel nichts dafürkonnte, dass sein Vater ihn derartig bemutterte, kränkte es Rosa im Nachhinein, dass er für Severin diese Fürsorge nicht aufgebracht hatte. Sigi war auch stolz darauf, dass er Daniel das Ankicken eines Balls beigebracht hatte und das selbstständige Ausziehen des Pyjamas, wenn er ihn in der Früh angezogen und in den Kindergarten gebracht hatte.

Manchmal fragte sich Rosa, ob Severin sich daran erinnerte, dass sein Vater das alles nicht mit ihm gemacht hatte. Sie sagte es ihm nicht, es fiel ihr aber auch nichts ein, was sie hätte erwähnen können, so in der Art: „Weißt du noch? Das und das hat dein Vater mit dir gemacht!“ Es fiel ihr nichts ein, woran sie ihren Sohn hätte erinnern können, und irgendwie hatte Severin gespürt, dass sein Vater in den neuen Sohn viel vernarrter war, als er es in den alten je gewesen war, und eines Tages hatte er gesagt: „Einmal, wenigstens einmal könnte er auch ohne Daniel zu mir kommen!“

Von solchen Geschichten mit einem Plastiksack hatte Rosa schon gehört. Früher wurde in den Zeitschriften des Lesezirkels, die im Friseurgeschäft auflagen, darüber berichtet, später im Internet, wenn irgendein Prominenter bei einer derartigen Sexpraxis starb. Rosa hätte es nicht gewundert, wenn

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Severin sich auf diese Weise befriedigt hätte. Immer wieder hatte er sich tagelang eingesperrt, hatte niemanden sehen wollen, und sie hatte sich oft gefragt, was er wohl machte, wenn er so allein mit sich war. Wäre es nicht naheliegend gewesen, dass er auch mit solchen Sachen herumgespielt hätte? Und wie so etwas funktionierte, konnte er jederzeit im Internet lesen. Aber bestimmt fand man dort auch Anweisungen, wie man sich am besten umbrachte – am sichersten und so, dass es nicht wehtat. Wenn es nur Sex gewesen wäre, der Severin zu derartig bizarren Spielen getrieben hatte, hätte er eher ein Pornoheft in der Hand gehabt als den Brief seines Vaters.

Rosa hatte am dritten Tag ein ungutes Gefühl, als er noch immer nicht aufmachte. Sie läutete wiederholt bei ihm an und versuchte mehrmals, ihn am Handy zu erreichen. Sie überlegte, was sie tun sollte. Die Tür aufbrechen? Einen Schlüssel hatte sie zwar für alle Fälle, wenn Severin nicht da war, falls es einen Rohrbruch gab oder der Stromableser kam. Sie legte ihm dann auch die gewaschene und gebügelte Wäsche in den Kasten und wischte den Boden auf, wenn er ihr versifft vorkam, oder sie säuberte das Waschbecken und die Badewanne. Aber wenn Severin zu Hause war und nicht gestört werden wollte, dann schob er den Riegel vor, da nützte ihr der ganze Schlüsselbesitz nichts. Als er sich am vierten Tag auch nicht rührte, kam ihr der Gedanke, er könnte einen Unfall gehabt haben und verletzt irgendwo in seiner Wohnung liegen und sie wartete und wartete nutzlos herum, anstatt Hilfe zu holen.

Plötzlich tauchten alle möglichen Szenarien in ihrem Kopf

auf: Er hatte vielleicht eine Lampe austauschen wollen und

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war dabei vom Sessel gefallen und lag nun mit einem blutigen Schädel bewusstlos auf dem Boden. Oder es war ihm ein Glas zerbrochen und er hatte sich beim Beseitigen der Scherben eine Schlagader aufgeschnitten und verblutete. Oder er hatte beim Duschen telefoniert und dabei das Handy am Strom angesteckt gehabt.

Plötzlich erfasste sie Panik und sie rief den Feuerwehrhauptmann an. Der wusste, wie man einen Riegel schnell aufbekam. Er hatte ihr bei einem seiner Friseurbesuche erzählt, wie oft die Feuerwehr gerufen wurde, um eine Tür aufzubrechen. Dafür würden sie ausgebildet. Er hatte ihr auch erzählt, was sie schon alles gefunden hatten. Halb mumifizierte Leichen, die längst ausgeronnen und vertrocknet waren und wo sich die Körperflüssigkeiten so in den Holzboden eingegraben hatten, dass man den Toten gar nicht mehr herunterkratzen konnte von den Brettern. Man musste dann Stücke des Holzbodens herausschneiden und die Leiche samt dem Holz hinaustragen. Da war praktisch ein Teil des Sarges schon an der Leiche dran, und manchmal war es wichtig, dass man alles beieinander ließ, weil eine gescheite Obduktion nur möglich war, wenn alle Teile einer Leiche vorhanden waren. In der warmen Jahreszeit fraßen oft schon Maden an den Leichen, und der ganze Raum war voll mit glänzenden Aasfliegen, wenn die dann geschlüpft waren nach dem fetten Fressen. Darum mochte der Feuerwehrhauptmann keine Fliegen, denn man weiß nie, wo die vorher dran waren, und er hatte ja selbst gesehen, wo die überall dran sein konnten. Rosa ließ sich nicht für den Tod von Sigi verantwortlich machen. Hätte sie ihr eigenes Glück hintanstellen sollen für

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das mögliche Glück von Sigi? Wer weiß, ob er bei ihr geblieben wäre, wenn sie auf Klaus verzichtet hätte? Sie ließ sich keine Schuld einreden, aber sie fragte sich, ob Severin ein glücklicheres Leben gehabt hätte, wenn sein Vater noch leben würde?

Dabei hatte sie Severin alles geboten. Viel mehr, als Sigi ihm je hätte bieten können. So wie Klaus ihr viel mehr geboten hatte, als Sigi ihr je hätte bieten können. Nie hätte sie gedacht, dass sie als Kind von einem Werkzeugschmied und einer Verkäuferin beim Konsum die Chance bekäme, in einer Innenstadtwohnung zu landen, die über den ganzen Stock ging, samt dazugehörigen Geschäften darunter. Mit Klaus hatte sie auf einen Schlag ein völlig anderes Leben als mit Sigi. Mit dem langweiligen Sigi, der nur mit viel Zureden überhaupt zu einem Lignano-Urlaub zu überreden gewesen war. Und dort war es ihm zu heiß. Er hing im kühlen Bungalow herum und maulte, dass es kein deutschsprachiges Fernsehprogramm gab, anstatt mit ihr und Severin schwimmen zu gehen oder einen Ausflug nach Venedig zu machen. Er verstand nicht, warum jemand das Bedürfnis hatte, im Sommer in ein Land zu fahren, in dem es noch heißer war als zu Hause. Für eine Woche ließ er sich mit Mühe und Not breitschlagen, aber den Rest seines Urlaubs wollte er daheim verbringen. Lange schlafen, auf ein Bier gehen und abends bis zum Abwinken fernsehen, das genügte ihm.

Mit Klaus begann für Rosa ein ganz anderes Leben, eines, das sie sich für eine wie sie nicht hatte vorstellen können. Sie hatte gedacht, der beste Schütze im Bezirk wäre das größte Ziel, das sie erreichen könnte. Und dann tat ihr Sigi leid, weil er nie ein Leben wie Klaus haben würde, weil ihm dafür die

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gute Herkunft fehlte. Keine ordentliche Familie, die schon etwas aufgebaut hatte, wo man etwas Geschaffenes weiterführen konnte, so wie sein Bruder, den die Mutter in der Ehe bekommen hatte, nicht wie ihn, den ledigen Sohn. Sigis Bruder konnte den Bauernhof seines Vaters einfach übernehmen. Da gab es einen Grundstock, auf den man etwas draufsetzen konnte. Sigi hatte nichts und würde auch nichts bekommen von einem Erbe. Nicht so wie sie, wo es im Testament ihrer Mutter schon geschrieben stand, dass sie den ersten Stock des Hauses erben würde und Severin das Erdgeschoß. Für alle war gesorgt, nur für Sigi nicht. Deshalb bot Rosa ihm an, er könne bleiben, solange er wolle, als sie zu Klaus zog. Es war ihr egal, wie lang er blieb, denn sie rechnete nicht damit, dass sie je wieder zurückziehen würde in das schäbige Haus, das trotz der Verbesserungsmaßnahmen nie wirklich Behaglichkeit ausgestrahlt hatte. Sigi konnte dort wohnen und er konnte Severin sehen und zu sich nehmen, sooft er wollte und sooft Severin wollte.

Natürlich war er mordsmäßig gekränkt gewesen, als Rosa ging. Sie verstand, wie demütigend es für ihn war. Am demütigendsten war es vielleicht sogar, dass er tatsächlich blieb, weil ihm nichts Besseres einfiel, als zu bleiben. Er konnte es vor sich nur damit rechtfertigen, dass er viel renoviert und hergerichtet hatte an dem Haus und deshalb ein Recht darauf hatte zu bleiben.

Es tat ihm weh, dass Rosa nun einen Mann hatte, der ihr viel mehr bieten konnte als er. Und dass all die Pokale und Siege nichts genützt hatten, um sie auf Dauer zu beeindrucken.

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Der Feuerwehrhauptmann dachte, der Brief in der Hand von Severin sei sein eigener Abschiedsbrief, und drückte ihn Rosa in die Hand, die draußen wartete. Er war wohl zu pietätvoll, um ihn zu lesen, und hatte ihn Rosa mit niedergeschlagenen Augen und einem Ausdruck des Beileids übergeben. Rosa dachte ebenfalls, es sei ein Brief von ihrem Sohn, und fing an, ihn mit zittrigen Händen zu lesen. Aber da kam ihr der Brief plötzlich bekannt vor, der auch schon ziemlich abgegriffen war, an den Rändern fettig glänzte und an den Bugfalten zum Teil eingerissen war. Und so hatte sie den Brief nach zwanzig Jahren wieder gelesen und bemerkt, wie gut sie ihn noch in Erinnerung hatte und wie Sigi sich darin rechtfertigte für seine Handlung, als hätte es keine andere Lösung für seine Probleme gegeben.

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Gabriele Kögl, die sich selbst als Satzbäuerin bezeichnet, ist 1960 in Graz geboren. Sie absolvierte ein Lehramtsstudium und die Filmakademie in Wien. Seit 1990 schreibt sie literarische Texte und erhielt zahlreiche internationale Preise.

Im Picus Verlag erschien zuletzt 2020 ihr Roman Gipskind. Brief vom Vater ist bereits ihr achter Roman.

Foto: g.ankenbrand

Kleinstadtleben – Kleinstadtsterben. Der gesellschaftliche Auf- und Abstieg einer Frau und ihrer Umgebung zwischen Enteignung und dem Bröckeln bürgerlichen Lebens.

Rosa ist Friseurin in einer steirischen Kleinstadt. Ihr Leben ist mit drei Männern verbunden. Mit Sigi, ihrem ersten Mann, der das Scheitern seiner Beziehungen nicht mehr erträgt, mit Klaus, ihrem zweiten Mann, der das langsame Sterben der Kleinstadt nicht wahrhaben will, und mit Severin, ihrem Sohn, der der Liebe seines Vaters hinterherläuft.

In Gabriele Kögls Roman geht es um emotionale und materielle Entwurzelung, darum, was es für den Einzelnen bedeutet, alles zu verlieren.

„Kögl bedient sich eines einfachen Stils, der dem Ernst der Sache ironische Lichter aufsetzt. So bleibt es nicht bei einer Prosa, die den Leser runterzieht, sondern ihm ein befreiendes Lachen zugesteht.“

ANTON THUSWALDNER, SALZBURGER NACHRICHTEN

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