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TAUSENDSASSA DE LUXE
Als Teenie coverte er Hits im Wohnzimmer, heute ist Jacob Collier sechsfacher Grammy Gewinner. Der 29 Jährige arrangiert Songs für Coldplay, wird von Hollywood-Legende Hans Zimmer gefeiert –und liess 100000 Fans auf seinem Album mitsingen. Besuch beim Pop-Genie der Generation Z.
Wir treffen Jacob Collier in einem Studio im Osten Londons. Jacob ist Multiinstrumentalist, Komponist, Produzent, 29 Jahre alt und wird bereits mit den grössten Genies der Musikgeschichte verglichen. Er hat mit Giganten wie Musikproduzent Quincy Jones und Filmkomponist Hans Zimmer nicht nur zusammengearbeitet – er hat sie zu seinen Fans gemacht! Der gefragte Arrangeur hat bisher sechs Grammys gewonnen. Im Musikbusiness gibt es weltweit derzeit wahrscheinlich kaum einen begehrteren Kollaborateur.

Wir erwarten, jemanden zu treffen, der ein bisschen spröde wirken, sich seiner Genialität und seines Ruhms vielleicht einen Hauch zu bewusst sein könnte. Tatsächlich begrüsst uns Jacob Collier lachend und winkend, sein Manager trägt ihn huckepack durch den Raum, das Thema «spröde» hat sich erledigt. Der junge Mann aus London ist völlig ungezwungen, offen und spontan, sein Outfit passt zu ihm: Multicolor-Jacke, eine mit Sternen übersäte Hose und zwei verschiedenfarbige Crocs.
Jacob Collier ist in einem musikalischen Zuhause aufgewachsen. Seine Mutter Suzie ist Geigerin, Dirigentin und Lehrerin an der Royal Academy of Music in London; sie hat seine Entwicklung sehr geprägt. «Meine Mutter lebt Musik, verkörpert Musik, ich habe Musik fast wie eine zweite Sprache gelernt», sagt Collier und lächelt dabei. «Es hat sich immer natürlich für mich angefühlt, Formen, Empfindungen und Gefühle durch Klänge auszudrücken.» Collier hat sich im Laufe der Jahre eine Vielzahl von Instrumenten selbst beigebracht – Klavier, Gitarre, Mandoline und Kontrabass. Als Teenager hat er damit begonnen, mit kreativen Arrangements zu experimentieren und seine mehrstimmigen Ein-MannCoversongs auf YouTube zu veröffentlichen.
Dann ging 2013 eines dieser Videos viral. Seine Version von Stevie Wonders «Don’t You Worry ’bout a Thing», für das er sämtliche Harmonien selbst einsang, sollte sein Leben verändern. Niemand Geringerer als der legendäre Quincy Jones wurde auf Collier aufmerksam und zu seinem Manager und Mentor. «Ich habe noch nie in meinem Leben so ein Talent gesehen», sagte Quincy Jones. Und er ist immerhin der Mann, der Michael Jackson produziert hat.
Nachdem er auf Social Media zur Berühmtheit wurde, nahm Jacob Collier 2016 «In My Room» auf, sein erstes Album. Gleich darauf begann er mit der Arbeit an der mehrteiligen Albumreihe «Djesse». Dafür holte er sich eine Reihe prominenter Kollegen an Bord, darunter Sängerin Laura Mvula, Grammy-Gewinner Daniel Caesar und Rapper T-Pain. Mit jedem Album wagte er sich auf neues musikalisches Terrain; er erkundete Jazz und funkigen Groove, experimentierte mit orchestralen Arrangements und R&B. Wegen seiner tiefgründigen Harmonien und innovativen Kompositionen wurde Collier bald als Wunderkind gefeiert. Der legendäre Jazzpianist Herbie Hancock verglich ihn sogar mit dem jungen Igor Strawinsky. Im Zuge der Zusammenarbeit am Film «Boss Baby» drückte es HollywoodKomponist Hans Zimmer so aus: «Es gibt Musikalität, dann gibt es Genialität, und dann, weit, weit, weit draussen in der Stratosphäre, ist Jacob Collier.»
Ich habe Musik wie eine Sprache gelernt. Ich drücke mich einfach durch Klänge aus.
Rapper Stormzy, die Songwriter SZA, John Mayer und Chris Martin von Coldplay: Sie alle gingen mit Collier ins Studio. Sein absolutes Verständnis für Harmonie erreichte 2022 ein neues Level, als er Besucher seiner Konzerte aufnahm und sie zum Mittelpunkt klanglicher Experimente machte. Die Ergebnisse sind in seiner Coverversion von Elvis Presleys «Can’t Help Falling in Love» zu hören, einem unglaublich bewegenden Stück, das einen Chor aus 100 000 Stimmen beinhaltet. Das Stück beweist nicht nur, wie aussergewöhnlich gut Collier komponieren kann. Es zeigt auch, wie viel Musikalität in ganz gewöhnlichen Menschen steckt, in jedem und jeder Einzelnen von uns.
Jacob Collier gibt Konzerte auf der ganzen Welt, auf Social Media folgen ihm Millionen, die Kritiker überschlagen sich mit Lobeshymnen. Dass er bislang ohne Mainstream-Hit dasteht, berührt ihn nicht besonders. «Im Allgemeinen wird Erfolg an der Reichweite gemessen», sagt er. «Ich würde ihn daran messen, in wie vielen Menschen ich etwas bewege.»
Auf dem vierten und letzten Teil von «Djesse», der im Frühling 2024 veröffentlicht wurde, sind wieder eine Reihe von Gastmusikern zur hören, darunter Sänger Yebba, Kirk Franklin und Shawn Mendes. Mit uns spricht Jacob über Musik als Ausdrucksform, ein eher katastrophales Fussballspiel in Crocs und wie bescheiden sein Traum abseits der Arbeit aussieht.

The Red Bulletin: Was ist deine früheste musikalische Erinnerung?
Jacob Collier: Die ist lustig. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Schoss meiner Mutter gesessen bin und nach oben geschaut habe. Anstelle der Zimmerdecke hab ich eine Violine gesehen, weil sie gerade spielte, und sie spielte immer. Musik war von Anfang an ein Teil meines Lebens. Musik ist wie eine Sprache für mich, eine Form, mich auszudrücken, und eine Form, mit anderen zu kommunizieren. Man lernt Musik auch wirklich am besten so, wie man eine Sprache lernt: indem man von Menschen umgeben ist, die sie beherrschen. In meinem Umfeld hat jeder Musik gemacht und sich durch sie ausgedrückt.
Deine Mutter ist Geigerin, Dirigentin und Lehrerin. Wie wichtig war sie für deine musikalische Entwicklung?
Enorm. Sie ist das Fundament meiner musikalischen Erfahrungen. Ich erinnere mich, wie sie an der Royal Academy of Music dirigierte – sie ist eine hervorragende Dirigentin – und da vor einer Gruppe von fünfzig Schülern stand. Als Kind war ich beeindruckt von ihrer Art, sich zu bewegen, wie sie damit den Sound lebendig machte. Wenn ich an meine musikalische Reise denke – und ich habe alle möglichen Sachen in ganz unterschiedlichen Genres gemacht –, beginnt alles mit meiner Mutter. Sie ist so positiv, herzlich und weiss so viel in ihrem Fachgebiet. Sie kann sich nicht nur selbst ausdrücken, sondern die kreative Seite anderer Menschen zum Vorschein bringen.
Du hast mal gesagt, deine Mutter hat dir beigebracht, dass alles in der Welt für dich singt, wenn du nur zuhörst. Das ist ein schöner Gedanke!
Ich finde immer wieder neue Wege, die Welt zu sehen und ihr zuzuhören, schon seit ich ein Kind war. Vor allem für ein Kind kann die Welt manchmal ziemlich gross und einschüchternd wirken. Doch auf gewisse Weise ist alles, was für dich singt, dein Freund, nicht dein Feind. Die Gewissheit, dass sogar die grossen, beängstigenden Dinge singen, das hat mich ermutigt. Es hat mir gezeigt, dass ich mit der ganzen Welt sprechen, zuhören und ihr vertrauen kann. Auch in der Schule, wo es immer viele schräge Typen gibt, Kids, die sich gross und stark fühlen, wenn sie andere mobben. Das zu überstehen und als Song zu betrachten hat mir beigebracht, die Welt nach meinen eigenen Zielen zu gestalten und mein Leben so zu leben, wie ich es will.
Du hast als Teenager mit Coverversionen auf YouTube den Durchbruch geschafft. Junge Künstler erreichen heute ihr Publikum auf TikTok. Kannst du dich in sie hineinversetzen?
Vor zehn Jahren war die Kultur im Netz ganz anders als heute. Damals entdeckte ich YouTube, um mehrstimmige, multiinstrumentale und recht exzentrische Coversongs zu sharen. Die waren bewusst kunstvoll gestaltet, und ich konnte mich auf der Plattform kreativ ausdrücken. Heute werden die Künstlerinnen und Künstler von den Social-Media-Plattformen ausgenützt, denke ich. TikTok scheint die kreativen Geister förmlich aufzufressen – es ist alles ein Geschäft geworden. Manchmal sehe ich diese jungen Kreativen und denke: «Ich war so komplett anders, als ihr seid. Ich wollte nie im Wettbewerb mit anderen stehen.» Natürlich haben mich die anderen wahrgenommen, und ich habe mich von zig Musikern inspirieren lassen. Aber TikTok scheint nicht darauf ausgerichtet zu sein, Menschen zu fördern, die in Ruhe ihr eigenes Ding durchziehen.
Du hast 2023 eine Zusammenarbeit mit Crocs gestartet. Was gefällt dir an den Schuhen?
Sie sind einfach superbequem. In den letzten fünf Jahren habe ich ausschliesslich Crocs getragen. Bis auf zehn oder zwanzig Mal vielleicht – zum Beispiel während meiner Fahrstunden. Das geht mit Crocs nicht. Sonst so ziemlich alles andere. Einmal habe ich sogar in Crocs gegen Rapper Stormzy gekickt. Das war eine Katastrophe, weil ich bei einem Elfmeter den Ball ins Nichts gedroschen habe. In Crocs Fussball zu spielen kann ich also nicht empfehlen. (Grinst.)
«TikTok scheint die kreativen Geister förmlich aufzufressen.»
Du hast gesagt, dass «Djesse Vol. 4» ein Raum für ungenutzte Ideen ist, für die du bisher noch keinen Platz gefunden hast. Welche Art von Ideen meinst du?
In «Vol. 4» fliesst alles zusammen, was ich in den letzten fünf oder sechs Jahren gelernt habe, bei meinen Reisen durch die Welt, bei meiner Arbeit mit vielen unterschiedlichen Menschen. Während meiner Welttournee im Jahr 2022 begann ich damit, mein Publikum beim Singen aufzunehmen. Aus diesen Aufnahmen habe ich einen 100 000-Stimmen-Chor zusammengestellt. Das hat dieses Album vom Klang her wirklich sehr geprägt!

Deine Publikumsexperimente zeigen, dass jeder Mensch einen Sinn für Musikalität hat. Wusstest du schon vorher, dass es funktionieren würde?
Ich denke nicht im Voraus: «Okay, ich bringe das Publikum jetzt dazu, in drei einzelnen Gruppen zu singen.» Ich stehe einfach auf der Bühne, überlege, was funktionieren könnte, und dann probiere ich es aus. Als ich 2023 beim englischen Musikfestival Glastonbury auftrat – mein erster Auftritt dort, vor 30 000 Menschen –, habe ich mich im Vorfeld auf die Interaktion mit dem Publikum vorbereitet. Musik ist für alle zugänglich. Es gibt kein «Ich bin ein Musiker, ich kann das» und «Du bist kein Musiker, du kannst das nicht». Diese Trennung gibt es nicht! Alles, was die Leute brauchen, ist das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, und die Erlaubnis, einfach mal aus sich herauszugehen.
Kollaborationen sind ein zentrales Element deiner Musik. Du hast mit einer imposanten Liste von Künstlern zusammengearbeitet. Wie wählst du aus, mit wem du kollaborierst?
Ich gehe ohne festen Plan an die Sache heran. Es gab schon eine Liste von Künstlern, von denen ich geträumt habe. Aber ich habe nicht im Voraus geplant, welche Musik dabei entstehen soll. Die einzigen Kriterien sind: «Mag ich dich? Respektiere ich dich? Ja? Okay, lass uns zusammenarbeiten.»
Du warst mit so vielen unglaublichen Künstlern unterwegs – willst du dich manchmal selbst kneifen, weil du das selbst nicht glauben kannst?
Jeden Tag! Ich denke, eines der Privilegien, wenn du mit solchen Legenden befreundet bist – mit Leuten wie Quincy Jones, Herbie Hancock und Hans Zimmer –, sind die Geschichten, die sie dir erzählen. Die kannst du gar nicht glauben! Quincy sitzt da und erzählt, dass er mit Picasso zu Mittag gegessen hat, und dann kam Igor Strawinsky vorbei. Und du denkst: «Das gibt’s nicht! Als diese Leute in Paris auf den Putz gehauen haben, waren sie so alt wie ich heute.» Das ist heftig.
Blicken wir einmal zurück. Wie unterscheidet sich der 20-jährige Jacob Collier von dem Menschen, der du heute, mit fast 30, bist?
Als Musiker habe ich mich gar nicht so verändert, eher als Mensch. Mit 20 wusste ich viel über Musik, aber ich habe die Theorie nicht ausgelebt. Ich erinnere mich, dass ich besessen von brasilianischer Musik war, von Samba und diesem einzigartigen Groove, der einen Rhythmus hat wie ein Ei, wenn es rollt. Aber ich war bis dahin nicht in Brasilien. Erst wenn du hinfährst, diese Musik wirklich erlebst, am eigenen Körper spürst, mit brasilianischen Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeitest und dich mit ihnen unterhältst, verstehst du, wie sich Samba wirklich anfühlt.
Du hast in deinem Alter schon viel erreicht – was hast du mit deinem Leben noch vor?
Ich denke, eine der grössten Herausforderungen wird sein, dem Leben Raum zu geben und mich auch einmal überraschen zu lassen. Die letzten zehn Jahre waren eine aussergewöhnliche Reise, aber auch sehr intensiv. Ich habe in dieser ganzen Zeit nicht ein einziges Mal eine Pause eingelegt. Na ja, vielleicht ein paar Urlaube, aber im Grunde habe ich meine Träume verfolgt und konstant gearbeitet. Es wäre wichtig, dass sich einmal alles nicht mehr so dringend anfühlt.
Wie entspannst du in deiner Freizeit?
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal länger entspannt habe. Mein Kopf ist voll von verrückten Ideen. Ich baue Druck ab, wenn ich diesen Ideen freien Lauf lasse und arbeite. Aber eine schöne Partie Badminton, das tut mir gut!
Jacob Colliers aktuelle Album «Djesse Vol. 4» gibt es auf allen gängigen Streaming-Plattformen. Am 2. Dezember spielt der Grammy-Preisträger in der Halle 622 in Zürich. jacobcollier.com