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NOEL BEWEGT DIE WELT

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R&B MALT SICH NEU

R&B MALT SICH NEU

Afro, Street Dance, grenzenloser Charme: Mit dieser Mischung hat Creator Noel Robinson, 22, die Herzen von 40 Millionen Fans erobert. Der Reise-TikToker bringt Menschen zum Tanzen, Lachen und Nachdenken –ohne dabei ein Wort zu sagen.

Eine junge Frau im pinken Dirndl und fünf junge Männer in Alltagsklamotten stehen um einen Bierfass-Tisch auf dem Münchner Frühlingsfest. Quatschen, trinken, rauchen. Auf einmal nähert sich unbemerkt ein junger Mann, die Hoodie-Kapuze über den Kopf gezogen. Blitzschnell schnappt er sich eins der Handys auf dem Tisch, die Gruppe erstarrt, der Besitzer greift nach dem Dieb, woraufhin dieser plötzlich zu tanzen anfängt, seinen Afro aus der Kapuze entfesselt und so breit grinst, dass es ansteckt: Spontan groovt auch die junge Frau mit, der Handybesitzer bounct Arme und Beine, die übrigen Freunde brechen in Lachen aus. «Passed the vibe» lautet die TikTok-Caption zu dem 12-sekündigen Video.

Für seine Videos reist Noel um den Globus. Wir schickten ihn auf eine Weltreise durch seine Heimat München. Start: das Hofbräuhaus.

Mit Clips wie diesem wurde Noel Robinson zum globalen Phänomen. Seine Fans sind über die Welt verteilt, kommen aus Europa, vor allem auch aus Amerika und Afrika, tragen grosse Namen wie die Fussballer Thomas Müller, Manuel Neuer, Ronaldo und – Held seiner Kindheit – Neymar Jr. Mit seinem Kanal «noelgoescrazy» führt der 22-Jährige seit Monaten die TikTok-Charts der DACH-Staaten an. Als Adidas-Ambassador wird er, wie schon bei der WM 2022, auch bei der diesjährigen EM in Deutschland die Trikots der deutschen Fussball-Nationalmannschaft promoten. Und auch Noel selbst reist um die Welt. Gerade erst war er für die Drehs seiner Videos in Dubai, Saudi-Arabien und Uganda. Das alles fürs Kapuze-Absetzen und Tanzen? Um die Dynamik von Noels Geschichte zu verstehen, muss man ihn in Aktion sehen. Wenn er Menschen rund um den Globus antanzt, angrinst, mit seinem Signature-Move –«Free the Afro» – überrascht. Wie er in unserer superhektischen, kopflastigen Welt Freude gratis verteilt und einen friendly reminder, wie wenig es oft zum Glücklichsein braucht. Noels unbändige Energie, seine unerschütterliche Lebensfreude und Leichtigkeit, dazu diese unstillbare Lust, so viele Menschen wie möglich damit anzustecken, hat über Landesgrenzen und Denkblockaden hinweg eine Art «Welle der Positivität» ausgelöst. Für ihn selbst hat die Reise seines Lebens gerade erst begonnen.

Wenn Noel seine Moves auspackt, kann kaum jemand widerstehen. So steht auch Kellnerin Kathi schon in der Frühschicht auf den Bänken.

Von null auf Millionen Menschen in knapp vier Jahren – über 40 Millionen auf TikTok, über 9 Millionen auf Instagram, über 15 Millionen auf YouTube. Ein «sozialer» Aufstieg in einem Tempo, das jeden verglühen lässt, der nicht für seine Ziele brennt. «Ich war schon immer ein Entertainer und Energiebündel», sagt Noel. Auch beim Interview im vietnamesischen Restaurant Jaadin in München-Schwabing ist er on fire. Seine Füsse tanzen selbst im Sitzen weiter. Auch beim Reden hat Noel Rhythmus, Dreivierteltakt genau gesagt: «Okay, okay, okay», «ja, ja, ja», «genau, genau, genau», sprudelt es aus ihm heraus. «Ich finde Interviews gechillt, in meinen Videos sage ich ja nichts» – was nur buchstäblich stimmt, denn statt Worten transportiert Noel mit kleinen Gesten grosse Emotionen und starke Botschaften. Wie er es schafft, in einer Welt voller monströser Egos und Krisen gute Stimmung zu verbreiten? Wahrscheinlich, weil er früh dafür sorgte, dass er selbst bei Laune bleibt.

Beim syrischen Händler im Bahnhofsviertel kauft Noel Baklava, im arabischen Raum ist er enorm populär.

«Meine Eltern haben meinen zwei Schwestern und mir beigebracht, zu tun, was uns Freude macht», erzählt Noel, der bei seiner norddeutschen Mutter und seinem nigerianischen Vater in München aufwuchs. «Das Tanzen gehört zu seiner Kultur. Ich mochte es auch immer, dachte aber lange, ich sei nicht gut darin. Ich hab mich so steif gefühlt.» Der damals 13­Jährige klickte sich begeistert durch Tanzvideos auf YouTube. Mit 16 traute Noel sich dann selbst – noch unter Ausschluss der Öfentlichkeit. «Ich hab mich in meinem Zimmer eingeschlossen, Musik angemacht, einfach losgetanzt, ohne Plan, ohne Choreo, ohne nachzudenken, wie ich gerade aussehe, und mich so frei gefühlt.» Von da an übte Noel jeden Tag, startete mit Freestyle, nahm dann Stunden in Street Dance. Bald konnte Noel selbst Tanzunterricht geben. Um für sich zu werben, teilte er Ende 2019 auf Instagram erste Tanzvideos aus seinem Kinderzimmer, ab Anfang 2020 nutzte er TikTok. Es folgten Clips auf öfentlichen Plätzen, die meisten in der Münchner Fussgängerzone, in denen Noel zu Hip ­ Hop ­ Sound und Afrobeats tanzte. Mit deutlicher Resonanz: «Nach zwei Monaten hatte ich 15 000 Follower.» Den grossen Turn aber brachte eine schnelle Handbewegung.

KLEINE GESTEN STATT GROSSE WORTE: IN EINER WELT DER KRISEN UND RIESENEGOS SORGT NOEL FÜR GUTE STIMMUNG.

Im März 2020 versanken weite Teile der Welt in Lockdown und Lethargie. Noel bewahrte seine Energie und gute Laune –und kam auf die entscheidende Idee für seine Videos. Was ihm bereits zu Schulzeiten Lacher einbrachte, wiederholte er vor der Kamera: «Ich hab meinen fetten Afro unter der Kapuze versteckt und ihn dann rausploppen lassen. Auf einmal hatte das 40 Millionen Views.» Seine Followerzahlen stiegen rasant von 300 000 auf 1,7 Millionen. Eine Reichweite, von der er leben konnte.

Es ist schon verrückt: Von täglich mehr als 100 Millionen Videos, die auf TikTok hochgeladen werden, ging dieses eine von Noel viral. Warum? «Der Move ist einfach, man hat ihn davor noch nie gesehen, und meine Haare stechen direkt raus», versucht Noel zu erklären, was er sich selbst schwer erklären kann und niemals erwartet hätte. Tatsächlich bremst seine Haar­Explosion den Daumen: Selbst beim achtlosen Durchscrollen der sozialen Netzwerke sieht man sie immer wieder gerne an.

In einem Clip vom März 2022 schlendert Noel in der Münchner Innenstadt einem Sicherheitsmann entgegen. Der Mann trägt einen Mund­-Nasen-­Schutz, die Hände hat er in seiner neongelben Weste verstaut. Die Blicke der beiden treffen sich, der Mann nickt Noel zu … als ihm plötzlich dessen voluminöse Frisur entgegenspringt. Man sieht, wie sich seine Augen über der Maske erst kurz weiten, dann in Lachfalten legen. Seine Hände schnellen unter der Weste hervor, geben Noel zwei Thumbs-­up und setzen zur Umarmung an. Eine Szene, die über 100 Millionen Menschen berührte. Das Video wurde Noels Durchbruch.

Noel trägt mit Vorliebe Hoodies, auch weil sie in den USA Zeichen des Protests gegen Rassismus sind.

Dass er mit seinem Look, nicht nur mit seinen Skills durchstartete, «das hat mich anfangs voll genervt. Als Tänzer willst du kreativ sein, Abwechslung. Das in meinen Shorts (kurzen Videos; Anm.) ist eher ein Viben als richtiges Tanzen.» Aber deshalb alles aufgeben? «Ich hab meinen Tänzerstolz gebremst, hab mir gesagt: Man muss sich ja auch erst mal aufbauen und seine Zukunft absichern. Und solange ich Leute zum Lächeln oder Lachen bringe, bin ich glücklich.» Das gelingt Noel seither mit der goldenen Mitte aus Afro und Afrobeats, vereint in einer Sequenz: Er nimmt Touristen, Teenagern, älteren Damen oder Herren auf der Strasse, beim Arzt oder im Supermarkt Handy oder Tasche weg – Freeeeze! – und beginnt zu tanzen. Im Hintergrund läuft der Song «Calm Down» des nigerianischen Musikers Rema. Noels Feedback besteht nicht nur aus Likes und Views, sondern aus den Reaktionen der Menschen – die sind in Deutschland bis heute nicht nur nett.

MEINE ELTERN HABEN MIR BEIGEBRACHT, NUR ZU TUN, WAS UNS FREUDE MACHT.

«Es gibt viele, die sich über mich freuen und es voll enjoyen», sagt Noel, «aber oft sehen mich die Leute irritiert, verständnislos, manchmal auch schockiert an.» Manchmal gebe es abweisende oder beleidigende Reaktionen. Dass in München jemand mittanzt, sei sehr selten – «mit Glück einer von zehn» –, in Berlin etwas besser. Es muss ja keine feurige Tanzeinlage sein. Freundlichkeit würde schon reichen. Wer sich selbst mal ansatzweise wie Noel fühlen möchte, lächle einen Tag lang fremde Menschen an.

Noel ist ein Performancekünstler, der im analogen und digitalen Raum auftritt und interveniert. Darin steckt auch eine politische Komponente. Denn Noel spielt bewusst mit rassistischen Klischees, indem er die ahnungslosen Protagonisten und das Publikum seiner Videos mit dem Vorurteil über vermeintlich kriminelle POCs konfrontiert; er treibt es sogar noch einen Schritt weiter, indem er immer wieder Polizisten involviert: «Ich habe damit zur selben Zeit angefangen, vielleicht auch unbewusst, als das alles mit George Floyd und #BlackLivesMatter war. Als Schwarzer im Kapuzenpulli, der was ‹klaut›, hab ich natürlich das Stereotyp bedient und wollte sehen, wie die Polizei reagiert.» Das Besondere an Noels Clip: Er löst die gespannte Situation positiv auf und setzt sie in einen neuen, versöhnlichen Kontext. Den ganzen Impact bemerkte Noel erst im Nachhinein, als viele unter den Polizei-Post «Nice Message!» geschrieben haben. «Dass die Polizei am Ende grinst, zeigt: Da sind noch genug Menschen, denen die Hautfarbe egal ist; die gute Absichten erkennen», sagt er.

Nicht die einzige Botschaft, die Noels Fans erreicht. «Meine Haare sind auch mehr als ein funny Gadget.» Sie setzen ein Statement: Früher trug er kleine definierte, eher unauffällige Locken. Seit zweieinhalb Jahren kämmt Noel seine Haare aus, präsentiert seinen Afro in voller Grösse. Ein unübersehbares Zeichen gegen all die negativen Assoziationen, die der Afrolook heute noch in vielen Menschen weckt. «‹Du hast lustige Haare. Wie mein Hund!›, so was kommt immer noch oft. Ich hab schon so viel gehört und erlebt, mich trifft das nicht mehr», sagt Noel, und man will ihm glauben. Dass er dieses Selbstbewusstsein gerade jungen Fans schenken kann, bedeutet ihm viel. «Immer mehr Mütter sind auf mich zugekommen, mit Schwarzen oder gemixten Kindern wie mir, und meinten: ‹Seitdem meine Tochter deine Videos schaut, trägt sie die Haare mit Stolz.› Das ist für mich das schönste Feedback.»

Im Restaurant Jaadin in München tanzt nach kurzer Zeit die ganze Crew samt Leiterin Kim im grauen Oberteil mit Noel. Viele seiner Freunde in München stammen aus Vietnam, sind wie er Teil der Tanzszene.

Seit etwa einem Jahr verteilt Noel seinen Spirit in der Welt, ist permanent unterwegs, bisher in 16 Ländern gewesen – Uganda, Marokko, Vereinigte Arabische Emirate, Türkei. Es wäre auf Dauer wohl auch langweilig und ganz sicher frustrierend, wenn seine Clips immer nur in Deutschland spielten. Noel sucht die weite Ferne: «Mein erster Trip ging nach Brasilien. Dort sind die Polizisten auf mich zugekommen, um einen Tanzclip zu drehen, und Fünfjährige sind mir in die Arme gesprungen. Neymar Jr. schickte sogar eine Videobotschaft. In Ägypten war der Hype am krassesten. Am Tag meiner Abreise haben mich dreitausend Menschen verabschiedet. Das war unglaublich. Diese Länder schätzen meinen Besuch richtig, die Leute rufen ‹Thank you for coming!›, wenn ich gehe. Das ist ja auch Promotion für das ganze Land.»

DASS IN MÜNCHEN JEMAND SPONTAN MITTANZT, SEI SELTEN, SAGT NOEL. «WENN DU GLÜCK HAST, EINER VON ZEHN.»

Nein – Noel will nicht weltweit mit Paraden und Handküssen empfangen werden. Es geht ihm nicht um sich selbst, sondern darum, ein Land, dessen Kultur und Menschen sichtbar zu machen. Noel interagiert auch auf seinen Reisen mit den Menschen vor Ort, integriert sie in seine Videos, anstatt nur Sehenswürdigkeiten und fotogene Strände für ein paar pittoreske Selfies abzuklappern. An Wahrzeichen wie der Jesusstatue in Rio macht er ein Video, damit die Leute wissen, dass er in ihrer Stadt ist. Ansonsten möchte Noel die Atmosphäre eines Landes aufspüren. Dazu verbringt er dort mindestens einen Monat, um eine Community aufzubauen. Er will Zeit mit den Menschen verbringen, will sehen, wie sie leben. Oft setzt er lokale Musik und Tänze ein. Das Reisen, die Begegnungen und Erfahrungen haben ihn verändert. «Gerade das Tanzen verbindet. Man muss nichts sagen, einfach gemeinsam im Rhythmus sein, egal wo auf der Welt, selbst wenn man nicht dieselbe Sprache spricht und sonst völlig verschieden ist.» Trotzdem bleibt es wichtig, einen Ort zu haben, an den man immer zurückkehren kann. Den man sein Zuhause nennen darf. München ist seine Heimat, das steht für Noel ausser Frage. Weil er so viel unterwegs ist, wohnt er sogar noch in seinem Kinderzimmer. Dort, wo alles anfing.

Negative Nachrichten nimmt Noel heute gelassen. «Alles, was ich mache, ist tanzen und lachen. Mir geht’s echt gut. Schwer, mich wirklich zu verletzen.» Auf einen «He’s just showing hair, no talent»-Kommentar antwortete Noel mit einem Tanzvideo mit dem Artist Avemoves. Es hat aktuell 30,8 Millionen Views und 1,2 Millionen Likes. Ohne Afro-Pop-up, ohne «Tanzüberfall». Der Clip deutet eine neue Richtung an, in die Noel gehen könnte. Von seinem Signature-Move gibt es bereits etliche Variationen: Noel zieht in der Bahn sein Ticket für die Kontrolleurin aus dem Afro, oder mehrere Barbiere nehmen Reissaus, als er im Salon seine Kapuze lüftet. «Als Nächstes will ich mit YouTube Longform-Videos anfangen», verrät er. Vielleicht wird es weiterhin ums Tanzen gehen, vielleicht auch mehr ums Reisen. Noel liebt es, zu überraschen. «Aber jetzt geht’s erst mal nach Indien, Mexiko, Kolumbien, Korea, Japan und Vietnam», sagt er, trinkt seinen Tee aus, bedankt sich und macht sich auf den Weg.

Noel sitzt kurz beim Afrofriseur Probe, zuletzt hat ihm vor zwei Jahren seine Schwester die Haare geschnitten.
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