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BARNAHUS - Im Gespräch mit Andrea Möhringer (Geschäftsführerin von Childhood Deutschland)

DAS INTE RV I E W F Ü H R T E BARBARA SIEHL
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Ein Childhood-Haus - was muss man sich darunter vorstellen? Es gibt bereits zwei solcher Einrichtungen in Deutschland, eine in Leipzig, das zweite Haus wurde vor kurzem in Heidelberg eröffnet. Nun darf man ein weiteres auch in Hessen erwarten. Was ist das Besondere an diesem Konzept?
Andrea Möhringer: Ein Childhood-Haus ist ein sicherer und kinderfreundlicher Ort, in dem das Konzept der interdisziplinären Versorgung und rechtlichen Fallabklärung unter einem Dach umgesetzt wird. Dorthin kommen Kinder und Jugendliche, die sexuellen Missbrauch oder massive Gewalt erlebt haben. Sie erhalten dort medizinische und psychologische Hilfe und Unterstützung, werden untersucht und können alle für das spätere Ermittlungsverfahren notwendigen Aussagen in einer sicheren Umgebung machen, mit speziell geschultem Fachpersonal. Unter dem Dach eines Childhood-Hauses arbeiten VertreterInnen von Polizei, Gericht, Medizin und der sozialen Dienste zusammen. Auf diese Weise wird den Betroffenen ein Untersuchungs- und Aussagemarathon in fremder Umgebung durch ständig wechselnde Gesprächspartner erspart und es kommt seltener zu sogenannten Retraumatisierungen. Die Räume sind hell, freundlich und kindgerecht gestaltet, (man hat auf den ersten Blick eher den Eindruck, eine Wohnung zu betreten und nicht eine Polizeistation, ein Krankenhaus oder ein Gericht). Neben einem schönen Warteraum, einem Besprechungs- und Untersuchungszimmer gibt es einen kleinen Raum, in dem die Kinder vor der Polizei oder Richtern eine Aussage machen können. Diese Aussage wird mit Videotechnik aufgezeichnet. In einem Nachbarzimmer können Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Beschuldigte und weitere Personen dem Gespräch folgen und ggf. über die Technik Fragen an das Kind stellen. Findet die Befragung durch einen Richter, eine Richterin statt, kann die Aufzeichnung vor Gericht als Beweismittel dienen, was dem Kind den Gang ins Gericht ersparen kann. Die beiden bisher eröffneten Häuser in Leipzig und Heidelberg, sowie die in 2020 hinzukommenden Häuser in Berlin und Hamburg sind an eine Kinderklinik angebunden und bauen auf der dort bestehenden Infrastruktur auf, was große Vorteile birgt. Wir sind von der positiven Resonanz und dem großen Interesse an dem Modell überrascht, und wir führen Gespräche mit Interessierten in vielen Städten deutschlandweit. Ganz besonders gefreut hat uns die Zusage des Hessischen Ministerpräsidenten Bouffier, in Hessen ein Childhood-Haus zu etablieren. Und wir sind sehr dankbar für die wunderbare Unterstützung, die wir von unserem Kuratoriumsmitglied, I.K.H. Landgräfin Floria bei der Planung dieses Vorhabens erhalten!
Wie kann man erreichen, dass Kindesmissbrauch in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen wird- und dass man vielleicht früher hinschaut?
Andrea Möhringer: Als unsere Gründerin, Königin Silvia von Schweden, Ende der 1990er Jahre in Paris auf einer Konferenz das erste Mal öffentlich über das Thema sexueller Missbrauch sprach, herrschte im Auditorium Totenstille. In den letzten 30 Jahren hat sich in unserer Gesellschaft vieles geändert. Die öffentliche Diskussion darüber ist offener geworden, Gesetze wurden erlassen. Die sogenannten Nachhaltigkeitsziele definieren erstmals auch das Ziel der gewaltfreien Kindheit. Fast täglich erreichen uns Meldungen zu Skandalfällen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass in Deutschland etwa

eine Million Kinder Erfahrung mit sexueller Gewalt haben. Und das sind nicht nur die Skandalfälle, die dann ausführlich in der Presse erscheinen. Das sind auch die Kinder und Jugendlichen, die im familiären Umfeld oft jahrelang Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sind. Darüber müsste noch viel offener gesprochen werden. Aber die Vorstellung, dass Kinder im eigenen Umfeld so etwas erleben könnten, schieben viele Menschen vehement von sich weg - aus Selbstschutz! Es kostet Mut sich bewusst zu machen, dass jeder von uns sehr wahrscheinlich Kinder kennt, die Erfahrungen von sexueller Gewalt gemacht haben oder ihr immer noch ausgesetzt sind. Das tut weh und ist nicht einfach, aber so wichtig genau hinzuschauen.
Sie sprachen von der Berichterstattung, die natürlich häufig im Zusammenhang mit großen Missbrauchsskandalen steht. Hat sich in der Art, wie die Presse über Missbrauch berichtet, in den letzten Jahren etwas verändert?
Andrea Möhringer: Ich denke, wir bemerken alle einen Trend in der Medienwelt, immer unmittelbarer und komprimierter zu berichten, um die Aufmerksamkeit der LeserInnen zu gewinnen. Aus diesem Grund sind die großen Fälle, in denen es um den Missbrauch von Kindern geht, für die Öffentlichkeit und die Presse besonders relevant, z.B. der Fall Lügde. Da liefert Presse auch immer wieder wichtige Arbeit. Nichtsdestotrotz braucht es eben auch immer Berichterstattung über das große Ganze. Auch da bemerken wir eine positive Veränderung in den letzten Jahren. Ein besonders gutes Beispiel für eine fundierte Berichterstattung, die abseits von großen Missbrauchsskandalen recherchiert hat, ist ein Beitrag des Autorenteams des Hessischen Rundfunks, nämlich das multimediale Themenspecial „Opfer ohne Stimme – Wie wir unsere Kinder vor Gewalt schützen“. Das Team hat sorgfältig recherchiert und die verschiedenen Ebenen des Themas herausgearbeitet. Sie formulieren die klare Botschaft, dass in Deutschland jeden Tag viele tausend Kinder unbemerkt leiden und dass es oft lange dauert, bis jemand ihr Martyrium erkennt und handelt. Der Beitrag hat uns so gut gefallen, dass wir ihn dieses Jahr mit dem Childhood Award 2019 ausgezeichnet haben. Die Laudatio hielt Floria Landgräfin von Hessen. Sie sagte unter anderem: „Der Hessische Rundfunk hat mit einem bemerkenswerten MultimediaProjekt Kindesmisshandlung in Deutschland aus der Dunkelheit ans Licht geholt und gefragt, warum es eigentlich so schwierig ist, diese schlimmsten aller Taten zu entdecken und vor allem, zu verhindern.“
Wie können Sie Eltern helfen, die möglicherweise mit der Elternschaft überfordert sind und als Folge davon Gewalt ausüben?
Andrea Möhringer: Ein Afrikanisches Sprichwort besagt, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind groß zu ziehen. Childhood sucht bei allen Projekten engagierte Partner vor Ort, die ein Hilfsnetz für Familien spannen und durch Beratung und Unterstützung dafür sorgen, dass Krisensituationen erst gar nicht entstehen. Das kann beispielsweise eine online Plattform sein, auf der sich Eltern von Fachleuten einen Rat holen können. Sollte es doch zu Gewalt oder Übergriffen kommen, dann sind es unsere Projektpartner, die den Kindern, aber auch den Eltern ein offenes Ohr schenken, für sie da sind und sie immer wiederauch langfristig- betreuen. Sie sind häufig der Rettungsanker, den es in dieser Situation braucht. Ein Beispiel hierfür ist das Childhood-Haus.

Lassen Sie uns zum Schluss über Geld reden, - wie finanziert die Stiftung all ihre guten Taten? Immerhin sind es derzeit 100 Projekte in 16 Ländern!
Andrea Möhringer: Da ist zunächst einmal der Stiftungsstock, dessen Erträge allerdings nicht ausreichen. Wir sind auf Spenden angewiesen. Auf Menschen und Unternehmen, die unsere Ideen mittragen und sich gemeinsam mit uns mutig dafür einsetzen möchten, dass Kinder ohne Gewalt und Missbrauch aufwachsen und falls nötig die Hilfe erhalten, die sie brauchen, um solche Ereignisse aufarbeiten zu können und langfristig ohne Albträume und Ängste leben können. Dafür setzen wir uns jeden Tag ein!
Weitere Informationen unter www.childhood-haus.de

Mit einer Spende können Sie die Arbeit der World Childhood Foundation unterstützen:
WORLD CHILDHOOD FOUNDATION Schwäbische Bank IBAN: DE96 6002 0100 0000 0022 22 BIC: SCHWDESS

CHILDHOOD FOUNDATION – HILFE FÜR MISSHANDELTE KINDER
Seit vielen Jahren engagiert sich Foria Landgräfin von Hessen als Botschafterin für die international arbeitende Stiftung, die 1999 von Königin Silvia von Schweden gegründet wurde. Ziel ist die Verteidigung von Kinderrechten, insbesondere gegen jegliche Form von Missbrauch und körperlicher Gewalt.
Im vergangenen Jahr fand in Heidelberg eine Jubiläumsgala zum 20-jährigen Bestehen der Childhood Foudation statt. Ein Höhepunkt: Die Verleihung des Childhood Awards für besondere journalistische Leistungen. Die Auszeichnung, die alle fünf Jahre vergeben wird, ging diesmal an ein Autorenteam des Hessischen Rundfunks. Reporter von Radio und Fernsehen hatten mit kritischen Beiträgen und schonungslosen Bildern für ein großes Echo in der Öffentlichkeit gesorgt und die Ergebnisse ihrer Recherchen auch in Kanälen der sozialen Medien eingestellt. Die Laudatio hielt Floria Landgräfin von Hessen und freute sich besonders, dass die Auszeichnung diesmal an den Heimatsender in Frankfurt ging.
Die schwedische Königin nutzte den Aufenthalt in Deutschland auch für einen Besuch in Wiesbaden. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier hatte in die Staatskanzlei eingeladen, um mit der Königin, mit Experten und Kabinettsmitgliedern die derzeitige Situation und Versorgung von misshandelten Kindern in Deutschland und speziell in Hessen zu erörtern. Die Gespräche blieben nicht ohne Ergebnis: Ja, auch in Hessen soll sobald als möglich ein Childhood Kinderhaus entstehen. Frankfurt, Wiesbaden und Kassel sind als Standorte in der engeren Auswahl. Floria Landgräfin von Hessen freut sich auf das neue Projekt; sie wird eng in die Planungen eingebunden sein.
AUSZÜGE AUS DER LAUDATIO VON FLORIA LANDGRÄFIN VON HESSEN
Wenn man sich für Childhood engagiert, muss man stark sein. Stark sein, all das zu erfahren, zu sehen, zu ertragen, was man nicht für möglich hält. Aber man darf nicht ausweichen. Man muss brutale Realitäten als „wahr“ erkennen, um für eine andere, bessere Realität zu kämpfen. Für diesen Kampf braucht man Helfer, - Menschen, die das, was Kindern angetan wird, mutig in den Focus nehmen und ihre Erkenntnisse an die Öffentlichkeit bringen, - schonungslos!
Die Zahlen aus dem Jahr 2017 sind erschreckend: Bundesweit 143 tote Kinder. 22-tausend Fälle von schwerer Kindesmisshandlung. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wir erfahren in den Recherchen des Autorenteams, dass personelle und materielle Engpässe in den Jugendämtern schnelle Hilfe erschweren, dass Sozialpädagogen die Menge der Fälle nicht in der gebotenen Zeit bearbeiten können, und dass Familienrichter nicht ausreichend auf diese spezielle Aufgabe vorbereitet sind.
Die Autorinnen und Autoren des Hessischen Rundfunks haben gründlich gearbeitet, sie lassen keine Information aus, die für das Thema Kindeswohl relevant ist. Und sie haben ihre Erkenntnisse breit gestreut. Zig-tausende Menschen haben sie so erreicht, haben Aufmerksamkeit erregt und hoffentlich vielen deutlich gemacht, dass man nicht wegschauen darf. Niemals!
