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BENZINSCHWESTERN

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OLIVIA WILDE

OLIVIA WILDE

Aus den Boxen die überdrehten Stimmen von AC/DC. Aus der Box das Dröhnen hochtouriger Maschinen. Und daneben Offroad-Training mit Yoga-Elementen. Die PETROLETTES sind die erste weltweit vernetzte Bikerinnen-Community. Verschwitzte MachoKlischees überrollen sie lustvoll.

Text LOIS PRYCE

HEIDI ZUMBRUN

AUFBRUCHSSTIMMUNG

Vincent Schneider Die Petrolettes-Gründerin Irene Kotnik surfing the river in beim Einladen ihres Triumph-Choppers. Bremgarten. Es geht von Berlin zum BikerinnenFestival nach Thüringen.

Die Performerinnen Princess Tweedle Needle (vorn) und Zora van der Blast

Irene Kotnik steht auf einer Bühne mit Blick auf die älteste Straßenrennstrecke Deutschlands in Thüringen und ruft zu: „Einigkeit! Empowerment! Schwesternschaft!“ Die zierliche blonde Frau im schwarzen Jeans-Overall ist die Gründerin der Petrolettes, des weltweit ersten Motorradclubs für Frauen. Und heute steht sie im Mittelpunkt des PetrolettesFestivals, Europas größter Motorradveranstaltung nur für Frauen.

Obwohl Kotnik oft gezwungen ist, die strikte Beschränkung auf Frauen zu rechtfertigen, weist sie das Etikett „militante Feministin“ zurück. „Es geht nicht um eine politische Haltung“, sagt sie. „Die Idee war, einen Raum für mich und meine Freundinnen zu schaffen. Ich wollte Frauen mit der gleichen Leidenschaft treffen.“

Was 2016 als Treffen von 250 Fahrerinnen bei einem Straßenrennen in Berlin begann, ist heute ein jährliches Festival, das an verschiedenen Orten stattfndet und Hunderte von Motorradfahrerinnen aus der ganzen Welt anlockt.

Ursprünglich hat Irene Kotnik Motorradfahren gelernt, um ihren Vater bei der Erfüllung seines Traums zu begleiten: einmal die Route 66 in den USA entlangfahren. „Aber die Biker, die wir trafen, waren allesamt alte Männer auf riesigen Cruisern und mit Bierbäuchen“, erinnert sie sich. „Die Szene gefel mir nicht.“ dachte mir: Hmmm, würde ich auf der Couch eines Mannes schlafen?“

In der App gibt es eine interaktive Karte mit einem Punkt für jede Petrolette auf der Welt. Und die Sache funktioniert. Eine Petrolette aus Großbritannien übernachtet auf dem Heimweg vom Festival bei einem deutschen Mitglied; und eine amerikanische Fahrerin, die nach der Veranstaltung ihren Europatrip fortsetzen möchte, hat einen Schlafplatz bei einer Bikerin aus Paris gefunden.

Aus Süddeutschland ist Alischa Jewko zum Motorradfestival nach Thüringen angereist. Sie hat die App genutzt, um nach der Trennung von ihrem Freund gleichgesinnte Petrolettes in ihrer Umgebung zu fnden. „Wir fuhren früher zusammen in einem örtlichen Motorradclub“, sagt sie. „Aber als wir uns trennten, war klar, dass er im Club bleiben würde und nicht ich.“

Beim Petrolettes Festival dreht sich alles um das Motorradfahren, klar – aber nicht nur. Neben Rennen, Pop-up-Tattoostudios und Musikbands gibt es ein YogaZelt und eine Masseurin, die den Fahrerinnen nach der langen Anreise die Verspannungen aus den Muskeln knetet.

2013 stieß Kotnik zufällig auf „Wheels and Waves“ – ein ultraschickes Festival in Biarritz wo Oldtimer-Motorräder auf Surf-Kultur treffen. Sie war sofort fasziniert. „Ich wollte zurück nach Berlin, ein kleines Motorrad kaufen und selbst herrichten.“ Aber zu Hause hatte sie keine Motorradfreunde, schon gar keine weiblichen, und die Mainstream-Motorradveranstaltungen mit ihrer Macho-Atmosphäre reizten sie nicht – „als wären wir noch in den 1970er-Jahren“. Also suchte sie im Netz nach Frauen auf Motorrädern. Es war die Geburtsstunde der Petrolettes.

Völkerverbindende App

Inzwischen gibt es auch eine PetrolettesApp, die bereits mehr als 12.000 Motorradfahrerinnen in 43 Ländern miteinander verbindet. Über die Plattform können die Userinnen Tipps austauschen und Mitfahrerinnen fnden. Auf die Idee kam Kotnik während der Pandemie. „Da war das Festival nicht durchführbar“, sagt sie. „Die Leute wollten sich trotzdem für einen Ausritt mit Abstand treffen. Aber es gab so viel Verwaltungsaufwand und so viele E-Mails, um alles zu organisieren, dass mir klar wurde, dass eine App das alles für mich erledigen könnte!“

Die Idee dazu brütete sie schon eine ganze Weile aus „Ich nutzte Facebook, um Mitfahrerinnen zu fnden, bei denen ich unterwegs übernachten konnte, und Glam und Tattoos

Am Freitagabend trudeln immer mehr Motorräder auf dem Parkplatz ein: alte 1970er-Jahre-Trailbikes, glänzende nagelneue BMW-Tourenmaschinen und mächtige Harleys. Unbeeindruckt vom Regen werden Zelte aufgebaut. Als sich die Frauen für Kotniks Eröffnungsrede um die Bühne versammeln, wird klar, dass es so etwas wie eine typische Petrolette nicht gibt. Jede Generation ist vertreten und jeder Stil zu sehen – von schickem Pariser Retro-Glamour bis hin zu Tattoos im Gesicht. Was uns das sagt? Alle Frauen sind willkommen. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl war es auch, das die in Kanada geborene und in Berlin lebende Musikerin Yvonne Ducksworth zu den Petrolettes brachte. „Als farbige Frau bin ich sehr vorsichtig, was die Teilnahme an Biker-Veranstaltungen angeht, und ich bin mir bewusst, wie die Leute mich angucken. Aber als ich 2016 zum ersten Petrolettes Festival kam, bin ich fast in Tränen ausgebrochen! Ich stand einfach nur still da, war überwältigt, nahm alles in mich auf. Ich dachte: Endlich habe ich meine Crew gefunden.“

Dieses Jahr fndet das Festival auf dem „Schleizer Dreieck“ statt, einem legendären Straßenkurs in Thüringen. Die Infrastruktur und die Gebäude wurden nicht an das 21.Jahrhundert angepasst,

„Einigkeit! Empowerment! Schwesternschaft!“

Die Iranerin Behnaz Shafiei musste sich als Mann verkleiden, um Motorrad zu fahren.

sondern haben sich ihren baufälliges Flair bewahrt: abblätternde Farbe, Maschendrahtzäune und wettergegerbte Tribünen. Unter einem schiefergrauen Himmel mischt sich zum Gesang von AC/DC-Sänger Bon Scott aus den Boxen das Dröhnen von Hunderten zuckenden Gasgriffen. Irene Kotnik ergreift das Mikro für einen letzten febrigen Anfeuerungsruf, die schwarz-weiß karierte Startfagge wird gehisst – und los geht’s.

Workshop-Mentalität

Für diejenigen, die sich nicht auf der Rennstrecke messen, werden geführte Ausfahrten in der Umgebung und Workshops angeboten, zum Beispiel in Sachen Mechanik oder Abenteuerfotografe. Dabei werden auch Diskussionen über Ängste geführt, die immer Teil des Motor-

Die Bikerinnen Katja Karasev (vorn) und Otti Fuchs auf dem Schleizer Dreieck vor dem Rennen

Zweirad-Power: Moderatorin Miriam Höller schwenkt die Zielflagge beim Rennen auf dem legendären Schleizer Dreieck.

radfahrens sind, aber bei einem Treffen von männlichen Bikern eher nicht zu hören sein dürften, meint Irene Kotnik.

Auf der Wiese neben der Rennstrecke coacht Rallye-Dakar-Veteranin Tina Meier einen Offroad-Kurs. Sie nutzt Konzepte aus ihrem anderen Job als Yogalehrerin, um das für die Eroberung des Geländes erforderliche Körpergefühl zu vermitteln. „Bergab ist es der abwärts gerichtete Hund, bergauf die Kobra“, sagt Meier. Dann bittet sie die Gruppe, über den unebenen Boden zu fahren und dabei die linke Hand vom Lenker zu nehmen, um einen Ball an einer Schnur zu fangen. Diese Aktion, erklärt sie, lenkt die Aufmerksamkeit vom Gelände ab und sendet eine Botschaft an das Gehirn: Der Körper kann beide Bewegungen gleichzeitig ausführen.

Gebäude und Tribünen sind retro – der Rest ist revolutionär.

Sohar aus Rom, die ebenfalls Yogalehrerin ist, fährt erst seit einem Jahr Motorrad. „Es konfrontiert mich mit meinen Unsicherheiten, aber auch mit meinem Bedürfnis nach Unabhängigkeit“, sagt sie. Wie beim Yoga sind die inneren Prozesse individuell. Sich mit den Petrolettes auszutauschen und zu lernen, dass wir ähnliche Probleme haben, kann jedenfalls extrem ermutigend sein.“

Ein weiteres heiß diskutiertes Gesprächsthema auf dem Festivalgelände ist das miserable Angebot an Motorradkleidung für Frauen. Nichts passt richtig, und alles, was für Frauen entworfen wird, ist rosa. Céline Froissart, eine Motorradfahrerin aus Paris, hat die Sache nach einem Erlebnis in einem französischen Motorradladen selbst in die Hand genommen. „Ich war auf der Suche nach Motorradjeans“, erzählt sie, „aber die waren alle mit niedriger Taille. Also fragte ich den Verkäufer, ob sie auch Jeans mit hoher Taille hätten, und er antwortete, dass Frauen Jeans mit niedriger Taille bräuchten, weil sie auf dem Sozius ihren Tanga zur Schau stellen müssten.“ Dieses Gespräch gab den Anstoß zur Gründung von 2MileSix, der Bekleidungslinie von Froissart für Bikerinnen. „Ich hatte keine

STARTKLAR

Die Bikerin Yoko Rae macht sich bereit für das 100-MeterRennen auf dem Festival.

Erfahrung mit der Herstellung von Kleidung“, sagt sie. Trotzdem gab sie ihren Job auf und machte sich daran, eine Reihe von hochwertigen Jeans, Jacken und T-Shirts zu entwerfen. So stilvoll, wie man es von einer Pariserin erwartet.

Marie aus Rennes, eine Freundin von Céline Froissart, erinnert sich ebenfalls an unschöne Begegnungen mit französischen Motorradfahrern: „Sie sagen Dinge wie: Warum fährst du am Sonntag? Solltest du nicht die Wäsche machen? Aber die Dinge ändern sich. Es fahren jetzt viel mehr Französinnen Motorrad.“ Und es ist ihnen ernst. Unter den Bikern Frankreichs liegt der Frauenanteil bereits bei 50 Prozent. Froissart sagt, dass diese neuen Fahrerinnen aus zwei verschiedenen Altersgruppen kämen: einerseits die Achtzehn- bis Zwanzigjährigen, die den Nervenkitzel suchen, andererseits Frauen in den Vierzigern und Fünfzigern, die „getan haben, was die Gesellschaft von ihnen erwartet, und nun etwas für sich selbst tun wollen“.

Selbst gebaute Bikes

Diesen Vibe spürt man auch auf dem Festival. Die Atmosphäre ist gechillt. Ineke und Margriet, zwei Freundinnen, die aus den Niederlanden angereist sind, teilen die Liebe zum Motorradbau. Ineke, 62, ist eine angesehene Bauerin, Gründerin der niederländischen Offroad-Gruppe EnduroCat. Unter Inekes Anleitung hat Margriet, 32, kürzlich eine Yamaha XJ 900 von einem, wie sie es nennt, „AlteHerren-Bike“ in ein geländetaugliches Motorrad umgebaut. Die beiden Frauen arbeiten in Inekes Garage; in der „Frauenhöhle“, wie Ineke sie nennt. „Und da gibt es keinen Bierkühlschrank“, sagt sie.

Irene Kotnik auf der Bühne und interviewt drei Gäste zu einem Projekt: „Ride with Purpose“, organisiert vom gemeinnützigen Verein der Gruppe, der Frauen im Motorsport unterstützt. Motorradfahren sei der Inbegriff der Befreiung und sollte allen Frauen zugänglich sein, meint Kotnik. Ihre Gäste sind die Französin Alison Grün, die ein Motorradreiseunternehmen leitet, das einheimische Guides in Ländern wie Nepal und dem Iran beschäftigt; Judith Pieper-Köhler, die mit einer Wohltätigkeitsorganisation, die Bikes zur medizinischen Versorgung ländlicher Gemeinden in Afrika bereitstellt; und Behnaz Shafei, eine iranische Rennfahrerin, die Frauen ausbildet.

Shafei erzählt, wie sie mit 15 Jahren in einem iranischen Dorf zum ersten Mal eine Frau auf einem Motorrad sah. „Ich wusste sofort, das ist meine Zukunft.“ Aber da sie im Iran aufwuchs, musste sie sich dafür als Mann verkleiden und nachts fahren – stets mit der Angst vor der strengen iranischen „Sittenpolizei“.

Ihre Leidenschaft hat Shafei um die ganze Welt geführt, sie hat auf Rennstrecken in den USA trainiert, ist durch Europa getourt, war in Fernsehsendungen zu sehen. Doch ihre Erfolge hatten einen hohen persönlichen Preis: Obwohl ihre Mutter ihre Ambitionen immer unterstützte, wurde sie vom Rest ihrer Familie ausgegrenzt.

Als die Nacht hereinbricht, lässt der Regen nach, und das Schweizer PowerPop-Duo Ikan Hyu betritt die Bühne, gefolgt von den verführerischen Klängen des österreichisch-britischen Post-PunkVierers Friedberg. Bald ist die Tanzfäche ein Schlammbad, aber echte Petrolettes stört ein bisschen Dreck nicht.

Am nächsten Morgen drehen sich die Gespräche beim Frühstück um Shafeis Geschichte – und darum, wie sehr es die Petrolettes zu schätzen wissen, frei fahren und sich frei kleiden zu können. Aber Shafei ist nicht die Einzige, die um die Akzeptanz auf zwei Rädern kämpft; andere Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Nationalität erzählen ihre eigenen Geschichten: wie sie ihren Familien verheimlicht haben, dass sie Motorrad fahren. „Wir haben einige Mitglieder, die ihren Eltern erst nach dem Führerschein erzählt haben, dass sie Motorradfahren gelernt hatten – um Streit und nervtötende Diskussionen zu vermeiden“, erzählt Cäthe Pfäging aus Berlin, eine Petrolette der ersten Stunde.

Es ist klar, dass Irenes Kotniks Aufruf zu Einigkeit, Selbstbestimmung und Schwesternschaft auch heute noch so notwendig ist wie eh und je. Und so packen die Petrolettes ihre durchnässten Zelte zusammen, füllen ihre Ölvorräte für die lange Heimfahrt auf und düsen los, um Irenes Botschaft in ganz Europa und darüber hinaus zu verbreiten. Irene selbst antwortet, angesprochen auf ihre ganz persönliche Zukunft: „Die Electrolettes!“ Sie lacht breit – und ihr Lachen hat den kräftigen Sound der Zuversicht.

Schwesternschaft: Der Verbundenheit der Petrolettes war beim Festival überall zu sehen.

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