Daniel Levin. Zwanzig Tage. LESEPROBE

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Die aTemlose Jagd nach einer vermissTen Person im nahen osTen Dan iel Levin ZwanZig Tage »UngeheUer spannend!« Daniel KahneMan, nOBeLpreisTrÄGer UnD BesTseLleraUTOr

DANIEL LEVIN

ZWANZIG TAGE

Die atemlose Jagd nach einer vermissten Person im Nahen Osten

Aus dem amerikanischen Englisch von Milena Adam

Titel der Originalausgabe Proof of Life.

Twenty Days on the Hunt for a Missing Person in the Middle East Published by Algonquin Books of Chapel Hill, a division of Workman Publishing, New York, NY, USA

© 2021 by Daniel Levin. All rights reserved.

Daniel Levin Zwanzig Tage. Die atemlose Jagd nach einer vermissten Person im Nahen Osten

Elster & Salis AG Löwenstraße 2, CH–8001 Zürich, Schweiz info@elstersalis.com, www.elstersalis.com

Übersetzungslektorat Philipp Stolz

Korrektorat Ger trud Germann Satz Peter Löffelholz Umschlagfoto Roland Korner Umschlaggestaltung Philipp Stolz Druck und Bindung CPI Books GmbH, Leck

Elster & Salis wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Charles Baudelaire, aus: Le Joueur généreux, in: Le spleen de Paris: Petits poèmes en prose, Œuvres complètes IV, Michel Lévy Frères, Paris, 1869. Zitat ins Deutsche übertragen von Milena Adam.

1. Auflage 2023

© 2023 Elster & Salis AG, Zürich. Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-03930-039-6 Printed in Germany

Für Reem und Samar

La plus belle des ruses du diable est de vous persuader qu’il n’existe pas.

Die schönste List des Teufels ist es, uns zu überzeugen, dass es ihn nicht gibt. Charles Baudelaire, Le spleen de Paris: Petits poèmes en prose

Dieses Buch erzählt von meiner Suche nach einer in Syrien vermissten Person während zwanzig aufreibender Tage im Jahr 2014. Es ist eine wahre Geschichte. Dies ist kein Geschichtsbuch über Syrien und keine journalistische Berichterstattung über einen furchtbaren Krieg voller Gräueltaten. Ebenso wenig ist es eine moralisierende Fabel. Die Feststellung, dass das Böse überall existiert, oder zumindest überall, wo es Menschen gibt, ist kaum einer Schlagzeile würdig und beschränkt sich gewiss nicht auf Syrien oder den Nahen Osten. Das Verschwinden des Mannes im Mittelpunkt dieses Berichts wurde von den Medien nicht aufgegriffen. Zunächst wurde es nicht einmal bemerkt, und nachdem man es entdeckt hatte, wurde es von allen ignoriert, die in der Lage gewesen wären, zu helfen. Es ist eine Geschichte über Verlust und Trauer, über Gewalt und Tod, über unsagbare Grausamkeit und Gier – tägliches Brot in Syriens verheerendem Krieg. Doch es ist auch eine Geschichte über Mut, Stärke und Beharrlichkeit, über Treue und Weisheit. Es ist die Geschichte all der Monster, denen ich begegnet bin, die getrieben waren von ihrem unstillbaren Hunger nach Macht und Reichtum. Zugleich ist es die Geschichte einiger tapferer und inspirierender Seelen, die mir selbstlos und oft auf großes eigenes Risiko hin geholfen haben. Ihre aufopfernden und mutigen Taten waren mein Trost, besonders in jenen finsteren Augenblicken, als die Grenzen zwischen diesen Monstern und meinen eigenen Dämonen zu verschwimmen begannen. Ihre Unterstützung war mein Halt, wenn jene, die sich hätten kümmern sollen, es nicht taten. Diese Individuen – diese Engel – halfen, weil sie alles verloren hatten und doch an ihrer Menschlichkeit festzuhalten vermochten, was in brutalem Kontrast stand zu jenen, die hätten

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EINFÜHRUNG

helfen können und sich dagegen entschieden und die nichts verloren hatten a ußer ihrer Menschlichkeit. Während jener zwanzig Tage im Jahr 2014 ließ der Druck nie nach. Bis zuletzt lebte ich ununterbrochen mit dem Gefühl, mein Kopf würde unter Wasser gedrückt. Ich versuchte, meiner Bedrängnis Herr zu werden, mein eigenes Bewusstsein zu manipulieren. Ich lernte, meine Ängste d anach zu ordnen, wie sehr sie mich lähmten und inwieweit sie sich auf meine Konzentration und mein Gedächtnis auswirkten. Gerade mein Gedächtnis, meine Fähigkeit, mich an diese Geschehnisse und Dialoge zu erinnern, wurde von den Einschüchterungen und meinem Gespür für Gefahr beeinflusst. Ich lernte, dass physische Bedrohungen die Tendenz hatten, meinen Verstand zu schärfen und den Augenblick in mein Gedächtnis einzuschreiben wie eine Radierung. Später, wenn die jeweilige Bedrohung nachgelassen hatte, übermannte mich die Erschöpfung, doch die Erinnerung blieb stets intakt. Psychologische Drohungen hingegen, meist unausgesprochen und doch beängstigend, verursachten bei mir häufig ein sofortiges Trauma, ein momentanes Blackout, das eine frust rierende Leerstelle im Gedächtnis hinterließ. Zwar dauerten diese Blackouts nur wenige Augenblicke, meine Gedanken und Empfindungen während dieser Zeitspanne gingen jedoch unwiderruflich verloren.

Je mehr auf dem Spiel stand, umso stärker wurde ich mir meiner eigenen Isolation bewusst. Während der häufigen Zeitspannen, in denen ich a llein war, fühlte ich mich exponiert und verwundbar – auf der Straße, am Flughafen oder in einem Hotelfoyer, im Taxi und sogar auf dem Weg zur Toilette im hinteren Teil eines Restaurants. Ich hatte oft das Gefühl, jemand könnte mir folgen, widerstand jedoch dem Drang, mich umzusehen, weil ich wusste, dass ich dann bald aufhören würde, mich vorwärtszubewegen. Manchmal, wenn in meinen einsamsten, dunkelsten Stunden der Druck anstieg, verwandelte sich das Wesen dieser quälenden Empfindung in etwas Bösartigeres, Gewalttätigeres. In jenen Augenblicken hatte ich das Gefühl, eine Handgranate mit fehlendem Zündstift zu halten, die drohte mir aus der schweißnassen Hand zu gleiten und nicht nur mich, sondern auch all jene um mich herum, für deren Sicherheit ich verantwortlich war, zu töten. In diesen drei Wochen bekam ich

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einen Intensivk urs in der Kunst des Sammelns und Einlösens von Jetons – etwas zu tun, was für jemand anderes von Wert ist, um zu einem geeigneten Zeitpunkt im Gegenzug selbst etwas von Wert zu erhalten. Infolge d essen fand ich mich permanent in ein komplexes, verworrenes Netz aus Gefallen und Gegengefallen verwickelt. Während ich mir einen Weg durch dieses tückische Umfeld bahnte, erschöpfte mich die von Adrenalin und Angst ausgelöste Reizüberflutung. Ich fühlte mich permanent auf die Probe gestellt, was meine periphere Wahrnehmung bis zur Paranoia schärfte. Ich verwendete enorm viel Energie darauf, herausz u fi nden, ob ich die Menschen um mich herum manipulierte oder ob ich selbst manipuliert wurde. Nur die Weisheit meines lieben Freundes Jacques de Pablo Lacoste bewahrte mir einen Rest meines Verstandes und das Bewusstsein meiner eigenen Verletzlichkeit, indem er mich daran erinnerte, dass der Pokerspieler, der den Trottel in der Runde sucht, in der Regel selbst diese Rolle innehat. Ich wusste, dass mein Verstand und mein Überleben – genauso wie mein Erfolg – von meiner Fähigkeit abhingen, mich an jedes Detail zu erinnern, egal, wie nebensächlich es zu sein schien, und so beobachtete ich jede Verhaltensnuance in meiner Umgebung. Jeder Akzent in der Sprache, jedes Kleidungsstück konnte mir eine entscheidende Information liefern oder einen Hinweis geben, ob ich mich in einer sicheren Situation oder einer gefährlichen Zwangslage befand. Jedes Ritual konnte wesentliche Anhaltspunkte liefern – von einem Händedruck oder einem Wangen k uss bis hin zu einer Geste, die harmlos und wohlmeinend erschien, womöglich aber eine dunklere, bedrohliche Botschaft barg.

Ich hielt alles in einem Tagebuch fest und nahm mehrere der Unterhaltungen mit meinem Handy auf, um sie dann ins Schweizerdeutsche zu t ranskribieren. Ein israelischer Bekannter, Offizier in der renommierten Einheit 8200 des israelischen Militärnachrichtendienstes, riet mir, die Aufnahmen zu verschriftlichen und dann aus Sicherheitsgründen sofort zu löschen. Er führte mir vor, wie einfach es war, mein Handy zu hacken und auf sämtliche Daten inklusive der gespeicherten Aufnahmen zuzugreifen. In meinem Zustand erhöhter Alarmbereitschaft war es ein Leichtes, mich von seiner Empfehlung zu überzeugen. Den Dreh mit dem

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Schweizerdeutsch habe ich von einem russischen Freund, der nach seiner gemeinsamen Zeit mit Putin im Dresden der späten 1980er Jahre in dessen Dunstkreis blieb. Ihm zufolge ist Schweizerdeutsch – bis heute bin ich mir nicht sicher, inwieweit das als Scherz gemeint war – eine der ganz wenigen lokalen Sprachvarietäten, deren Entzifferung dem KGB mächtige Schwierigkeiten bereitet habe. Für meinen Freund klang dieser Dialekt eher nach einer Rachenentzündung als nach einer Sprache.

Wenn ich etwas nicht unmittelbar aufschreiben oder mein Aufnahmegerät nicht rechtzeitig anschalten konnte, rekonstruierte ich die Ereignisse und Gespräche am Ende jedes Tages in meinem Tagebuch. Die Transkripte dieser Notizen sind in den Dialogen dieses Buches Wort für Wort wiedergegeben. Sofern ich die Gespräche realitätsgetreu aufzeichnen konnte, wurde nichts verändert und kein Gespräch verkürzt. Bearbeitet habe ich sie dahingehend, dass ich leere Worthülsen wie »ähm«, »weißt du?«, »halt«, »im Endeffekt« und »genau« wie auch »also« am Satzanfang – yaani auf Arabisch – ausgelassen habe. Ich bin mir darüber im Klaren, dass meine eigene Erinnerung voreingenommen und unscharf sein kann, und manchmal war ich überrascht, wenn ich viel später meine eigenen Notizen, Tagebücher und Transkripte las, weil ich manche Vorkommnisse und Unterhaltungen anders in Erinnerung hatte. Ich habe mich bemüht, meine Version der Dinge von den zu ei nem bestimmten Zeitpunkt anwesenden Personen bestätigen zu lassen. Ab und zu weichen ihre Erinnerungen und Eindrücke von meinen ab. Im Interesse der Genauigkeit und Objektivität habe ich diese Diskrepanzen jeweils in Fußnoten festgehalten. Ebenfalls in Fußnoten habe ich darauf hingewiesen, wenn ich mich auf Fremdinformationen verlassen musste, die ich nicht unabhängig überprüfen konnte.

Wie bereits erwähnt, haben einige Menschen mir sehr geholfen und mich mit bedeutsamen Informationen versorgt, obwohl sie Gefahr liefen, entdeckt zu werden und drakonische bis tödliche Konsequenzen zu erleiden. Die meisten dieser Menschen und ihre Familien schweben noch immer in Gefahr. Ich habe ihre Namen und manche Merkmale oder unbedeutende Details einiger Orte verändert, um zu verhindern, dass Rückschlüsse auf ihre Identität oder ihren Aufenthaltsort gezogen

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werden können. Schließlich musste ich auch mich selbst schützen, indem ich die Identitäten bestimmter Personen verschleierte. Ich habe jedoch weder Täter anonymisiert, noch die physischen Merkmale von Personen abgewandelt oder ausgeschmückt. Diese Beschreibungen sind akkurat und ungeschminkt.

Folgende Namen in alphabetischer Reihenfolge sind Pseudonyme: Alex, Aliya, Bassel, Clyde, Fuad, Huby, Jamil, Loubna, Paul, Reem, Saif, Samar, Sami, der Scheich und Tatyana. Alle anderen Personen werden mit ihren tatsächlichen Namen genannt, einschließlich aller im Postskriptum Erwähnten.

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Ich betrat die Abflug­L ounge hinter der Sicherheitskontrolle ein paar Minuten vor Mitternacht. Sie war für die Uhrzeit erstaunlich gut besucht. Als ich die Treppen zum unteren Stockwerk hinunterstieg, erkannte ich Jamil, der sich strategisch mit Blick auf die Treppen platziert hatte. Er erhob sich, sobald er mich erblickte. Sofort fielen mir seine helle Haut und die stechend grünen Augen auf. Seine angenehmen Züge und das gewellte braune Haar konnten den durchdringenden Blick dieser Augen nicht abmildern.

»Warum setzen wir uns nicht in die Ecke beim Kaffeestand, wo wir uns ursprünglich treffen wollten«, sagte er in perfektem, akzentfreiem Englisch. Seine Stimme war so sanft wie seine Gesichtszüge und stand in scharfem Kontrast zu seinem lodernden Blick. Noch nie hatte ich derart glühende Augen gesehen; sie sahen beinahe wie eine Fotomanipulation aus.

Wir fanden zwei Sitze im hinteren Teil der Lounge, und Jamil bedeutete mir, Platz zu nehmen. »Kann ich Ihnen einen Kaffee, Tee oder etwas anderes bringen?«, fragte er in ebenso perfektem akzentfreiem Französisch und deutete auf die Getränketheke.

»Ein Kaffee wäre gut«, antwortete ich auf Französisch, »aber lassen Sie mich doch mitkommen.«

»Nicht doch«, protestierte Jamil und wechselte wieder ins Englische, »Sie sollten hierbleiben und aufpassen, dass sich niemand unsere Sitze schnappt. Das sind die besten Plätze des Hauses. Davon abgesehen, werde ich für den Rest der Reise zu Ihrer Verfügung stehen, insofern ist es ein guter Anfang, wenn ich Ihnen den Kaffee serviere.«

Die letzten Worte sprach er mit einem warmen Lächeln auf Arabisch,

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frei von irgendwelcher Schärfe oder irgendwelchem Sarkasmus, doch seine aufmerksamen Augen wirkten dominant, sogar bedrohlich.

Jamil kehrte mit zwei Tassen Kaffee zurück und setzte sich.

»Ich werde Ihnen nicht sagen, dass Khalid in höchsten Tönen von Ihnen gesprochen hat«, sagte er und reichte mir meine Kaffeetasse, »denn hätte er das nicht, würden Sie und ich nicht zusammen hier sitzen, und Sie würden den Scheich nicht treffen. Daher hoffe ich, Sie verzeihen meine unhöfliche Freimütigkeit, doch es wäre unangemessen, gleich bei unserem ersten Kennenlernen Ihre Intelligenz zu beleidigen.«

Auf eine derart entwaffnende Ehrlichkeit war ich nicht vorbereitet. Jamil hatte nur wenige Minuten gebraucht, um in unserer Beziehung die Führung zu übernehmen, und ich war besorgt, dass er, sollte ich keine Gelegenheit finden, mich zu behaupten, zu dem Schluss kommen könnte, ich sei eines Treffens mit dem Scheich nicht würdig. Ich beschloss, alles auf eine Karte zu setzen und seine Unverblümtheit in gleichem Maße zu erwidern. Es war eine Erleichterung, dass Jamil schließlich Englisch zur Sprache der Wahl bestimmt hatte.

»Danke«, sagte ich. »Obgleich ich davon ausgehe, dass Sie mich die nächsten Stunden daraufhin prüfen werden, ob ich es verdiene, zu …« – ich hielt inne, unsicher, wie ich den Scheich bezeichnen sollte –, »Ihrer Hoheit vorgelassen zu werden.« Ich bereute es, Khalid nicht nach der korrekten Anrede für den Scheich gefragt zu haben.

Jamil lachte. »Das ist ausgezeichnet, mein Freund. Wenn Sie so weitermachen, kommt es andersherum, und Sie stellen am Ende fest, dass ich derjenige bin, der beim Scheich nichts zu suchen hat. Im Übrigen – nennen Sie ihn einfach Scheich. All die hochgestochenen Titel – Eure Hoheit, Eure Majestät – behalten wir uns für die selbsternannten Herrscher in der Golfregion mit all ihren Königen und Prinzen vor. Hier in der Levante bevorzugen wir es, unsere Anführer auf schlichtere Weise zu adressieren. Sie können sich uns als Republikaner vorstellen. ›Scheich‹ genügt.«

»Das werde ich mir merken, danke.« Mir kam in den Sinn, dass auch »Scheich« ein Ehrentitel war, doch ich beschloss, das für mich zu behalten. Ein Angestellter näherte sich unserer Sitzgruppe, um das Geschirr

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abzuräumen. Jamil hob die linke Hand und schüttelte leicht den Kopf. Der Angestellte blieb wie angewurzelt stehen und verschwand sofort. Auch ganz ohne Worte strahlte Jamil eine machtvolle, natürliche Autorität aus.

»Davon abgesehen«, fuhr Jamil fort, »sollten Sie wissen, dass der Scheich jede Form der Schmeichelei verabscheut. Wenn jemand ihn mit übertriebener Ehrerbietung oder irgendeinem superlativischen Ehrentitel anspricht, erhebt er seine Stimme und befiehlt dieser Person, nicht länger die Faust der Schmeichelei einzusetzen.«

»Die Faust der Schmeichelei?«, fragte ich. »Den Ausdruck habe ich noch nie gehört. Normalerweise wird von ihrem süßen Klang gesprochen, also eher von einem samtenen, seidenen Handschuh als von einer Faust.«

»Stimmt, so sehen es die meisten Menschen«, sagte Jamil. »Tatsächlich aber hindert uns die Schmeichelei am Lernen, am Wachstum, weil sie uns in ein falsches Gefühl von Erfolg und Wichtigkeit einlullt. Schmeichelei ist wesentlich gefährlicher als Aggression, weil sie uns verweichlicht und von innen heraus zerstört. Daher eine Faust.«

»Ich verstehe. Eine Faust also.« Der Grad der Intensität, die unser Gespräch so schnell erreicht hatte, verblüffte mich. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der so radikal jeglichen Anschein von Smalltalk über Bord warf. Eine vage Bedrohung schien permanent von Jamil auszugehen wie eine unausgesprochene Warnung, dass keine Fehler toleriert würden.

»Eines Tages, kurz nachdem ich den Scheich kennengelernt hatte«, fuhr Jamil fort, »sah er, wie ich lächelte, als mir jemand sagte, wie schlau ich sei. Nachdem die Person gegangen war, winkte der Scheich mich heran. ›Merk dir die Lektion, die ich dir erteilen werde, Jamil‹, tadelte er mich in einem strengen Tonfall. ›Wenn du es zulässt, dass man dir schmeichelt und dich lobt, sprichst du am Ende nur zu dir selbst und hörst nur deine eigene Stimme, bis du eines Tages nicht einmal auf sie hören wirst.‹ Diese Lektion habe ich nie vergessen.«

»Das werde ich wahrscheinlich genauso wenig«, sagte ich. Jamil schmunzelte. »Gut. Übrigens haben Sie recht, ich werde tatsächlich die nächsten Stunden damit verbringen, Sie auf die Probe zu

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stellen. So offensichtlich es für Sie war, dass Sie hier sind, weil Khalid in hohen Tönen von Ihnen gesprochen hat, so offensichtlich ist es für mich, dass Khalid Ihnen erzählt hat, dass Ihre Prüfung meine Aufgabe und der Hauptgrund dafür ist, dass ich Sie in Istanbul abhole. Davon abgesehen, dass ich Ihre Reise so sicher und angenehm wie möglich gestalte, versteht sich«, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu. Wieder funkelten Jamils Augen bedrohlich, im Gegensatz zum Rest seiner Erscheinung.

»Versteht sich.« Ich konnte nachvollziehen, was Khalid über Jamil gesagt hatte. Noch nie hatte ich jemanden getroffen, der so warm und so kalt z ugleich sein konnte.

Jamil fragte nach meiner Bordkarte, um sicherzustellen, dass wir auf dem Flug nach Beirut nebeneinander sitzen würden.

»So ein Zufall«, sagte er, als ich sie ihm reichte. »Ich sitze direkt neben Ihnen. Warum begeben wir uns nicht zum Gate – es wird spät.«

Als wir aufstanden, klingelte mein Handy. Es war Huby. Ich ignorierte den Anruf, doch im selben Moment wurde mir bewusst, dass ich vergessen hatte, meine Unterhaltung mit Jamil aufzuzeichnen. Vor dem Betreten der Lounge hatte ich gerade den Flugmodus einstellen wollen, damit die Aufnahme nicht von eingehenden Anrufen unterbrochen würde, war jedoch von einer lauten Auseinandersetzung am Empfangstresen abgelenkt worden. Ein französischer Passagier hatte beim zuständigen Manager Zutritt zur Lounge gefordert, obwohl sein Ticket ihm dieses Privileg nicht gewährte. Mein Aussetzer ärgerte mich. Das war kein vielversprechender Beginn meiner Mission.

Jamil beobachtete mich ununterbrochen. Mich beschlich das unheimliche Gefühl, er könne meine Gedanken lesen.

»Durch Mobiltelefone werden manchmal mehr Probleme geschaffen als gelöst«, sagte Jamil, als wir die Treppen hinauf zum Eingang der Lounge gingen. »Ich hoffe, dass Sie keine Einwände haben, aber nach der Landung in Beirut würde ich es begrüßen, wenn Sie Ihr Telefon einem unserer Leute aushändigen würden. Sie bekommen es vor der Abreise zurück.«

Ich nickte. Die Reise hatte begonnen.

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Während des Flugs sprach Jamil nur wenig. Ich versuchte, Zeitung zu lesen, um mich von dem vor mir Liegenden abzulenken, doch es gelang mir nicht, mich zu konzentrieren. Ich fragte mich, ob Jamil noch darüber nachgrübelte, ob er mich nach der Landung zum Scheich bringen sollte. Nach einer kurzen Zeit in der Luft sah ich die wunderschönen Lichter an der Küste von Beirut, während sich das Flugzeug der Landebahn näherte. Vom sternklaren Himmel aus betrachtet, wirkte die Stadt un berührt und unschuldig.

Als wir auf das Terminal zurollten, bemerkte ich die ungewöhnliche Helligkeit zweier Flutlichter, die eine Landebahn in einer entfernten Ecke des Flughafens beleuchteten und den Eindruck erweckten, ein Luftwaffen stütz punkt würde die klandestine Landung eines von geheimer Mission zurückkehrenden Kampfjets vorbereiten. Zu Beirut gehörte stets dieser Beigeschmack von Verschwörung und verborgener Gefahr. Nichts hatte sich geändert, seit ich diese Stadt vor vielen Jahren zum ersten Mal betreten hatte.

Als das Flugzeug seine Parkposition erreicht hatte und die Motoren zur Ruhe kamen, lehnte sich Jamil zu mir herüber und flüsterte, dass die Unterhaltung mit dem Scheich vermutlich in einer Mischung aus Arabisch, Englisch und ein wenig Französisch geführt würde. Da der Scheich gelegentlich Wörter aus einem lokalen, in den nordöstlichen Vororten Beiruts gesprochenen arabischen Dialekt verwende, würde Jamil mir helfen und hier und da übersetzen, sollte er bemerken, dass ich Mühe hätte, den Scheich zu verstehen. Doch er riet mir, den Scheich nicht zu unterbrechen, sondern ihn die Führung übernehmen zu lassen, und meinte, mein Arabisch sei vermutlich ausreichend, um ihm zu folgen. Im Stillen dankte ich meiner Arabischlehrerin, einer Palästinenserin, die mich akribisch für die große Vielfalt der im Nahen Osten vertretenen arabischen Dialekte sensibilisiert hatte, vor allem derjenigen ihrer Heimatstadt Beirut mit ihrer Unzahl von Slangs und Ausdrucksweisen, die sich von Quartier zu Quartier unterschieden. Ich hatte keine Ahnung, woher Jamil meine Arabischkenntnisse beurteilen konnte, da wir nur wenige Worte in dieser Sprache ausgetauscht hatten und Khalid mir mit Sicherheit gesagt hätte, wenn er Jamil gegenüber darauf zu sprechen gekommen

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wäre. Doch ich bekam keine Gelegenheit, danach zu fragen, denn exakt in dem Moment öffneten sich die Türen, und alle gingen von Bord.

Als Jamil und ich aus dem Flugzeug traten, näherte sich uns ein Mann und wies auf die Tür, hinter der Metallstufen zum Rollfeld hinabführten. Am Ende der Treppe wartete ein Wagen mit einem Fahrer und einer weiteren Person, die sich als Hussein vorstellte.

»Willkommen in Beirut«, sagte Hussein. »Wären Sie so freundlich, mir Ihren Pass auszuhändigen?«

Wir fuhren unter den Gangways hindurch über das Rollfeld zu einem Gebäude mit der Aufschrift VIP/ DIPLOMATEN . Jamil und ich nahmen auf den abgenutzten Sofas im Warteraum Platz, während Hussein meinen Pass dem Sicherheitsoffizier brachte.

»Hussein ist die Person, die Khalid letzte Woche getroffen hat«, sagte Jamil leise. »Derjenige, der ihn in der Paul­Blocher­A ngelegenheit mit dem Scheich in Verbindung gesetzt hat. Er wird beim Treffen mit dem Scheich nicht dabei sein, doch Sie werden ihn bei der Rückkehr zum Flughafen noch einmal sehen.«

Mir wurde bewusst, dass dies Jamils erste Erwähnung von Paul war. Im selben Moment begriff ich, dass ich den Scheich tatsächlich treffen würde. Irgendwie war es mir gelungen, Jamils Prüfung zu bestehen.

Hussein kam mit meinem Pass zurück. »Wir können gehen. Dürfte ich Sie um Ihr Mobiltelefon bitten?«, fragte er höflich.

Obwohl Jamil mich darauf vorbereitet hatte, dass ich mein Handy würde abgeben müssen, war mir ein wenig mulmig dabei. Ich war ihnen nun völlig ausgeliefert und hatte keine Möglichkeit, jemanden zu kontaktieren, sollte etwas schieflaufen. Gleichzeitig wusste ich, dass dies bei dieser Art von Operationen zum Protokoll gehörte, in Beirut und Moskau genauso wie in Washington. Ich schaltete mein iPhone aus, das ich nach der Landung erst vor ein paar Minuten eingeschaltet hatte. Jamil würde das geringste Anzeichen eines Zögerns bemerken, also übergab ich es Hussein mit größtmöglicher Beiläufigkeit – mit einer gelangweilten Geste und ohne Augenkontakt. Einen kurzen Augenblick lang überlegte ich, ob ich mein altes Schweizer Nokia als eine Art Versicherung behalten sollte, verwarf den Gedanken jedoch schnell und übergab es Hussein ebenfalls.

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Jeder Metalldetektor würde meinen Ungehorsam schließlich entlarven und somit die ganze Mission und womöglich meine eigene Sicherheit gefährden. Ich war froh, dass ich daran gedacht hatte, ein paar Blatt Papier u nd einen Stift in die Tasche meines Jacketts zu stecken, sodass ich mir Notizen machen konnte, wenn die Umstände es erlaubten.

Wir gingen zur anderen Seite des Gebäudes, wo ein Wachmann salutierte, als wir nach draußen traten. Sein Gebaren machte deutlich, dass Jamil jemand war, dem man Respekt zu zollen hatte. Dort wartete ein weiterer Wagen, und Jamil und ich stiegen ein.

»Yallah«, sagte er zum Fahrer. »Fahren wir.«

Wir passierten das Sicherheitstor und verließen den Flughafen. Der Fahrer schaltete das Radio ein und schob eine CD ins Laufwerk – Chopins Nocturnes, recht unerwartet, aber nicht unpassend für diese nächtliche Fahrt durch Beirut.

»Es ist nicht weit, etwa fünfzehn Minuten«, sagte Jamil. »Eines noch, bevor Sie den Scheich treffen. Fragen Sie nicht nach Paul Blocher. Lassen Sie ihn das Thema ansprechen. Er weiß, dass dies der Grund für Ihr Kommen ist. Doch er wird sich erst einen eigenen Eindruck von Ihnen verschaffen wollen, bevor er darauf zu sprechen kommt. Haben Sie also Geduld.«

»Danke für den Hinweis«, sagte ich und hoffte, meine Besorgnis verbergen zu können. Augenscheinlich würde ich für die ganze Dauer meines Besuchs unter akribischer Beobachtung stehen. Ich fragte mich, ob m an mir auf der Fahrt die Augen verbinden und ob Jamil während des gesamten Treffens mit dem Scheich anwesend sein würde.

»Ich werde Ihnen nicht von der Seite weichen, keine Sorge«, sagte Jamil, meine Gedanken lesend. »Doch es wird Ihrem Ansehen schaden, wenn ich Sie vor ihm korrigieren oder in Schutz nehmen muss.«

Während der Fahrt durch verlassene Straßen versuchte ich, mich auf Merkmale zu konzentrieren, die verrieten, wo wir uns befanden, auffällige Orientierungspunkte. Doch es war finster, und die Gebäude und Alleen waren allesamt grau und sich zum Verwechseln ähnlich. Wir waren zu oft abgebogen, als dass mein Orientierungssinn noch funktioniert h ätte. Genauso gut hätte man mir die Augen verbinden können. Während ich gegen das zunehmende Gefühl ankämpfte, Jamil ausgeliefert zu sein,

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Wir gingen durch einen Metalldetektor und betraten ein spärlich beleuchtetes Treppenhaus. Mir fiel mein Zögern ein, bevor ich Hussein am Flughafen mein altes Nokia übergeben hatte. Hätte die Besonnenheit nicht gesiegt, wäre meine Reise genau in dem Moment, an diesem Metalldetektor, zu Ende gegangen. Auf jeder Etage standen zwei weitere bewaffnete Wachleute. Im dritten Stock bedeutete Jamil mir, in eine Wohnung einzutreten. Im Inneren führte uns ein weiterer Wächter zu einer Sitzgruppe. Im ganzen Gebäude war es auffallend still. Keiner der Wachleute hatte auch nur ein Wort an Jamil gerichtet; sie begegneten ihm mit vollkommener Unterwürfigkeit.

Das feuchte Zimmer war von einem unangenehmen Modergeruch erfüllt, als wäre seit Jahren nicht gelüftet worden. Ich versuchte, den Gestank zu ignorieren, doch er war überwältigend. Ich erwog die Möglichkeit, dass Jamil und der Scheich absichtlich diesen stinkenden Ort gewählt hatten, um meine Konzentration und Beharrlichkeit zu testen. Ich fühlte mich extrem unwohl in meiner Haut und befürchtete, dass mein an Übelkeit grenzender Ekel für andere ersichtlich werden würde. Ich schaffte es, mir meine Abscheu nicht anmerken zu lassen, sorgte mich nun aber, dass ich sie mit gezwungener Unbekümmertheit überkompensierte. Eine No ­w in­ Situation.

Ein Gehilfe servierte uns Tee und libanesisches, mit Zuckersirup und Rosenwasser getränktes Gebäck. Jamil bedeutete ihm, alles auf dem Tisch abzustellen und das Zimmer zu verlassen. »Der Scheich wird hier sein, gleich nachdem er das Fadschr gebetet hat«, sagte Jamil, nachdem der Gehilfe die Tür hinter sich zugezogen hatte.

»Was ist mit Ihnen?«, fragte ich. »Kein Fadschr­ G ebet für Sie heute Nacht?«

»Vorsicht, mein Freund«, antwortete Jamil mit verkniffenem Lächeln. »Sie sind noch nicht aus dem Schneider. Außerdem setze ich auf eine Gebetsbefreiung für den Tag, weil ich Sie hergebracht habe.«

Trotz des scherzhaften Tonfalls sprachen Jamils Augen eine eindeutige Warnung aus. Keine weitere Impertinenz, bis ich Beirut verlassen hätte.

Jamil bemerkte meinen Schrecken, und sein Gesichtsausdruck wurde sanfter. »Ganz ruhig, keine Sorge. Sie dürfen ruhig Ihre Scherze mit

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mir machen, aber beim Scheich würde ich davon abraten. Mit ihm zu scherzen, ist, als würde man mit verbundenen Augen auf einem Motorrad durch den Stoßverkehr in Beirut fahren – theoretisch möglich, aber keine sonderlich gute Idee.«

Ich lächelte.

Dreißig Minuten später ging die Tür auf, und vier bewaffnete Wachleute betraten das Zimmer, gefolgt vom Scheich. Er war kleiner und älter, als ich ihn mir aufgrund der Fotos vorgestellt hatte. Jamil und ich erhoben uns sofort. Der Scheich bedeutete zweien der Wächter, zu gehen. Die anderen blieben im Zimmer, einer an der Tür und einer hinter dem Scheich.

»Assalamu alaikum«, sagte der Scheich, als er mir die Hand reichte.

»Wa alaika assalam«, gab ich zurück.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte der Scheich, und wir nahmen Platz. Sein Arabisch hatte den schnellfeuerartigen Duktus des südlichen Beirut. »Ich hoffe, dass die Reise nicht allzu beschwerlich war und Jamil Sie gut behandelt hat.«

»Sehr gut, danke sehr.«

Der Scheich blickte zu Jamil, dann zu mir, dann wieder zu Jamil. Über eine Minute lang schwieg er. Hatte er etwas in mir erkannt, das ihm missfiel? Schließlich wandte er sich wieder mir zu und nickte unmerklich.

»Ihrem Namen nach zu urteilen entstammen Sie einer Linie von Priestern, nicht wahr?«, fragte der Scheich.

Ich war vollkommen überrumpelt. »Verzeihung?«

»Levin komm von Levi, dem dritten Sohn Jakobs«, sagte der Scheich. »Vom Stamme Levis kommen die Leviten, die in Ihrem Tempel dienten, richtig?«

»Ja«, antwortete ich, unsicher, wohin das führen sollte, »wobei die Aufgabe der Leviten genau genommen darin bestand, dem Kohen, dem Priester, zu dienen.«

Sobald ich diese Worte ausgesprochen hatte, war ich entsetzt darüber, dass ich soeben den Scheich korrigiert hatte, der stumm blieb. Jamil war mir keine Hilfe, indem er sich zu mir lehnte und flüsterte: »Keiner mag Besserwisser.«

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»Ja, Gehilfen des Priesters«, sagte der Scheich nach einer langen, qualvollen Pause. »Doch bedenken Sie, dass auch der erste Kohen – Aaron, der Bruder Mose – ein Levit war. Abgesehen davon sind es eigentlich die Gehilfen, die die Geschicke lenken. Alle Macht den Torwächtern. Nicht wahr, Jamil?«

Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, wagte es jedoch nicht, in Jamils Richtung zu blicken.

»Ist es nicht interessant, wie ihr Juden es versäumt, die Bedrohung des Adlers zu erkennen?«, fuhr der Scheich mit seiner Befragung fort.

»Wie bitte?« Ich hatte keine Ahnung, wovon der Scheich sprach. Seine Fragen schienen aus dem Nichts zu kommen, ohne jeden Kontext. Ich vermochte darin weder ein Muster noch einen Zweck zu erkennen, abgesehen davon vielleicht, mich zu verunsichern – in welchem Fall sie ihr Ziel eindeutig erreicht hatten. Welchem Test auch immer er mich unterzog, ich war mir meines Scheiterns sicher. Mir war leicht übel, und diesmal lag es nicht an dem muffigen Gestank im Zimmer.

»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte der Scheich rhetorisch. »Der Adler war das Herrschaftszeichen der Römer, ein Symbol für Macht und Stärke. Die Nazis haben den Adler verwendet. Wenn man darüber nachdenkt, hatte sogar der griechische Gott Zeus einen Adler. Was ist ihnen a llen gemein?«

»Sie alle haben versucht, die Juden zu vernichten«, klinkte sich Jamil hilfsbereit ein.

»Ganz genau«, sagte der Scheich mit einem Nicken in Jamils Richtung. »Die Römer und die Deutschen haben versucht, die Juden physisch auszulöschen; die Griechen versuchten es von innen heraus, spirituell, durch eine entgegengesetzte Ideologie.«

Der Scheich hielt inne und blickte aus dem Fenster. Die Dunkelheit verblasste, und ein gedämpftes Licht kündete ein prächtiges Morgenrot über den Dächern des südlichen Beirut an. Ich wartete darauf, dass er weitersprach.

»Doch das Interessanteste ist«, setzte er seinen Exkurs über die jüdische Geschichte fort, »dass ihr die größte Bedrohung von allen nicht bemerkt habt.«

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Ich war mir nicht sicher, ob von mir erwartet wurde, etwas zu sagen. Da ich keine Ahnung hatte, worauf er anspielte, schwieg ich.

»Amerika«, fuhr er fort. »Die größte Bedrohung der Juden geht von Amerika aus. Und wenn ihr eure Geschichte kennen würdet, hättet ihr den Adler erkannt, den amerikanischen Adler. Das war eure Warnung.«

»Das mit dem Adler verstehe ich«, sagte ich vorsichtig, »doch inwiefern ist Amerika eine Bedrohung für die Juden? In keinem anderen Land si nd sie so akzeptiert, so erfolgreich.«

»Exakt«, sagte der Scheich »In diesem Fall geht die Bedrohung von der Assimilation aus. Die Juden verlieren ihre Identität, schwinden dahin, werden zu Amerikanern. In wenigen Generationen werden sie nichts anderes mehr sein. Amerikaner. Keine Juden mehr. Und wieder einmal werdet ihr Juden das Omen des Adlers übersehen haben.« *

Der Raum wirkte plötzlich dunkel und drückend, und die Muffigkeit war erstickend. Ich versuchte, meine Schultern zu entspannen und mich darauf zu konzentrieren, nicht in Atemnot zu geraten.

Der Scheich betrachtete mich aufmerksam und hielt einen Moment lang inne. Ich war mir nicht sicher, ob die Pause mir die Nervosität nehmen oder sie verstärken sollte. »Wir Araber müssen also nichts weiter tun«, sagte er schließlich, »als uns zurückzulehnen und euch Juden dabei zuzusehen, wie ihr euch aus der Geschichte tilgt. Die Raketen, die wir ab und zu losschicken, sind nur eine Seitenschau, ein kleines Geschenk an die Journalisten. Unsere nützlichen Idioten in den Medien.«

Mir fiel ein, was Khalid mir über die Geringschätzung des Scheichs

* A ls ich Khalid später von diesem Gespräch berichtete, sagte er mir, dass er den Scheich bereits über den Adler als existenzielle Bedrohung aller Glaubensgruppen habe sprechen hören. Er meinte, dass der Scheich den Adler als Zeichen der Dominanz der physischen Welt über die spirituelle Welt betrachte, der rohen Gewalt über den Glauben. Er hatte den Scheich noch nie die Adlersymbolik speziell im Kontext des jüdischen Volkes erwähnen hören. Hätte der Scheich die Juden nur beiläufig erwähnt, hätte ich meine eigene Erinnerung an das Gespräch womöglich in Zweifel gezogen, insbesondere da ich weder eine Aufnahme noch Notizen hatte machen können. Doch ich bin mir sicher, dass der Scheich die Juden und das Adlerwappen mehrfach erwähnte, und mir ist klar im Gedächtnis geblieben, dass ich überrascht war, wie frei von Boshaftigkeit und Hass er die Worte yahud und alyahudi aussprach, während er sich wiederholt auf die Juden bezog.

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für Journalisten gesagt hatte, mit Ausnahme von Marie Colvin. Ich betete, dass der Scheich endlich auf den Grund unseres Treffens zu sprechen kommen würde.

»Zweitausend Jahre lang, seit der Zerstörung ihres Zweiten Tempels, waren die Juden das Volk der Schrift«, sprach der Scheich weiter und zerschmetterte meine Hoffnung auf einen Gesprächsübergang zu Paul Blocher. »Keine der Jahrhunderte währenden Verfolgungen, weder die Spanische Inquisition noch die russischen Pogrome, nicht einmal die deutschen Konzentrationslager konnten daran etwas ändern. Die Juden waren noch immer das gelehrteste Volk, das für sein Wissen bewundert wurde. Wie köstlich ist es also, dass sie, mit ihrem eigenen Staat, mit der Macht und dem Ansehen, die sie in Amerika erreicht haben, nun letztendlich genauso dumm geworden sind wie der Rest von uns. Welch göttlicher Sinn für Humor, da könnte man fast versucht sein, an Gott zu glauben!«

»Sie glauben nicht an Gott?« Die Worte kamen mir aus dem Mund geschossen, bevor ich sie aufhalten konnte. Die Aussage des Scheichs war u nfassbar. Immerhin handelte es sich um einen Mann, der gleichermaßen als religiöse Autoritätsfigur wie als politischer Anführer galt.

»Nun, das kommt darauf an, mein Freund«, sagte er mit einem für die Situation etwas zu triumphalen Lächeln. »Welchen Gott meinen Sie? Den Gott, der mich geschaffen hat, oder den Gott, den ich geschaffen habe?«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Der Scheich hatte mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Nun wartete er ab und ließ mir keine andere Wahl, als seine Frage zu beantworten. Ich hatte das plötzliche Gefühl, mich in einem Vakuum zu befinden – schwerelos, in vollkommener Stille und an einem Ort, der weder hell noch dunkel war. Ich wusste, dass ich meine Worte mit Bedacht wählen musste, konnte jedoch keinen klaren Gedanken fassen. Erst, als Jamil mich leicht am Oberschenkel berührte, riss ich mich aus diesem hypnotischen Zustand quälender Lähmung.

»Ich bin stets davon ausgegangen, dass ein gläubiger Mann wie Sie von dem Gott geleitet würde, der Sie geschaffen hat«, sagte ich schließlich. »Doch die schiere Tatsache, dass Sie fragen, welchen Gott ich meinte, lässt mich glauben, Sie sprächen von dem Gott, den Sie geschaffen haben.«

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Der Scheich nickte. »Das ist eine gute Antwort. Bin ich ein gläubiger Mann? Wer weiß …«

Ich konnte meinen Ohren kaum trauen. Was der Scheich da sagte, wäre von seinen eigenen Anhängern als Blasphemie eingestuft worden. Die bloße Tatsache, dass ich mit diesem äußerst umstrittenen, nahezu mystischen Mann in einem Zimmer saß, war schwer zu fassen, doch sich mit ihm über seinen Glauben an Gott zu unterhalten – wer hat wen erschaffen? –, war der reinste Wahnsinn. Ich sah verstohlen zu Jamil, der den Atem anzuhalten schien.

...

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Viele Menschen haben mich in dieser Zeit unterstützt. Ich wünsche, ich könnte sie alle auflisten, doch manche sind noch nicht außer Gefahr, und die Erwähnung ihres Namens könnte schwerwiegende Konsequenzen für sie haben. All diesen mutigen Frauen und Männern: Danke, aus tiefstem Herzen.

Danke, Khalid. Du warst manchmal mein Lehrer, manchmal mein Schutzengel, manchmal mein Bruder, doch stets mein Gefährte. Du hast mir die Schönheit in Eustache Deschamps’ Worten gezeigt: »Freunde sind Verwandte, die man sich selbst schafft.«

Danke, Ali, Fatima, Hamdan, Mohammed, Noor, Rashid, Saif und Salah, dass ihr mich geschützt und Reem und Samar bei der Flucht geholfen habt.

Danke, Manal, Masa, Majed, Renal und Renwa, für die Freundschaft und Gastlichkeit während dieser zwanzig Tage und darüber hinaus.

Danke euch allen für eure kritischen Anmerkungen, Korrekturen und Worte der Ermutigung: Karin Beck, Ofer Becker, Ian Eisterer, Doris Frick, David Giampaolo, Helga Hagen, Doug Jaffe, Anita Lowenstein Dent, Oyama Mabandla, Andrew Miller, Adi Nir, Stefano Quadrio Curzio, Karan Rampal, Carrie Strauch und Sonja Zwerger.

Ich danke Amy Gash, meiner wunderbaren Lektorin. Als ich dein Algonquin­Büro in Downtown New York betrat, war ich zu Hause angekommen. Ich habe unser Lektorat­Wechselspiel wirklich sehr geliebt, auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ. Du hast das Buch sofort »begriffen« und dazu beigetragen, dass wir jede Figur zum Leben erwecken konnten, sogar den bockigen Erzähler. Gelegentlich kanntest du meine Stimme besser als ich selbst.

299 DANK

Ich danke Becky Sweren, meiner wunderbaren Agentin, für dein ungebrochenes Vertrauen in dieses Buch. Danke, Allison Warren, für deine B emühungen beim Verkauf der Filmrechte.

Ich danke Hans Baumgartner, André Gstettenhofer, Philipp Stolz, Eleonora Holthoff, Helga Schuster und Dominique Candrian für die Freude an der deutschsprachigen Ausgabe und die engagierte Unterstützung eines nicht zufriedenzustellenden Autors. Danke, Milena Adam, für die extensiven Bemühungen bei der deutschen Übersetzung. Danke, Gertrud Germann, für das ausgezeichnete, scharfsichtige Korrektorat. Danke, Mum, dass du es mir nicht übelnimmst, dass du von diesen Ereignissen aus einem Buch erfahren musst. So wie deine Liebe zu mir dich dazu gebracht hätte, alles in deiner Macht Stehende zu tun, um mich aufzuhalten, so hat mich meine Liebe zu dir veranlasst, es dir zu verheimlichen.

Und danke, meine Liebsten, Laura, Noa und Ben, dass ihr es mit mir aushaltet und mir all meine seltsamen Akzente und Nicht­A merikanismen durchgehen lasst. Ich hoffe, dieses Buch vermag zu erklären, warum ich manchmal etwas unleidlich sein kann, wenn ich von diesen Reisen nach Hause komme – obwohl ihr euch wahrscheinlich immer noch fragt, womit genau ich eigentlich meinen Lebensunterhalt verdiene. Dafür muss ich leider weiterhin um eure Nachsicht bitten.

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In liebender Erinnerung an meinen Vater

Zev Levin (1927–2018)

ZUM AUTOR

Der US ­ S chweizer Autor und Rechtsanwalt Daniel Levin, geboren 1963, verbrachte seine Kindheit als Sohn eines Diplomaten in Afrika und im Nahen Osten. Er studierte Jura in Zürich und New York. Neben seiner juristischen Karriere unterstützt Levin Regierungen und Institutionen bei politischen und wirtschaftlichen Reformen. Er leitet die Liechtenstein Foundation for State Governance.

Von Daniel Levin erschienen bisher auf Deutsch das Sachbuch Alles nur ein Zirkus. Fehltritte unter Mächtigen (Elster, 2018) und der Roman Milenas Versprechen (Salis, 2021).

www.daniellevinauthor.com

Foto © Roland Korner

In Zwan Z ig Tage, dem Bestseller aus den USA, folgen wir Daniel Levin auf seiner atemlosen Suche nach einer in Syrien verschwundenen Person. Der USSchweizer Autor und Anwalt mit besten Kontakten im Nahen Osten erzählt eine ebenso fesselnde wie erschütternde Geschichte von Geldgier, Machthunger und Grausamkeit, doch auch von Menschlichkeit an unerwarteten Orten.

Levin ist in seinem New Yorker Büro, als er die Nachricht eines Bekannten mit der dringenden, rätselhaften Bitte um ein Treffen in Paris erhält: Ein junger Mann werde in Syrien vermisst. Keine Regierung, keine Botschaft, kein Geheimdienst wolle helfen. Ob er seine Kontakte spielen lassen könne? So beginnt die Suche nach dem Vermissten, die sich über zwanzig angespannte Tage hinzieht. Von Istanbul über Beirut nach Dubai verfolgt Levin Spuren im gesamten Nahen Osten. Er trifft auf mächtige Scheichs, Drogenbarone und zynische Kriegsge winnler, die alles an den Meistbietenden verhökern: Waffen, Drogen, Sex, sogar Menschen.

»Packend (…), gut geschrieben und äußerst spannend.« The Wall Street Journal

»Eine wahre James-Bond-Geschichte unserer Zeit, deren Held ein Aufnahmegerät statt einer Waffe trägt.« Helen C. Epstein, Autorin und Professorin für Menschenrechte am Bard College

»Geschickt navigiert Levin durch unzählige Kulturen, Sprachbarrieren und gefährliche Situationen und zeigt dabei, dass jeder Einzelne auch angesichts widrigster Umstände etwas bewirken kann.« Ayaan Hirsi Ali, Autorin und Politikwissenschaftlerin

Nur wenige Autoren berichten so unmittelbar aus dieser verborgenen Welt wie Daniel Levin – Zwan Z ig Tage liest sich wie ein rasanter True-Crime-Thriller und beleuchtet gleichzeitig einen der tragischen Konflikte unserer Zeit. ISBN 978-3-03930-039-6

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