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RADELN NACH ROM

Italienische Traumgegenden genüsslich mit dem Gravelbike inhalieren: über eine Reise mit gewaltigem Suchtcharakter.

Meine Reifen kämpfen auf der Schotterstrasse bei jedem Tritt um Bodenhaftung, die Steigung kippt stellenweise in den zweistelligen Bereich. Mein Herz pumpt so fest, dass ich es in den Ohren spüren kann. Die Staubwolke, die sich rund um mich gebildet hat, verwandelt meine Kehle zunehmend in Schleifpapier. Vor mir baut sich ein terrakottafarbenes Viadukt auf. Das sagt mir, dass ich etwa die Hälfte des sieben Kilometer langen Anstiegs hinter mir habe.

Der Schatten unter dem altrömischen Bauwerk verschafft mir eine kleine Pause von der Mittagshitze eines sonnigen Frühsommertags in Italien. Dann, bei einer Trinkpause am Ortsrand von San Quirico d’Orcia, einem mittelalterlichen Städtchen, 45 Kilometer südöstlich von Siena, ist es, als wäre ich unvermittelt auf ein Filmset gestolpert, das die weltberühmte typische Atmosphäre der Toskana einfangen soll: malerische Hügel, darauf Zypressenhaine; knatternde Piaggio­Lastenmopeds, die frisches Obst und Gemüse bringen; Nonnas, die Wäsche auf ihren Balkonen aufhängen; Gastgärten, in denen Erfrischungen serviert werden.

Aber: Keine Zeit zum Träumen. Ich habe noch 100 Höhenmeter Anstieg vor mir und dann 60 Kilometer weiter mit dem Velo auf den recht rauen Pfaden der Via Francigena bis zum heutigen Etappenziel – dem Castello Proceno, ziemlich genau auf halbem Weg auf meiner Reise von Florenz nach Rom. Die Via Francigena (übersetzt: die Strasse von Frankreich) war eine mittelalterliche Pilgerroute, die von Canterbury in England über Frankreich und die Schweiz bis nach Rom führte.

Doch im Gegensatz zu den wackeren Pilgern von einst habe ich nicht die ganzen 2000 Kilometer in Angriff genommen, sondern nur die letzten 400. Und ich bin nicht wie sie zu Fuss gegangen oder auf einem Pferd geritten. Ich sass im Sattel eines Gravelbikes.

Die Route, ausgetüftelt von den Radreisespezialisten von Rolling Dreamers, hält sich nicht sklavisch an den historischen Pilgerpfad: Sie beginnt in Florenz und führt, gesäumt von Olivenhainen und Weingärten, in vier Tagesetappen nach Rom, das Ziel liegt direkt auf dem Petersplatz. Jene Abschnitte der Via Francigena, die Matteo Venzi, der Gründer von Rolling Dreamers, für unbefahrbar hielt, bleiben den Bikern erspart: «Mir ist lieber, die Leute können fahren, als sie müssen ihr Rad dauernd schieben», erklärt Matteo.

Das heisst nicht, dass die Strecke ein Spaziergang wäre: Ungefähr 70 Prozent sind nicht asphaltiert – ein Untergrund, der einen oft genug an die Grenzen bringt. Da gibt es praktisch alle Spielarten von Offroad: von den legendären Strade Bianche, den berühmten weissen Schotterstrassen der Toskana, bis zu den holprigen Basaltplatten in der Grösse von Mülltonnendeckeln, mit denen die Römer vor 2000 Jahren ihre Strassen gepflastert haben. Während der bereits erwähnte lange Anstieg durch San Quirico d’Orcia jede Faser der Beinmuskulatur fordert, sorgt die zehn Kilometer lange Schotterabfahrt von Radicofani nach Ponte a Rigo wenig später für Herzklopfen und ein wenig Nervenflattern, weil das Vorderrad in einer Reihe von atemberaubenden Haarnadelkurven immer kurz zum Untersteuern ansetzt. Aber die Anstrengungen des Radelns erhöhen auch die Intensität des Erlebnisses: Man inhaliert die Grossartigkeit der Landschaft quasi mit jedem Atemzug. Und mit jedem Tritt in die Pedale prägt sich einem eine unauslöschliche Erinnerung tief ins Gehirn. Fantastische Naturschönheiten lauern hier praktisch hinter jeder Ecke – zypressengeschmückte toskanische Hügel und Täler wechseln sich mit prächtigen Wildblumenwiesen in der Region Lazio ab, wo wir auch auf den zauberhaften Lago di Bolsena trefen, Europas grössten Vulkansee. Und kurz vor Rom erfrischt uns noch ein Wasserfall wie aus dem Bilderbuch mit einem Namen, der fast zu schön ist, um wahr zu sein: Cascate di Monte Gelato.

Am Ende führen alle Wege nach Rom. Um genau zu sein: ein brettebener Radweg, der den Tiber entlang bis zum Petersplatz führt. Hier, umgeben vom ortsüblichen Hupkonzert, findet man Zeit, die vergangenen vier Tage Revue passieren zu lassen. Und plötzlich verspürt man den dringenden Wunsch, zurückzukehren an einen Ort irgendwo im Hinterland, an dem das einzige Geräusch das Knirschen von Kies unter dem Reifengummi war.

HINKOMMEN

Nach Florenz mit Flugzeug, Zug oder Bus

Jeweils von Zürich oder Genf: Die Anreise mit dem Zug kostet ca. CHF 100, Flüge gibt es ab ca. CHF 250, mit dem Auto dauert es in etwa 7,5 bis 8 Stunden.

GUT ZU WISSEN

Mit dem Gravelbike von Florenz nach Rom

Die Strecke führt durch die Toskana und Lazio, ist rund 400 Kilometer lang und weist insgesamt 7150 Höhenmeter auf. Die Tour teilt sich in vier Tagesetappen: von Florenz nach Siena (95 km), von Siena nach Proceno (119 km), von Proceno nach Sutri (108 km) und von Sutri nach Rom (73 km). Die Route besteht zu 70 Prozent aus Schotterstrassen. Das Gravelbike wird zur Verfügung gestellt, ein Gepäckwagen begleitet die Radreisenden.

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