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JULIE MEHRETU

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DAWN RICHARD

DAWN RICHARD

Sie ist mit ihren meterhohen Gemälden eine der bedeutendsten Malerinnen unserer Zeit. Jetzt hat sie einen Rennwagen für das 24-Stunden-Rennen von Le Mans gestaltet.

Julie Mehretu steht auf der zweiten Stufe eines kleinen Gerüstwagens ganz nah vor einer riesigen Leinwand. Sie tupft mit dem Pinsel schwarze Farbe auf die Oberfläche des entstehenden Gemäldes, verwischt die Tupfer, erst mit den Fingern, dann mit dem Handballen. «Mich interessiert besonders, wie Bilder sich vor unseren Augen entwickeln», sagt sie im Gespräch und meint damit: vor den Augen des Publikums, die sie zu sehen bekommen – aber auch im Schaffensprozess vor ihren eigenen.

Die frühen Werke der amerikanisch-äthiopischen Künstlerin erinnern an Landkarten, Stadtpläne. Heute sind es eher Einblicke in vielschichtige, abstrakte Welten. Manche Details darin lassen sich klar ausnehmen, es könnten Buchstaben einer unbekannten Bildsprache sein, «marks», wie Mehretu sagt, Zeichen, die fast lebendig wirken. Andere Elemente erscheinen verschwommen, schemenhaft. Mehretu arbeitet dafür nicht nur mit dem Pinsel. Zwischendurch bearbeitet sie Fotos der Leinwand am Computer weiter und integriert Elemente dann wieder ins Bild. Mehretu gilt als eine der wenigen schwarzen Frauen, die, wie die «New York Times» 2023 schrieb, in den westlichen Kanon bildender Künstlerinnen aufgenommen wurden. Nach Ausstellungen unter anderem im Museum of Modern Art in New York zeigte das Whitney Museum 2021 eine Retrospektive. Und im Palazzo Grassi, Venedig, läuft noch bis Anfang 2025 ihre grösste Ausstellung bisher in Europa.

Erklären, was sich auf ihren Bildern abspielt, kann und will sie nicht. Betrachter sollen sich auf ihre Intuition verlassen. Wenn sie dann doch einmal über ihre Bilder spricht, klingt das, als würde sie über Menschen, jedenfalls Lebewesen sprechen: Je mehr Zeit man mit ihnen verbringe, umso mehr erkenne man in ihnen. «Doch ist das nicht notwendigerweise eine Erfahrung des Wissens», sagt sie. Es sind gefühlte Wahrnehmungen, die sie interessieren.

Privileg und Inspiration

1970 in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba geboren, flüchtet ihre Familie, der Vater Universitätsprofessor, die Mutter Montessori-Pädagogin, als sie sechs ist, vor politischen Unruhen in die USA. Sie studiert am Kalamazoo College in Michigan, an der Université Cheikh Anta Diop in Dakar im Senegal und schliesst 1997 ihr Masterstudium an der Rhode Island School of Design ab.

Heute lebt sie in New York. Ein Grossteil ihrer Familie ist äthiopisch, doch wenn sie sich in der Welt bewegt, tut sie das als Amerikanerin. «Als Bürgerinnen und Bürger der USA und der EU sind wir enorm privilegiert», betont Mehretu. Das bringe auch eine gewisse Verantwortung. Als Malerin versuche sie, all das, was in der Welt geschieht, in ihrer Arbeit zu verhandeln: Migration, Revolutionen, Pandemien, soziale Gerechtigkeit, Klimawandel. Ihre Inspiration holt sie sich aus verschiedensten Quellen: Massen- und soziale Medien, Architektur, antike Geschichte, Literatur und Musik. Dabei korrespondiert sie auch immer wieder mit Werken anderer. «Ich bin immer im Dialog», sagt die Künstlerin. Davon zeugt

etwa die aktuelle Ausstellung in Venedig mit dem Titel «Julie Mehretu. Ensemble»: Befreundete Künstlerinnen und Künstler wirken daran mit. Für nächstes Jahr plant sie gemeinsam mit der Produzentin und Autorin Mehret Mandefro in mehreren afrikanischen Städten Workshops zur besseren Vernetzung von Medienschaffenden.

Karosserie statt Leinwand

Davor präsentiert Mehretu im Mai aber das Ergebnis einer anderen Kollaboration: Für das 24-Stunden-Rennen von Le Mans hat sie dieses Jahr das ArtCar für BMW designt, das vor ihr schon Künstler wie Andy Warhol oder Jenny Holzer gestaltet haben. Mehretu wollte den Rennwagen dabei «nicht einfach dekorieren», wie sie sagt. Stattdessen wurde das Motiv eines ihrer Bilder auf die Karosserie aufgebracht, «als wäre das Auto durch das Bild durchgefahren».

Die Zusammenarbeit mit Technikern, Designern, Ingenieuren und Fahrern war für sie völlig neu und beeindruckend. Das Auto sei eine ganz starke gemeinschaftliche Leistung – bis hin zu jenen Mitarbeitern, die beim Boxenstopp die Reifen wechseln. Mehretu sieht den Rennwagen dabei nicht als «rollende Skulptur», sondern in seiner Funktion, im 24-Stunden-Rennen zu bestehen. Das Kunstwerk sei erst vollendet, wenn das Rennen vorbei ist: «Mein Bild wirkt auf das Auto, und das Rennen wirkt auf das Auto.» Durch das Ein- und Aussteigen der Fahrer, durch die Abnutzung auf der Strecke wird es in Mitleidenschaft gezogen. Es macht etwas durch. Wie Mehretus Bilder. Wie wir alle.

Instagram: @juliemehretu

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