Mark Pieth, Kathrin Betz. Seefahrtsnation Schweiz – Vom Flaggenzwerg zum Reedereiriesen. LESEPROBE

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MARK PIETH & KATHRIN BETZ

SEEFAHRTSNATION SCHWEIZ VOM FLAGGENZWERG ZUM REEDEREIRIESEN


INHALT // Vorwort .................................................................................... 11 Dank . . ....................................................................................... 12

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EINFÜHRUNG Schweizer Riesenschiff verliert vor Friesland Hunderte von Containern ......................................................... 16 Die Schweizer Hochseeflagge – ein Trauerspiel ....................... 21 Die Anfänge . . ...................................................................... 21 Transithandel .. .............................................................. 21 Versorgungsengpässe . . .................................................. 22 Krisenvorsorge .. ............................................................ 23 Ein Hauch von Großmachtpolitik .. ......................................... 23 Der Absturz ........................................................................ 24 Strafverfahren .................................................................... 25

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Waffentransporte in Kriegsgebiete? ...................................... 26 Unterwegs auf die schwarze Liste ........................................ 27 Braucht es noch eine Schweizer Hochseeflagge? .. ................. 29 Die Schweiz als Reedereistandort ............................................ 31 Reederei .. ........................................................................... 31 Der Flaggenzwerg ist ein Reedereiriese .. ............................... 32 Das Beispiel Mediterranean Shipping Company (MSC) ........... 35 Weshalb ist die Schweiz so attraktiv als Reedereistandort? . . ............................................................. 37 Geschichte ................................................................... 37 Clustertheorie .............................................................. 38 Rohstofffinanzierung ..................................................... 39 Logistikbranche ............................................................ 39 Versicherungen ............................................................. 40 Der Rohstoffhub .. .......................................................... 40 Die Beziehung zwischen Rohstoffhandelsplatz und Reedereistandort . . ........................................................ 41

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DIE ÖKONOMIE DER SCHIFFFAHRT Schifffahrt und Weltwirtschaft .. ............................................... 44 Die moderne Schifffahrtsindustrie . . ......................................... 45 Frachtpreise und Kartelle . . ....................................................... 46 Charterverträge ....................................................................... 47 Voyage Charter ................................................................... 47 Time Charter ...................................................................... 48 Bare Boat Charter ............................................................... 48 Die Containerschifffahrt als Treiber der ökonomischen Globalisierung ............................................ 48 Abhängigkeiten in der Lieferkette ............................................ 52

Inhalt | 5


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SCHIFFBAU, FINANZIERUNG, BETRIEB UND EIGENTÜMERSCHAFT Schiffbau: Vom Handwerk zur Schwerindustrie ........................ 56 Handwerklicher Schiffbau .................................................... 56 Industrieller Bau .................................................................. 60 Schiffsfinanzierung . . ................................................................. 61 Methoden zur Schiffsfinanzierung ......................................... 62 Exportkreditagenturen . . .................................................. 63 Leasing ........................................................................ 63 Wer finanziert Neubauten? ................................................... 65 Die Seefahrt, die diskreteste Branche der Welt .. ...................... 65 Wer betreibt und besitzt die Schiffe? .. ................................... 65 Global, aber geheim . . ........................................................... 68 Das Beispiel MV Rhosus ....................................................... 68 Wie verstecken sich die wahren Eigentümer von Schiffen? ...... 71 Offshorism . . .................................................................. 71 Schweizer Berater ......................................................... 71 Offene Schiffsregister .................................................... 72 Traditionelle Register ..................................................... 72 Wieso suchen Schiffseigner Diskretion bis hin zur Anonymität? ........................................................ 73 Was können die Seefahrtsnationen gegen übertriebene Diskretion unternehmen? .. ................................ 74

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ARBEIT AUF SEE Von Hoffnung und Abhängigkeit ............................................... 79 Der internationale Rechtsrahmen ............................................. 80 Das Seearbeitsübereinkommen . ............................................ 80 Ausbildung und Fähigkeitsausweise für Seeleute .................... 83 Spezialfall Meeresfischerei . . ................................................. 84 Menschenrechte von Seefahrern .......................................... 84 Wer ist der Arbeitgeber? ........................................................... 85 Aktuelle Probleme .................................................................... 87

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Die Covid-19-Pandemie . . ...................................................... 87 Aufgabe der Besatzung ........................................................ 91 Gewalt, Schuldknechtschaft und Versklavung in der Meeresfischerei ......................................................... 94

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ARBEIT IN DER FLUSSKREUZFAHRT Wem gehören Flusskreuzfahrtschiffe unter Schweizer Flagge? ......................................................... 101 Wer führt Flusskreuzfahrten durch? ....................................... 101 Vorwürfe ausbeuterischer Arbeitsbedingungen .. .................... 102 Mehr Schiffe – mehr Havarien? . . ............................................. 103 Rechtlicher Rahmen für die Durchsetzung arbeitsrechtlicher Ansprüche ................................................. 106 Kontrollen? ............................................................................. 108 Fazit ........................................................................................ 108

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DIE SCHIFFFAHRT UND DIE UMWELT AUF KOLLISIONSKURS Die MV Wakashio fährt auf das Korallenriff von Mauritius auf . . .................................................................. 113 Das Schiff ......................................................................... 113 Der Unfall ......................................................................... 113 Langsame Reaktion .. .......................................................... 117 Die Lehren des Wakashio-Unfalls . . ....................................... 121 Umweltschädigung durch den alltäglichen Betrieb von kommerziellen Schiffen ....................................... 123 Dumping ........................................................................... 123 Antifouling-Systeme ........................................................... 124 Ballastwasser-Management ................................................ 124 Lärmverschmutzung . . ......................................................... 125 Schutz besonders sensibler Meeresgebiete ......................... 125 Schädliche Emissionen .. ..................................................... 126

Inhalt | 7


Schwefeloxide ............................................................. 127 Internationales Gerede über Reduktion von Treibhausgasen ..................................................... 128 Alternative Antriebssysteme .. ................................................. 130 Unambitiöse Alternativen ................................................... 130 LNG . . ................................................................................ 131 Experimentelle Technologien .............................................. 134 Zurück zum Wind? .. ...................................................... 134 Elektrizität .................................................................. 136 »Grüner« Wasserstoff ................................................... 136 Ammoniak .. ................................................................. 136 Schlussfolgerungen ................................................................ 137

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VIRTUELLER BESUCH BEI WÄRTSILÄ Wer ist Wärtsilä? .. ................................................................... 140 Die Umrüstung bestehender Schiffe .. ..................................... 141 Experimentelle Antriebe ......................................................... 144 Gesamteindruck .. .................................................................... 145

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DIE SEEFAHRT IST NOCH IMMER GEFÄHRLICH Die Risiken des Meeres .. ......................................................... 148 Allgemeine Unfallursachen ..................................................... 149 Wetter .............................................................................. 149 Konstruktionsmängel ......................................................... 150 Menschliches Versagen . . .................................................... 152 Politische Risiken, Piraterie, Seenotrettung .. ........................ 156 Die Risiken der Containerschifffahrt ...................................... 156 Verlust von Containern .. ..................................................... 157 Feuer . . .............................................................................. 161 Transport illegaler Güter . . ................................................... 163 Ölunfälle ................................................................................. 164

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FÜR EINE SICHERE UND UMWELTSCHONENDE SEEFAHRT Von Unfällen lernen ................................................................ 170 Internationale Regulierungen .. ................................................ 171 Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO) .......... 171 UNCLOS ........................................................................... 172 SOLAS . . ............................................................................ 172 MARPOL ........................................................................... 173 Loadlines, Tonnage ............................................................ 174 STCW .. .............................................................................. 174 Der International Safety Management Code (ISM) ................ 175 Die Rolle der Staaten .............................................................. 176 Die Verantwortung des Flaggenstaates . . .............................. 176 Offene Register und Billigflaggen ........................................ 176 Klassifikationsgesellschaften .............................................. 178 Hafenstaatkontrolle ........................................................... 179 Die Rechte des Küstenstaates ............................................ 181 Die Verantwortung der Schifffahrtsindustrie .. ........................ 182 Anforderungen des ISM-Codes ........................................... 182 Versicherungen ................................................................. 183 Beschränkte Haftung von Reedereien und Versicherungen ........................................................... 185 Bergungsunternehmen ....................................................... 186

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DAS LEBENSENDE Abwracken .............................................................................. 190 Beaching ................................................................................. 191 Umweltprobleme ............................................................... 191 Menschliche Kosten . . ......................................................... 193 Die ökonomische Logik des Abwrackens ............................. 195 Wie verstecken sich die Reeder? ......................................... 195 Beaching und das internationale Recht .................................. 198 Das Basler Übereinkommen . . .............................................. 198

Inhalt | 9


Die Hongkong-Konvention .................................................. 199 Die EU-Schiffsrecycling-Verordnung .................................... 201 Staatliche Reaktionen auf illegales Abwracken ...................... 202 In direkt betroffenen Ländern ............................................. 202 Die Niederlande .. ............................................................... 203 Norwegen ......................................................................... 204 Belgien ............................................................................. 205 Frankreich .. ....................................................................... 205 Deutschland . . .................................................................... 207 Island ............................................................................... 207 Großbritannien .................................................................. 207 Schweiz ............................................................................ 208 Öffentliches Recht: Umweltrecht ................................... 212 Menschenrechte .. ........................................................ 215 Zivilrecht .................................................................... 217 Strafrecht ................................................................... 219 »Bessere Strände« oder etwas Besseres als Strände? ........... 220

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WIESO GEHT DAS DIE SCHWEIZ ETWAS AN? Für ein Alpenland ist die Schifffahrt kein Thema .. .................. 224 Selektive Steuergeschenke an die Branche? .. ......................... 227 Wann machen Subventionen Sinn? ......................................... 228

THE BIGGER PICTURE ANHANG

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232

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Endnoten .......................................................................... 234 Literatur .. .......................................................................... 264 Materialien . . ...................................................................... 268 Bilder .. .............................................................................. 272 Abkürzungen ..................................................................... 274 Die Autoren . . ..................................................................... 279

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VORWORT Dass dieses Buch in ähnlicher Aufmachung und beim gleichen Verlag erscheint wie das Buch »Rohstoff« der Erklärung von Bern (Public Eye) und das Buch über »Goldwäsche« ist kein Zufall. Es geht bei allen drei Themen immer wieder um eine analoge Situation: Die Schweiz ist – mehr oder weniger offen – ein Weltzentrum des Rohstoff handels, der Goldraffinerie oder auch der Reederei. Alle diese Wirtschaftszweige sind hoch riskant. Dabei ist es für die offizielle Schweiz typisch, dass sie die damit zusammenhängenden Probleme und Risiken nicht zur Kennt­ nis nehmen mag: Die Seefahrt ist mit der Umwelt auf Kollisionskurs, nach wie vor sehr gefährlich, und die Arbeitsbedingungen auf Schiffen sind vielfach menschenverachtend. Wenn es darum geht, sich mit Proble­ men auseinanderzusetzen, die von in der Schweiz niedergelassenen Reedereien mitverursacht werden, verstecken sich die Schweizer Behör­ den gerne hinter dem heimeligen Bild der Alpenrepublik fernab von den Weltmeeren. Allenfalls beteiligt man sich von der Schweiz aus am Ver­ bergen des wahren Eigentümers von Schiffen hinter Brief kastenfirmen. Unsere Auffassung ist dezidiert, dass die Probleme, die wir in diesem Buch beschreiben, die Schweiz etwas angehen.

Mark Pieth // Kathrin Betz 14. Februar 2022

Vorwort | 11


DANK Vorab möchten wir Rebekka Gigon ganz herzlich für ihre intensive Mit­ arbeit an der Vorbereitung des Manuskripts danken. Unser Dank geht auch an André Gstettenhofer, Patrick Schär, Philipp Stolz und das Team vom Elster & Salis Verlag für ihr großes Engagement. Weiter möchten wir den Gesprächspartnern danken, mit denen wir im Lauf der Ausarbeitung des Buches Kontakt hatten. Namentlich in Basel: Nick Bramley und Holger Schatz (Seefahrergewerkschaft Nautilus), Da­ niel Buchmüller (IG RiverCruise), Thomas Christ (vormals Goth, Pan­ alpina, Danzas und DHL), Juhani Grossmann und Manuel Medina (Ba­ sel Institute on Governance), Daniel Haller (Journalist), Kapitän Joseph Müller, Alexandra Mungenast und Simon Oberbeck (Schweizerische Rheinhäfen), Ivana Pavlovic und Sandra Rigassi (Amt für Wirtschaft und Arbeit), Anna Petrig (Völkerrechtsprofessorin, Richterin am ISGH), Bianca Ravy (Grundbuch- und Vermessungsamt), Harald von Seydlitz (Reck & Co.) und Kapitän Roger Witschi (Leiter Schweizerisches See­ schifffahrtsamt); in Bern: der ehemaligen Nationalrätin Margret Kiener Nellen und der aktuellen Ständerätin Lisa Mazzone; in den Nieder­ landen: Roel van Eijk, Rob Gutteling, Susanne Nieuwdorp und Rob Slegtenhorst (Hafen von Rotterdam), Ewout van Galen (Stichting de Noordzee), Ineke van Gent (Burgermester von Schiermonnikoog), Staats­a nwältin von Amsterdam Sylvia Kubicz, Ellen Kuipers (Wadden­ vereniging), Marco de Lange (Fernsehproduzent Zembla), Robin Meije­ rink und Rex Toornvliet (Ministerium »Rijkswaterstaat«), Major Sebas­ tiaan Postema (niederländische Luftwaffe), Manfred Santen (Greenpeace) und Jan Willem Zwart (Natuurmonumenten); in Kapstadt: Coen Birken­ stock (Transnet National Ports Authority), Pieter-Chris Blom (South African Maritime Safety Authority) und Lovell Fernandez (Professor an der University of the Western Cape); in Mauritius: Joanna Frivet (Juris­ tin), den Barristers Anne-Sophie Jullienne und Sanjeev Teeluckdaree, Arne Fayd’herbe (Bridge Maritime), Brummell Laurent (Case Nautique), 12 | Seefahrtsnation Schweiz


Alain Malherbes (Island Maritime Services), Sébastien Sauvage (EcoSud), David Sauvage und Stephan Gua (Rezistans ek Alternativ), Goro Yamashita und Damien Deruisseau (MOL). Unser Dank geht weiter an Stam Achillas, Andreas Carelli, Simone Greene, Johnny Kackur, Sari Luhanka, Sangram Kishore Nanda, Atte Palomäki und Mikael Wides­ kog (Wärtsilä), an Maria Bache Dahl (Økokrim), an Martyn Day (Leigh Day), an Kapitän John Guy, an Pastor Matthias Ristau (Seemannsmissi­ on Hamburg), an Antonios Trakakis (RINA) und an Ian Urbina (Inves­ tigativjournalist, The Outlaw Ocean Project).

Dank | 13



EINFÜHRUNG //


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SCHWEIZER RIESENSCHIFF VERLIERT VOR FRIESLAND HUNDERTE VON CONTAINERN Am Morgen des 2. Januar 2019 traut die Bürgermeisterin der niederlän­ dischen Westfriesischen Insel Schiermonnikoog ihren Augen nicht1. Der Strand des Naturschutzreservates, das zum UNESCO-Welterbe zählt, ist mit Tonnen von Schwemmgut aller Art übersät 2: von Möbeln über Autoteile und Kinderspielzeug bis hin zu giftigen Chemikalien 3 und Mikroplastik4. Eines der größten Containerschiffe, die von einer Schwei­ zer Reederei betriebene MSC Zoe, hatte über Nacht im Sturm Alfrida 342 Container verloren5. Weitere 1000 Container sollen an Bord aufgebrochen sein. Das Schiff, mit einer Kapazität von über 19 000 Containern6, mit einer Trag­ fähigkeit von gegen 200 000 Tonnen, weist eine Länge von 400 Metern und eine Breite von gegen 60 Metern auf. Trotz der beeindruckenden Größe gelang es den über fünf Meter hohen Wellen, das Schiff wie ein Ruderboot ins Schwanken zu bringen7. In Fachkreisen wird der Auf­ 16 | Seefahrtsnation Schweiz


Container von der MSC Zoe

schaukelungsprozess, der auch größte Schiffe in Seenot bringen kann, als »parametrisches Rollen«8 bezeichnet. Zum Unglück beigetragen hat nach Ansicht des Unfalluntersuchungsberichts 9 auch der beachtliche Tiefgang des Megaschiffs und die geringe Wassertiefe auf der Südroute im Wattenmeer, nahe bei den Inseln10. Entweder hatte das Schiff Boden­ berührung, oder das Wasser unter dem Schiff konnte im Sturm nicht verdrängt werden. Die Bürgermeisterin der autofreien Westfriesischen Insel Schiermon­ nikoog, Ineke van Gent, fand sich in erheblicher Not, auch wenn sofort Hunderte von freiwilligen Helfern zum Aufräumen eintrafen. Die ehe­ malige Grünen-Abgeordnete im niederländischen Parlament unternahm einen für sie ungewöhnlichen Schritt: Sie rief das Militär zu Hilfe. Mit Major Sebastiaan Postema bekam sie einen idealen Partner. Der Logistik­ Einführung | 17


offizier der Luftwaffe erschien mit einer Hundertschaft Soldaten und schwerem Gerät, um den Dreck einzusammeln11. Ellen Kuipers von der NRO Waddenvereniging und Ewout van Galen von der Stichting De Noordzee12 halten das angeschwemmte Mikroplas­ tik für die riskanteste Unfallfolge. Tiere verwechseln die Millimeter klei­ nen Plastikpartikel mit Nahrung. So gerät das Mikroplastik in die Nah­ rungskette13. Eine Vielzahl von Containern konnte trotz intensiver Bemühungen nicht geborgen werden. Einzelne treiben in der Nordsee, andere sanken auf den Meeresgrund und gefährden die Fischerei, da sich die Netze in ihnen verfangen und schlimmstenfalls das Schiff zum Kentern bringen können. Trotzdem wurden die Bergungsarbeiten etwa ein halbes Jahr nach dem Unfall eingestellt14. Die niederländischen Behörden15 mussten zwei Jahre mit der Reederei, der Mediterranean Shipping Company (MSC), und ihren Versicherungen verhandeln, um auch nur eine Mini­

Militär beim Aufräumen

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Mikroplastik

… und die Folgen

Einführung | 19


malabfindung für die Aufräumarbeiten zu erhalten (3,4 Millionen Euro)16. Die Unfallverursacher weigerten sich etwa, die Beseitigung der Plastikpartikel zu bezahlen, die größtenteils noch immer im Strandge­ strüpp feststecken17. Sie stellten infrage, dass sie von der MSC Zoe stamm­ ten. Die niederländische Post-Lotterie ist inzwischen in die Bresche ge­ sprungen und hat der Waddenvereniging 1,9 Millionen Euro zur Beseitigung des Mikroplastiks zukommen lassen18. Eine Lehre aus dem Unfall ist, dass übergroße Schiffe, selbst in Stür­ men, wie sie häufig vorkommen, in akute Seenot geraten können. Zu Recht warnen Umweltorganisationen und Versicherer davor, dass größe­ re Schiffe bisher nie gekannte Risiken mit sich bringen können19. Ist es ein Zufall, dass der Unfall das Schiff einer Schweizer Reederei betraf? Natürlich gehen alle Reedereien Risiken ein. Was die Allgemein­ heit aber nicht weiß, ist, dass MSC, ein in Genf ansässiges diskretes Familienunternehmen 20, das größte Containerschifffahrtsunternehmen und das drittgrößte Kreuzfahrtunternehmen der Welt ist 21. Und hier sind wir bei unserem Thema: Die kleine Alpenrepublik, fernab von allen Weltmeeren, ist – als Reedereistandort – inzwischen zur viertgrößten Seefahrtsnation Europas und zum neuntgrößten Schifffahrtsland der Welt avanciert 22. Wir werden allerdings sehen, dass Reeder nicht dassel­ be sind wie Eigentümer. Typischerweise sind die Schiffe gechartert. Ei­ gentümer ist regelmäßig eine Ein-Schiff-Gesellschaft (»One-Ship Com­ pany«), häufig eine Sitzgesellschaft an einem Offshore-Ort (im Falle der MSC Zoe die Xiangxing International Ship Lease Company in Hong­ kong23). Registriert sind die wenigsten Schiffe, die von der Schweiz aus betrieben werden, in der Schweiz. Zu 90 Prozent sind sie in ein Billig­ flaggenland ausgeflaggt. Die MSC Zoe ist in Panama registriert. Weder das Schiffs- noch das Handelsregister in Panama lässt aber erahnen, wer der eigentliche wirtschaftlich Berechtigte des Schiffes ist. Intransparenz ist ein weiteres Wesensmerkmal der Schifffahrt 24. Doch wie wurde der Flaggenzwerg Schweiz zum Reedereiriesen?

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DIE SCHWEIZER HOCHSEEFLAGGE – EIN TRAUERSPIEL DIE ANFÄNGE Transithandel Bereits im 18. und 19. Jahrhundert spielten Schweizer Kauf leute und Handelshäuser weltweit eine erhebliche Rolle25. Auf dem Atlantik betei­ ligten sie sich im 18. Jahrhundert am sogenannten Dreieckshandel, dem Export von Endfabrikaten (verarbeitete Textilien, Porzellan, Waffen usw.) nach Westafrika im Austausch gegen Sklaven, die nach Brasilien, in die Karibik oder nach Nordamerika verschifft wurden. Von dort wur­ den Kolonialwaren nach Europa gebracht 26. Auch nach der Abschaf­ fung der Sklaverei waren Schweizer Kauf leute besonders aktiv am In­ dienhandel (mit Baumwolle) beteiligt 27. Handelshäuser wie Volkart oder die Basler Missionshandelsgesellschaft unterhielten eigene Segel­ schiffe, die sie allerdings im Ausland registrieren ließen 28. Allmählich gingen sie dazu über, Schiffe oder auch Frachtraum auf Schiffen zu chartern. Mit der Eröffnung des Suezkanals wurde der Einsatz von Dampfschiffen rentabel, obwohl diese damals noch erheblichen Fracht­ raum für Kohle beanspruchten. Sie waren vor allem im Indienverkehr nützlich, weil sie die typische Flaute im roten Meer überbrücken konn­ ten 29. Mit der Einrichtung von regelmäßigen Frachtlinien wurde die Miete von Frachtraum sinnvoll 30. Die international tätigen Handelshäu­ ser verfügten über lokale Niederlassungen weltweit, die auch für die Reeder als Agenten interessant waren. So ergab sich eine Kooperation zwischen Schweizer Transithändlern und Reedereien der europäischen Seefahrtsnationen 31. Eine Schweizer Seef lagge brauchten diese Han­ delshäuser aber nicht wirklich.

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Versorgungsengpässe Bereits im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 musste die Schweiz erleben, wie leicht ihre Versorgung (hier über den Rhein) unterbrochen werden konnte 32. Im Ersten Weltkrieg wurde die Lage noch viel akuter33. Die Zentralstelle für auswärtige Transporte mietete Frachtraum auf neu­ tralen Schiffen (bis zum Kriegseintritt der USA vor allem auf amerikani­ schen Schiffen). Ein Chartervertrag über 28 belgische Schiffe wurde gegen Kriegsende abgeschlossen, aber nicht mehr umgesetzt 34. Obwohl die Barcelona-Konferenz von 1921 neutralen Staaten (auch solchen, die nicht über eine Marine zur Verteidigung ihrer eigenen Schiffe verfügten) gestattete, eine eigene Seeflagge zu führen 35, und ob­ wohl die Bundesverfassung ab 1919 der Schweiz erlaubte, ihre eigene Flagge einzurichten 36, unternahm sie, im Vertrauen auf einen beständi­ gen Frieden, vorerst nichts37. Erst mitten im Zweiten Weltkrieg erkannte

Schweizer Schiff Calanda 1941 in Lissabon

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die Schweiz, dass sie handeln musste. Im April 1941 rief der Bundesrat mit Notrecht eine Schweizer Hochseeflagge ins Leben. Das Kriegstrans­ portamt erwarb (zu kriegsbedingt hohen Preisen) vier Schiffe 38. Weitere unter Schweizer Flagge fahrende Schiffe wurden von priva­ ten Unternehmen betrieben (insgesamt 14)39. Trotz deutlicher Markie­ rung wurden einige der Schiffe von deutschen und von englischen Trup­ pen versenkt40. Immerhin gelang es dem Kapitän der St. Cergue (Fritz Gerber), über 300 Überlebende von torpedierten Schiffen zu retten und einen brennenden portugiesischen Dampfer in den nächsten Hafen (Per­ nambuco) zu schleppen41.

Krisenvorsorge Nach dem Zweiten Weltkrieg verkaufte die Eidgenossenschaft zwar ihre Schiffe an Private, allerdings gewährte sie Schweizer Reedern vorerst (von 1948 bis 1953) zinsgünstige Darlehen zum Erwerb von Schiffen mit der Auflage, sie in Krisenzeiten zwangschartern zu können42. Ab 1953 wurde ein ähnliches Ziel durch die Gewährung von (zunächst subsidiä­ ren43) Bürgschaften erreicht. Das Seeschifffahrtsgesetz von 195344 war ganz auf die Krisenvorsorge ausgerichtet.

EIN HAUCH VON GROSSMACHTPOLITIK Ab den 1980er-Jahren erlebte die Hochseeschifffahrt (mit kleineren Schwankungen) insgesamt eine Hochkonjunktur. Sie steigerte sich in den 1990er- und 2000er-Jahren zu einer regelrechten Blase45. Getragen von diesem Hochgefühl wechselte die offizielle Schweiz ihr Paradigma. Die Hochseef lotte sollte nun nicht bloß der Krisenvorsorge, sondern der günstigen Versorgung ihrer Industrie überhaupt dienen. Die Bürg­ schaften verfolgten nunmehr ein wettbewerbspolitisches Ziel46 . Entsprechend wurden sie aufgestockt. 1992 wurden aus den Ausfall­ Einführung | 23


bürgschaften zur Steigerung der Attraktivität der Investition Solidar­ bürgschaften47. Zugleich wurde der Finanzrahmen für Schiffsbürg­ schaften vom Parlament 1992 auf 500 Millionen Franken und 2008 nochmals auf insgesamt 1,1 Milliarden Franken angehoben48. Typisch für diese Phase war das Votum von Bundesrätin Doris Leuthard im Na­ tionalrat, wo sie erklärte, das Risiko sei minimal49, seit 1948 sei der Bund noch nie zu Schaden gekommen 50. Wie wenig das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) und das damalige Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (EVD) von Seeschifffahrt verstanden, sollte sich aber auch darin zeigen, wie bedenkenlos und ohne ernsthafte Finanzprüfungen Bürgschaften vergeben wurden51.

DER ABSTURZ Mit der Finanzkrise von 2008 platzte auch die Finanzblase in der Schiff­ fahrt. Mit einer Verzögerung von zwei Jahren brachen die Frachtpreise dramatisch ein52 , der Wert der Frachtschiffe auf dem Secondhand-Markt (»Sale & Purchase Market«) halbierte sich in kürzester Zeit 53. Die Bran­ che erholte sich nur sehr langsam. Die Schweizer Reeder, die praktisch ohne Eigenkapital, gestützt auf Bundessubventionen, unterwegs waren, gerieten schon bald in arge Liquiditätsengpässe. Als Erste erwischte es die Reedereien Swiss Cargo Line (SCL) und Swiss Chemical Tankers (SCT). Beide bestanden trotz einer Vielzahl von Ein-Schiff-Gesellschaf­ ten und weiteren Beteiligungen aus je einer Holdinggesellschaft, die bei­ de von derselben Person, Hansjörg Grunder, kontrolliert wurden 54. Nicht abbrechende Liquiditätskrisen ab 2015 führten zum Notverkauf von 12 seiner Schiffe bis 201755. Das Debakel führte zur Ziehung von Solidarbürgschaften in der Höhe von 215 Millionen Franken und zur Liquidation der betreffenden Gesellschaften56. Wenig später geriet eine weitere Schweizer Reederei in Schief lage. 8 Schiffe der Massoel Shipping mussten notfallmäßig verkauft werden. 24 | Seefahrtsnation Schweiz


Erneut wurden Bürgschaften in der Höhe von 129 Millionen Franken fällig57. Nach Medienberichten ist die Schweizer Flagge von stolzen 50 Schif­ fen in den 1980er-Jahren auf ganze 17 zusammengeschmolzen. Dabei sind für 16 Schiffe Bundes-Solidarbürgschaften noch ausstehend. Bei einem Totalverlust könnte das die Steuerzahler weitere 314 Millionen Franken kosten58. Es ist zu hoffen, dass die gegenwärtige Corona-Hausse die Demontage verlangsamt. Der Rahmenkredit wurde nicht mehr er­ neuert, da eine eigene Flotte nach aktueller Ansicht des Bundesrats »kaum einen entscheidenden Mehrwert zur Versorgung der Schweiz« leiste59.

STRAFVERFAHREN Bekanntlich ist unternehmerische Inkompetenz nicht strafbar60. Man ist versucht beizufügen, dass auch für inkompetente Politiker oder Beamte andere Sanktionen als das Strafrecht bereitstehen. Für die fehlenden Kenntnisse von der Volatilität der Märkte im Seehandel – ein Risiko, das im Binnenland Schweiz naheliegt – werden nun allerdings die Steuerzah­ ler zur Kasse gebeten. Das Know-how der alten Handelshäuser ist längst verloren gegangen. An die Stelle von professionellen Reedern, die unter Schweizer Flagge operieren, sind – infolge verfehlter Anreize61 – vielfach Abenteurer getreten, die weder über Wissen noch Kapital verfügen. Allerdings hat sich im SCL/SCT-Debakel ein zusätzliches Problem gezeigt: Gemäß der Anklageschrift62 , die vom Berner Wirtschaftsstraf­ gericht zum Urteil erhoben wurde 63, soll Herr Grunder beim Kauf von vier Mehrzweckfrachtern die japanische Kyokuyo-Werft darum gebeten haben, den Kaufpreis künstlich um 20 Prozent anzuheben. 20 Prozent, die dem Bund in Rechnung gestellt worden sind und die über eine Grun­ der-Gesellschaft in Hongkong abgeführt worden seien. Was Beobachter »kreative Beschaffung von Eigenkapital«64 oder »Beluga-Methode«65 nennen, haben Staatsanwaltschaft und Gericht als Betrug, ungetreue Einführung | 25


Geschäftsbesorgung und Urkundenfälschung eingestuft. Herr Grunder ist erstinstanzlich vom Wirtschaftsstrafgericht zu fünf Jahren Freiheits­ strafe verurteilt worden. Herr Grunders Gegenüber im BWL wurde von der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) 2016 bei der Bundesanwaltschaft angezeigt66. In einem schwer verständlichen Hin und Her wurde das Verfahren von der Bundesanwaltschaft zunächst (mit Verfügung vom 28.10.2016) mangels Tatbestands gar nicht erst an die Hand genommen67, dann am 21.11.2017 wieder aufgenommen, um es im Juni 2020 ganz einzustellen. Trotz Indi­ zien68 für Geschenkeannahme (von Grunder bezahlte Reisen nach China) und Beschäftigung des ehemaligen Stabschefs des BWL in der Reederei Grunders nach seiner Pensionierung (obwohl der Beamte damals noch im Auftragsverhältnis für das BWL weiter tätig gewesen sei) wurden keine Beweise für Bestechungsdelikte gefunden69.

WAFFENTRANSPORTE IN KRIEGSGEBIETE? Die Thorco Basilisk gehörte 2019 zu den von Massoel bereederten Schif­ fen70. Der Schiffsbeobachter Yoruk Isik und die NRO Arms Watch wer­ teten die Protokolle aus, die bei der Durchfahrt durch den Bosporus in Istanbul abgegeben werden müssen. Die vom bulgarischen Schwarz­ meerhafen Burgas kommende Thorco Basilisk gab an, »Patronen für Waffen und Sprengvorrichtungen« zu transportieren. Sie setzte ihre Fahrt nach Dschidda, Saudi-Arabien, fort, wo eine Ladung von Tausen­ den Mörsergranaten einer serbischen Waffenfabrik erwartet wurde71. Schweizer Medien sehen überdies eine Verbindung zur CIA (über den US-Waffenhändler Helmut Mertins72). Dass das Schiff Waffen transpor­ tierte, die für den Krieg in Jemen bestimmt waren73, wurde nicht in Ab­ rede gestellt. Auf eine Frage von Nationalrätin Mattea Meyer74 antworte­ te der Bundesrat aber schriftlich, die Sache gehe die Schweiz (als Flaggenstaat!) nichts an. Die Lieferung sei Gegenstand eines privatrecht­ lichen Vertrags. Auf Anfrage der Medien75 erklärte das Schweizerische 26 | Seefahrtsnation Schweiz


Seeschifffahrtsamt (SSA), sein Mandat erschöpfe sich in der Durchset­ zung von Sicherheits- und Umweltbestimmungen. Dass Waffenlieferungen in Kriegsgebiete von Schweizer Territorium aus (Flaggenprinzip)76 tatsächlich die Schweiz nichts angingen, war eine kühne Behauptung des Bundesrats – zumal zu einem Zeitpunkt, zu dem sowieso niemand mehr an die Fähigkeit der Schweiz zur Kontrolle ihrer Schiffe glaubte. Zu einem Zeitpunkt auch, zu dem die Steuerzahler für die Bürgschaft der Thorco Basilisk geradestehen mussten.

UNTERWEGS AUF DIE SCHWARZE LISTE Das Kapitel Massoel sollte aber noch um eine Dimension reicher werden: Seit den 1920er-Jahren weichen Reeder, die die strikte Kontrolle ihres

Thorco Basilisk


Heimatlandes fürchten, auf Billigflaggen (»Flags of Convenience«) aus. Dies erlaubt es ihnen, nicht nur das Arbeitsrecht ihres Standortlandes, sondern auch nationale und internationale Umweltbestimmungen zu umgehen. Schließlich ist das Ausflaggen an eine Billigflagge ein Königs­ weg, um die eigentliche Kontrolle über ein Schiff mithilfe von Sitzgesell­ schaften (Brief kastenfirmen) zu verschleiern. Die erste Billigflagge offe­ rierte Panama, bald folgten Liberia, die Marshallinseln und weitere Staaten77 KAP. 9. Staaten, die auf der Einhaltung des internationalen Seerechts insis­ tieren wollten, griffen nach dem Instrument der Hafenstaatkontrolle (»Port State Control«)78: Als erste Staatengruppe taten sich die Europäer im Paris MoU zusammen79. Es folgten zehn weitere regionale Zusam­ menschlüsse80. Nach den Memoranda geben sich die Hafenstaaten das Recht, anle­ gende Schiffe zu inspizieren. Sollten sie den Anforderungen an Sicher­ heits-, Arbeits- und Umweltbestimmungen nicht genügen – insbesonde­ re, wenn sie nicht seetüchtig sind –, werden sie bis zur Reparatur im Hafen festgehalten (»detained«). Das Recht dazu nehmen sich die Hafen­ staaten, da die Schiffe freiwillig in den Hafen einlaufen. Somit wird nicht gegen die Freiheit der Schifffahrt verstoßen. Häufen sich die Probleme mit bestimmten Flaggen, rutschen diese von einer weißen auf eine graue Liste ab. Im Fall extremer Häufigkeit von Verstößen wird die Flagge auf eine schwarze Liste gesetzt und ihren Schiffen das Anlegen in den Häfen der betreffenden Region erheblich erschwert oder überhaupt verwehrt 81. Die Resultate der Inspektionen sind im Internet einsehbar, auch die der Inspektionen auf Schweizer Schiffen. Dabei fallen die Massmariner-/ Massoel-Schiffe durch besonders viele Defizite und Festhaltungen auf 82. Die Befürchtung der Schweizer Kapitäne und Reeder83, aber auch der Eidgenössischen Finanzkontrolle84 und des Schweizerischen See­ schifffahrtsamts85, dass die Schweizer Flagge von der grauen Liste, auf der sie sich gegenwärtig befindet, auf die schwarze Liste gesetzt werden könnte, ist sehr real. Dies käme einem Todesurteil für die restliche Schweizer Flagge gleich. Auf der schwarzen Liste sind sonst nur absolu­ te Problemflaggen, mit denen niemand in Kontakt geraten möchte86. 28 | Seefahrtsnation Schweiz


Inzwischen hat der Bundesrat für die verbleibenden Schweizer Schif­ fe mit Bundesbürgschaft zu einer Notlösung gegriffen: Sie dürfen – unter Wahrung der Rechte des Bundes (Pfandrecht, Versicherungsansprüche und Zwangscharter im Krisenfall) – auf eine andere Flagge ausweichen87. Das kommt eigentlich der Aufgabe der Schweizer Hochseeflagge gleich.

BRAUCHT ES NOCH EINE SCHWEIZER HOCHSEEFLAGGE? Es ist klar geworden, dass in der modernen Welt die Schweiz nicht wie im Zweiten Weltkrieg mit 14 Schiffen durch eine Krise durchgefuttert werden kann. Es ist auch wenig wahrscheinlich, dass die Schweiz erneut von feindlich gesinnten Nachbarn eingeschnürt wird. Aber natürlich sind Lieferengpässe auch in Zukunft zu erwarten. Die Blockade des Suezkanals 2021 durch das 400 Meter lange Con­ tainerschiff Ever Given hat belegt, wie anfällig die Lieferketten sind, und die Covid-19-Pandemie hat dies in noch viel umfassenderer Weise spü­ ren lassen KAP. 2. In einer globalisierten Welt ist das Modell der Versor­ gungssicherheit durch Bürgschaften allerdings überholt88. Hier besteht das Ziel, die verbleibenden Bürgschaften ohne weitere Schäden loszu­ werden. Das könnte gelingen, wenn die betreffenden Schiffe im Moment der Hausse verkauft werden. Aktuell ist die Flagge für die Schweiz weit weniger wichtig als der Reedereistandort. Wozu also bedarf es noch einer Flagge? Die Stellung der Schweiz in wichtigen internationalen Gremien wie der UNO oder der Internationa­ len Arbeitsorganisation (IAO) ist nicht davon abhängig, dass sie eine Seeflagge hat89. Anders dürfte es im Rahmen der Internationalen See­ schifffahrts-Organisation (IMO) aussehen90, und es könnte insbesonde­ re für die zukünftigen Umweltdebatten von Belang sein, dass die Schweiz hier gehört wird. Ein weiteres Argument für die Beibehaltung der Schweizer Seeflagge kommt vonseiten der Seefahrergewerkschaft Nau­ tilus. Wer unter Schweizer Flagge arbeitet, darf im Notfall zumindest auf diplomatische Unterstützung hoffen91. Einführung | 29


Das Schicksal des Schweizer Tankers San Padre Pio und seiner Crew belegt die Vorteile der Schweizer Flagge. Das Schiff dien­ te der Betankung von Ölplattformen mit Diesel zum Antrieb der Maschinen. Vor der Küste Nigerias wurde das Schiff von einem Marineschiff gestoppt und in den nächsten Hafen beordert. Die Besatzung wurde wegen Ölschmuggels festgenommen. Nigeria warf ihr vor, dass sie ohne Bewilligung in den Hoheitsgewäs­ sern Nigerias Dieselöl transportierte 92. Die Version der Besat­ zung war dagegen, dass sie sich außerhalb der Territorialgewäs­ ser (in der ausschließlichen Wirtschaftszone von Nigeria) befand93. Es sollte der Beginn einer langen Leidensgeschichte für die Besatzung werden: Zwölf der sechzehn Mann Besatzung kamen nach einem halben Jahr frei, während vier Schiffsoffi­ ziere insgesamt zwei Jahre auf dem Schiff festgehalten wurden. Die Schweizer Diplomatie bemühte sich intensiv um die Freilassung von Schiff und Besatzung. Die Vorstöße blieben al­ lerdings unbeantwortet, bis die Schweiz Nigeria vor dem Inter­ nationalen Seegerichtshof in Hamburg einklagte. Im Eilverfah­ ren wurde als vorsorgliche Maßnahme die Freigabe des Schiffes gegen eine Kaution von 14 Millionen US-Dollar angeordnet. In der Folge einigten sich Nigeria und die Schweiz auf höchstem Niveau auf Freigabe gegen Rückzug der Klage. Inzwischen hat­ te ein nationales nigerianisches Gericht die Seeleute von jeder Souveränitätsverletzung freigesprochen. Der Vorgang gilt als Musterbeispiel dafür, wie sich ein seri­ öser Flaggenstaat – im Gegensatz zu einer Billigflagge – für seine Schiffe und ihre Besatzung einsetzen kann94. Wer in der Sache Recht hatte, wird wohl kaum je ans Licht kommen, zumal sich auch die Reederei beharrlich ausschweigt.

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DIE AUTOREN Mark Pieth ist emeritierter Profes­ sor der Universität Basel, wo er von 1993 bis 2020 als Ordinarius für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie tätig war. Er ist Grün­ der und Präsident des Basel Institu­ te on Governance und befasst sich seit 30 Jahren auf internationaler Ebene mit Regulierungsfragen. Kathrin Betz ist als Advokatin in Basel tätig. Von 2011 bis 2016 ar­ beitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Mark Pieth an der Universität Basel, wo sie ihre Dissertation ver­ fasst und sich mit Themen der Re­ gulierung in internationalen Orga­ nisationen befasst hat.

Die Autoren | 279


Elster & Salis wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Mark Pieth, Kathrin Betz Seefahrtsnation Schweiz Vom Flaggenzwerg zum Reedereiriesen Verlag

Lektorat & Korrektorat Satz Gestaltungskonzept Inhalt Umschlaggestaltung

Gesamtrealisation Gesamtherstellung

Elster & Salis AG, Zürich info@elstersalis.com www.elstersalis.com

Patrick Schär Ulrike Groeger Peter Löffelholz André Gstettenhofer

www.torat.ch CPI Books GmbH, Leck 1. Auflage 2022 © 2022, Elster & Salis AG, Zürich Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-03930-033-4 Printed in Germany


MARK PIETH BEI ELSTER & SALIS Die brisante, exklusiv recherchierte Darstellung eines wirtschaftspoliti­ schen Schlüsselthemas führt sowohl zur glitzernden Welt der Goldverar­ beitung als auch zu den übelsten Mi­ nenregionen der Welt. Mark Pieth beleuchtet die histori­ schen Wurzeln des Goldhandels und die aktuellen Lieferketten, von den Minen über die Raffinerien und ge­ heimen Zwischenhändler bis zu den Konsumenten: den Zentralbanken, Investoren, Juwelieren und Uhrma­ chern. Und er offenbart die enorme Problembelastung der Goldgewin­ nung, die mangels verbindlicher Re­ gulierung im Verborgenen bleibt: schwere Umweltzerstörung, Zwangs­ arbeit und Menschenhandel, Ver­ treibung, Potentatengeld und Geld­ wäscherei. Dabei weiß der Autor auch komplizierte Sachverhalte verständlich und packend zu schildern. Die Schweiz ist nicht nur eine Großmacht im Finanzbereich und im Rohstoffhandel, dessen skandalöse Funktionsweisen das »Rohstoff«-Buch der Erklärung von Bern (EvB, heute Public Eye) bei Salis offenlegte. Auch im globalen Goldhandel ist die Schweiz führend. Doch während etwa die EU bestehende OECD-Richtlinien jüngst in verbindliches Recht überführt hat, setzt die Schweiz weiterhin auf freiwillige Selbstre­ gulierung. Gebunden, zahlreiche Abbildungen in Farbe PRINT: ISBN 978-3-906195-93-3 // E-BOOK: ISBN 978-3-906195-94-0


MARK PIETH BEI ELSTER & SALIS In this eye-opening book, Mark Pieth gives an in-depth insight into how the global gold market works, what role Switzerland plays in it, where the hid­ den abuses lie and how human rights in the gold industry can be protected in a credible way. This hard-hitting, exclusively resear­ ched depiction of a key area of econo­ mic policy takes us both to the glitte­ ring world of gold refining and to the world’s worst mining regions. Mark Pieth illuminates the historical roots of the gold trade before turning his attention to today’s supply chains, from mines to refineries and clandes­ tine intermediaries to consumers: central banks, investors, jewellers and watchmakers. He reveals some of the horrific problems caused by gold mi­ ning that still receive little attention due to a lack of binding regulations: severe environ­ mental destruction, forced labour and human trafficking, land grabbing, stolen assets and money laundering. The author manages to make these complex topics easy to understand and hard to ignore. Switzerland is not only a major power in the financial sector and commodity market – who­ se scandalous workings were revealed by the Swiss NGO Berne Declaration (now Public Eye) in the book »Rohstoff«, also published by Salis. Switzerland is also a leader in global gold trading. But while the EU, for example, has recently turned existing OECD guidelines into binding law, Switzerland continues to rely on voluntary self-regulation. Paperback, illustrations and photographs in color, 304 pages PRINT: ISBN 978-3-906195-95-7 // E-BOOK: ISBN 978-3-906195-96-4




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