VECTURA #5

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Erste Erfolge feiert der T35 ab 1925, beispielsweise bei der Targa Florio, wo er fünfmal in Folge gewinnen wird. Für den Grand Prix de l’Ouverture in Montlhéry im Mai 1925 hat sich Ettore, der seine Modelle auch zu inszenieren versteht, etwas ganz Spezielles einfallen lassen – einen Monoposto mit 1,5 L Hubraum für das neue Grand-Prix-Reglement 1926/27. Dieser Typ 36 basiert auf dem 35er und weist neben dem schmaleren Rahmen und Aufbau eine kerzengerade vordere Starrachse sowie ein Getriebe auf, das sich an der ungefederten Hinterachse befindet. Diese Anordnung soll der Balance dienen, erweist sich aber als nicht praktikabel: Bei Probefahrten im Oval von Montlhéry springt der Wagen über jede Bodenplattenfuge und ist nicht zu halten. Aus diesem Grund zieht Bugatti ein Paar eingesetzte 36er noch vor dem Rennen zurück und bestreitet den GP mit zwei Typ 22 «Brescia». In der folgenden Winterpause 1925/26 werden die T36 überarbeitet. Das Transaxle-Getriebe weicht einer normalen Typ-35Schaltbox, die Hinterachse erhält kleine Blattfedern. Dazu spendiert Ettore den beiden Monoposto einen Kompressor, was sie zu den ersten zwangsbeatmeten Bugatti-Rennwagen macht. Ende Mai gehen sie beim Grossen Preis vom Elsass in der CyclecarKlasse bis 1100 Kubikzentimeter neben einem Bugatti 35 an den Start, der eine «Offset»-Karosserie mit verkleidetem Beifahrersitz aufweist. Gesteuert wird dieses Auto von André Dubonnet und er gewinnt vor Aymo Maggi und Pietro de Vizcaya, welche die beiden 36er pilotierten und mit ihnen die Plätze 2 und 3 herausfahren. Es darf fairerweise gesagt werden, dass die Konkurrenz lediglich aus zwei schwächer motorisierten Sima-Violet besteht, die zudem ausfallen… Abgeleitet vom Dubonnet-Auto entsteht in der Folge der etwas schwächere GP-Typ 39/39A mit 1500er-Motor, welcher 1926 und ’27 sehr erfolgreich sein und als erster Bugatti die Marken-Weltmeisterschaft gewinnen wird. Entsprechend der kommenden GP-Formel ab 1928 entstehen die Typen 35 C (128-PS-ZweiliterKompressor), 35B (2,3-L-Kompressor mit 138 PS) oder der Typ 51/51A (2,3-L-Kompressor mit zwei oben liegenden Nockenwellen und 160/130 PS). Zwischen 1924 und ’34 werden insgesamt rund 600 dieser bis zu 230 km/h schnellen GP-Boliden gebaut; etwa ein Drittel hat überlebt – das parallel entstandene VoituretteModell 37/37A (Vierzylinder mit 60/90 PS) ist hier mitgerechnet. Die 36er-Monoposto dagegen haben sich nicht bewährt und werden verkauft: Ein Exemplar geht an den britischen Rekordfahrer Malcolm Campbell, der es in Brooklands einsetzt. Danach verliert sich die Spur dieses Wagens; er gilt heute als verschollen. Der zweite Monoposto ist das Auto auf diesen Seiten, doch es sieht inzwischen ganz anders aus – hier ist seine Geschichte. 1927 gelangt der T36 in die Schweiz und wird sie nicht mehr verlassen. Zunächst gehört er dem damaligen Bugatti-Vertreter und Rennfahrer Josef Karrer, welcher ihn auf Rundstrecken oder Kilometerrennen einsetzt und auch anderen Piloten zur Verfügung stellt. 1936 geht der T36 – er hat inzwischen einen neuen Besitzer und eine andere Motorhaube – nach 1935 ein zweites Mal in Bremgarten an den Start und gewinnt die 1500er-Klasse. 1938 wechselt das Auto erneut den Eigner und wird umgebaut: Der 36er-Rahmen und die gesamte Mechanik bleiben erhalten, doch sie stecken nun unter einer zweisitzen Karosserie Marke Ei-

genbau, wie es damals gang und gäbe ist. 1939 tritt der nunmehr vierte Besitzer Otto Diebold von Nussbaumen erneut in Bern an und kommt auf Rang 2. Während des Krieges ruht der Bugatti und Diebold stellt ihn bei seinem Schwiegervater unter. 1945/46 braucht dieser aber den Platz und nachdem Diebold weder einen Käufer finden noch Räder und Achsen einem Bauern verkaufen kann, um daraus einen Heuwagen zu machen, bringt er den Wagen schweren Herzens zum Abbruch. Der Autoverwerter ist klug genug, den Renn-Bugatti nicht zu zerstören. Stattdessen kontaktiert er den Garagisten Alfred Schneider, welcher früher selbst Rennen fuhr und anschliessend BugattiMechaniker gewesen ist. Schneider kauft den T36 und baut ihn um – wohl wissend, dass das T35-Chassis dem des Monoposto weit überlegen war. Weil er noch über einen 35A mit defektem Motor verfügt, implantiert er Motor, Getriebe und Kühler des 36ers kurzerhand in dessen Leiterrahmen und setzt eine neue Monoposto-Karosse darüber. Das schmale 36er-Chassis wirft er weg… So entsteht ein Hybride, den man fortan korrekterweise als Typ 36/35A bezeichnen muss. Der wechselt im Anschluss mehrmals den Halter und wird 1947 und ’48 bei Schweizer Rundund Bergrennen eingesetzt. Im Juni 1947 kommt das inzwischen über 22 Jahre alte Fahrzeug in der Rennwagen-Klasse beim Grossen Preis von Bremgarten noch als Zweiter ins Ziel. Gut zwei Jahre später folgt Besitzer Nummer 9 – es ist Heini Walter, der spätere Europa-Bergmeister auf Porsche. Walter ist Bugatti-erfahren; er entfernt den Monoposto-Aufbau und ersetzt ihn mit der zweisitzigen Verkleidung eines 35A, um in der Sportwagen-Klasse starten zu können, doch dazu kommt es nicht mehr – Walter steigt vorher auf BMW um. Der Bugatti wird also wieder veräussert und startet 1955 in Mitholz-Kandersteg – es ist sein letzter Einsatz bei einer «modernen» Veranstaltung. Drei Besitzer später – wir schreiben inzwischen das Jahr 1960 – steht der 36/35 erneut zum Verkauf und gelangt schliesslich in die Hände des Mannes, der ihn heute noch besitzt und ungenannt bleiben möchte. 6000 Franken hat er für das Auto bezahlt, was damals eine Menge Geld ist. Er nannte bereits einen Typ 44 sein Eigen, «doch nachdem ich das Bugatti-Buch von Barry Eaglesfield und C.W.P. Hampton gelesen hatte, wusste ich, dass man einen Bugatti-Rennwagen haben sollte». Damit beweist der damals erst 23-Jährige Weitsicht und hat vor, das Auto alltagstauglich zu machen, was sich schnell als sehr kostspielig herausstellt. Trotzdem behält er den 36/35 und lagert ihn während der kommenden Jahre in diversen Schuppen ein. Als es darum geht, den Renner fahrbereit zu machen, spielt der erklärte Bugattista mit dem Gedanken, ein 36er-Fahrgestell anhand originaler Werkszeichnungen, die sich inzwischen in seinem Besitz befinden, nachzubauen. «Da es aber ein Replika-Chassis geworden wäre, habe ich mich letztendlich entschieden, das Auto so zu belassen, wie es nach dem Umbau durch Alfred Schneider seit 1945 war, da dies zur fortlaufenden Geschichte des Autos gehört.» Zwischen 2005 und ’08 wird die Rarität bei Gentry in England fachgerecht aufbereitet. Ersetzt werden nur die üblichen Verschleissteile, um den 115 PS starken Bugatti weiterhin bewegen Winter 2012/13 061


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