VECTURA #9

Page 112

S

chmeckt Pasta nur mit Tomatenmark oder auch mit Ketchup? Muss man Saltimbocca mit frischem Salbei zubereiten oder genügt Trockengewürz aus der Dose? Wer sich solche Fragen stellt, sollte besser ein anderes Auto suchen als dieses hier. Alle anderen, denen solche Details egal sind (sie würden wohl sagen: denen dafür die Zeit fehlt), bringen jenen Pragmatismus mit, der in der automobilen Welt immer häufiger gefragt ist: Steigende Entwicklungskosten und die dadurch bedingte Gleichteilestrategie sorgen dafür, dass immer öfter und mit immer weniger Zutaten gekocht wird, dann aber im Grossküchen-Stil. Was die Gerichte noch voneinander unterscheidet, ist ihre Garnierung. Oder, bei Tiefkühlkost, die Verpackungsgestaltung.

Repeat the Beat Nun sind Mehrmarkenautos und selbst LanciaModelle mit US-Einfluss nichts Neues: Der von 1984 bis 94 gebaute erste Thema war weitgehend baugleich mit seinen Geschwister­n Alfa Romeo 164, Fiat Croma und Saab 9000; der damalige Entwicklungspartner hiess General Motors. Das Styling des intern Tipo 4 genannten Projekts kam von Italdesign – ein Luxu­s, den sich der aktuelle Lancia Thema verkneift: Abgesehen von minimalen Änderungen wie den Logos, anderen Felgen oder dem Kühlergrill ist er 1:1 ein Chrysler geblieben, und das ist gut so. Denn der seit 2011 verkaufte 300er gehört zu den besten Limousinen, die Amerika zu bieten hat. Er ist modern, aber auch riesig, dabei anständig verarbeitet, kraftvoll motorisiert, komfortabel ausgestattet und ein Charaktertyp. Was also sollte man unnötig daran herumschrauben? Der Thema macht aus seiner Herkunft kein Thema: Er bleibt, was er ist – ein ehrlicher Amerikaner, der auch als Stretchlimo vorstellbar wäre. Dunkel lackiert sieht er sogar aus wie ein Dienstwagen der Cosa Nostra in Chicago. «Gangsta»-Rapper fahren ihn sowieso, und zwar mit Riesenfelgen.

110 VECTURA #9

Allora, dieser transatlantische Mix von Markenwelten stört einige Lancia-Freunde. Sie haben den Eindruck, dass man in Turin mittlerweile glaubt, ihnen alles vorsetzen zu können. In England und Irland übrigens traut sich Fiat den Lancia-Spagat nicht zu und bietet das Auto als Chrysler an. Subjektive Zweifel sollten sich mit einer ersten Thema-Ausfahrt aber legen: Selbst wir, die sich dem Auto recht skeptisch genähert haben, waren angenehm überrascht. Letztlich ist der Thema auch ein Bekenntnis der Konzernführung, an Lancia festhalten zu wollen. Die Traditionsmarke hat schon bessere Tage gesehen, andere Häuser wurden aus nichtigeren Gründen dichtgemacht. Und es darf ruhig gesagt werden, dass es die Marke Chrysler mit ihren guten US-Verkäufen war, die der Konzernmutter Fiat (und ihren Töchtern) 2012 die Bilanz gerettet hat. Der Thema gehört also klar zu den Gewinnern. Zudem sind Lancia-Fans längst leidensfähig, denn sie haben schon viel schlimmere Sachen sehen müssen. Das aktuelle, 2012 aus reiner Verzweiflung eingeführte Flavia Cabriolet auf Chrysler-200-Basis zum Beispiel, doch wir schweifen ab. Und drücken den Startknopf. Ghetto Gospel Wenn der V6-Pentastar anspringt, klingt das nach Grossstadt und nicht nach Dorf. Das tut der Thema dumpf, aber auch dezent durch lärmdämmende Scheiben, was der Besatzung signalisiert: Sie sitzt in einem durchdachten, maskulinen Auto, nicht in einem Running Gag. Das spürt man auch beim Losfahren. Die Bewegung ist aus einem Guss und alles strebt in die gleiche Richtung, mit anderen Worten: Die Abstimmung von Gasannahme (die Pedale sind elektrisch verstellbar), Getriebe, Lenkung und der ganzen Ergonomie passt; nichts klappert oder knirscht, Wohlgefühl stellt sich ein. Das ist nicht selbstverständlich bei einem Ami, doch in Detroit hat man in den letzten Jahren dazugelernt, wie auch der deutlich kleinere Caddy beweist (siehe S. 030).


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.